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Das pandemische Potential von SARS-CoV-2 war erkennbar

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Entsprechend These 2 war schon früh deutlich geworden, dass SARS-CoV-2 durchaus das Potential hatte, eine Pandemie auszulösen. Übersehen wurde diese Tatsache insbesondere deshalb, weil Argumente in Umlauf waren, die auf falschen sachlichen Annahmen oder grundlegenden Denkfehlern beruhen.

Nach einem ersten Argument, das auch von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vertreten wurde, ist SARS-CoV-2 mit den saisonalen Grippeviren vergleichbar. Niemand befürchte aber, dass die jährlich auftretende Grippewelle, die in der Saison 2017/18 immerhin 25 000 Todesopfer forderte, plötzlich in eine unkontrollierbare Pandemie umschlagen würde. SARS-CoV-2 werde daher in seiner Gefährlichkeit überschätzt.

Diese Position nahm auch der Publizist Gabor Steingart erstaunlich lange ein. In einem Blogpost vom 4. März 2020 diagnostizierte er, die Vernunft stehe im Moment unter Quarantäne. Er wies darauf hin, dass sich bis dato in Deutschland nur 196 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert hätten und noch niemand gestorben sei. Dagegen habe die saisonale Influenza bereits 161 Todesopfer gefordert. Auch im Straßenverkehr, so Steingart, würden über 3000 Menschen pro Jahr sterben. Folglich sei übermäßige Sorge unbegründet.

Dieser Gedankengang übersieht, dass sich SARS-CoV-2 von der saisonalen Grippe in wesentlichen Punkten unterscheidet: Anders als SARS-CoV-2 sind saisonale Grippeviren endemisch, sie treten also in einer bestimmten Region fortwährend und gehäuft auf. Es existieren zwar Ansteckungsketten von Person zu Person, doch führen diese nicht zu einem epidemischen Ausbruch, weil die Zahl der Infizierten saisonal mehr oder weniger konstant bleibt.

Technisch lässt sich dies durch das Verhältnis zweier epidemiologischer Kennzahlen erklären, nämlich durch das Verhältnis zwischen der Basisreproduktionszahl (R0) und der Suszeptibilitätszahl (S). R0 ist die Anzahl der Personen, die eine infizierte Person im Durchschnitt in einer nicht-immunen Bevölkerung ansteckt, sollten keine Gegenmaßnahmen wie etwa »Physical Distancing« ergriffen werden. S ist der für die jeweilige Erkrankung anfällige Bevölkerungsanteil. Wenn das Produkt R0 × S bei einem Wert von 1 liegt, dann besteht ein endemisches Gleichgewicht. Wenn der R0-Wert eines Krankheitserregers zum Beispiel 1,5 beträgt, aber nur zwei Drittel der Bevölkerung anfällig sind, weil ein Drittel aufgrund früherer Infektionen oder einer Impfung immun ist, dann ergibt sich folgende Rechnung:

R0 × S = 1,5 × 2/3 = 1.

Diese Konstellation begegnet uns bei saisonalen, endemischen Grippeviren.6

Bei epidemischen Viren wie dem SARS-CoV-2 sieht das ganz anders aus. Aufgrund seiner vergleichsweise hohen Kontagiosität (Fähigkeit zur Ansteckung) liegt der R0-Wert von SARS-CoV-2 deutlich über 1, wahrscheinlich zwischen 2 und 2,5. Das RKI geht sogar von einem Wert zwischen 2,4 und 3,3 aus.7 Außerdem ist in diesem Fall vermutlich noch niemand gegen den Erreger immun.8 Damit ist S = 1.

Was bedeutet das? Gehen wir davon aus, dass R0 = 2. Das würde bedeuten, dass die erste mit SARS-CoV-2 infizierte Person in einer Bevölkerung jeweils zwei weitere ansteckt, die wiederum je zwei weitere anstecken usw. Dadurch ergibt sich ein explosionsartiges, exponentielles Wachstum, das aufgrund der höheren Suszeptibilität der Bevölkerung zudem einen deutlich größeren Bevölkerungsanteil erfasst, als saisonale Influenza-Erkrankungen dies können. Da sich diese Welle in allen Ländern ausbreitet, in die SARS-CoV-2 eingeschleppt wird, verursacht das Virus absehbar überall Epidemien und führt damit zu einer Pandemie. Saisonale Grippeviren tun das nicht.

Weil dieser Unterschied zwischen saisonaler Grippe und SARS-CoV-2 bekannt war, war auch das pandemische Potential des Virus ohne größere Schwierigkeiten erkennbar.

Nun könnte man einwenden, dass dasselbe Argument für SARS-CoV, also den Erreger des Schweren Akuten Respiratorischen Syndroms (SARS), gegolten hat. Die Verbreitung dieses Virus ließ sich 2003 aber erfolgreich eindämmen, nach weltweit 8000 Fällen und 800 Todesopfern.

Auch dieses Gegenargument übersieht grundlegende Unterschiede zwischen SARS-CoV und SARS-CoV-2: Zwar bestehen tatsächlich viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Erregern. So gehören beide zur Familie der Coronaviren, teilen etwa 86 % des Erbguts und werden vorrangig durch Tröpfcheninfektion übertragen. Das klinische Bild ist ebenfalls ähnlich: Beide Viren befallen die Atemwege und können schwere Krankheitsverläufe nach sich ziehen.

Gleichzeitig unterscheiden sich die beiden Erreger aber in mehrfacher Hinsicht. Die wichtigsten Unterschiede liegen in der Kontagiosität und in den Symptomen der verursachten Erkrankungen. So ist SARS-CoV-2 ansteckender als SARS-CoV. Zudem verläuft eine Infektion mit SARS-CoV-2 anders als eine Infektion mit SARS-CoV. Bei vielen Patienten führt sie nur zu milderen (oder sogar eventuell zu gar keinen) Symptomen, was es vergleichsweise schwerer macht, Ansteckungen früh zu erkennen und Ansteckungsketten durch geeignete Maßnahmen zu unterbrechen.

Diese Unterschiede waren früh bekannt, und wer sie zur Kenntnis nahm, musste erwarten, dass sich die Eindämmung von SARS-CoV-2 deutlich schwieriger gestalten würde als die Bekämpfung von SARS-CoV.

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