Читать книгу Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit - Nikil Mukerji - Страница 10

Philosophie hat eine Deadline

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Doch ist das überhaupt möglich? Auf den ersten Blick lässt sich durchaus bezweifeln, dass fundierte philosophische Arbeit über die Covid-19-Krise zu einem derart frühen Zeitpunkt möglich ist. In der Tat teilen offenbar viele, die sich sonst rege an gesellschaftlichen Diskussionen beteiligen, diese Auffassung. So sagte der Philosoph Michael Schmidt-Salomon etwa: »Ich sehe mich außerstande, irgendetwas Substantielles zu dieser Krise zu sagen, solange die Datenlage so lückenhaft und widersprüchlich ist, wie sie sich im Moment darstellt.«

Die epistemische Bescheidenheit Schmidt-Salomons ist für sich genommen lobenswert. Wir glauben trotzdem, dass es nicht nur möglich ist, schon jetzt etwas Substantielles zur Covid-19-Pandemie zu sagen, sondern halten es sogar für geboten, dies zu tun. Denn unabhängig davon, ob die Fakten bekannt sind oder nicht: Es ist klar, dass wir – als Gesellschaft – entscheiden müssen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen wollen. So viel »Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie«, meint der Philosoph Jürgen Habermas mit Blick auf die aktuelle Krise. Dieser Zwang entsteht, wenn durch Nichtstun wertvolle Optionen verlorengehen können, weil man damit bereits einen bestimmten Pfad eingeschlagen hat. Wir können uns wertvolle Chancen verspielen, wenn wir warten, bis die empirischen Daten endlich eindeutig sind.

Der Philosoph Nick Bostrom hat in diesem Zusammenhang einen hilfreichen Begriff geprägt. Er spricht von einer »Philosophie mit einer Deadline« (»philosophy with a deadline«). Damit meint er, dass philosophische Diskussionen manchmal einen Stichtag haben, der als solcher unmissverständlich vorgibt, bis wann spätestens eine Lösung vorliegen muss.

Das gilt zum Beispiel für philosophische Fragen in Bezug auf den Umgang mit aufkommenden Technologien, etwa der Künstlichen Intelligenz. Hier müssen wir Regeln für den Umgang mit absehbaren technologischen Entwicklungen finden, bevor die Einführung der Technologien Tatsachen geschaffen hat. Beispielsweise müssen wir wissen, wie wir selbstgesteuerte Fahrzeuge für dilemmatische Unfallsituationen programmieren sollten, bevor die autonome Fahrtechnologie marktreif ist. Ähnliches gilt in Fragen des Klimawandels, wo die Erreichung von Schwellenwerten bzw. Kipppunkten eine unaufhaltsame Erderwärmung einleiten würde.

In bestimmten Bereichen sind also wohl oder übel philosophische Fragen zu beantworten, weil Handlungsentscheidungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Das gilt auch für den Fall von Covid-19. Wenn wir nicht entscheiden, dann legen wir uns damit auf ein Ergebnis fest – ein Ergebnis, das wir womöglich hätten vermeiden sollen.

Damit können wir schon jetzt eine wichtige erste Schlussfolgerung ableiten: Wenn Philosophie in der Tat einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der komplexen Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit Covid-19 leisten kann, und wenn die entsprechenden Entscheidungen unmittelbar anstehen, dann können Philosophinnen und Philosophen sich nicht den Luxus erlauben zu warten, bis alle relevanten Daten vorliegen. Denn dann hat auch die philosophische Diskussion um Covid-19 eine Deadline.

Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit

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