Читать книгу Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit - Nikil Mukerji - Страница 16

Pandemien sind erwartbar

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Für These 1 lassen sich zunächst historische Belege anführen: Covid-19 ist natürlich nicht die erste Infektionskrankheit der Weltgeschichte, die eine Epidemie bzw. Pandemie ausgelöst hat.

Aus dem Altertum sind Seuchen bekannt, die große Teile der Bevölkerung dahinrafften. Zu den frühesten dokumentierten Fällen zählen etwa die Attische Seuche, die Athen während des Peloponnesischen Kriegs im fünften Jahrhundert v. Chr. heimsuchte, oder die Antoninische Pest im Römischen Reich des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Seit dem sechsten Jahrhundert n. Chr. wurde Europa und Vorderasien von einer Vielzahl von Pestwellen heimgesucht, die im Schwarzen Tod des Spätmittelalters gipfelten und viele Millionen Todesopfer forderten.

Im 20. Jahrhundert sind mit der Spanischen Grippe (1918–1920), der Asiatischen Grippe (1957–1958), der Hongkong-Grippe (1968–1970) und der Russischen Grippe (1977–1978) vier Influenza-Pandemien zu verzeichnen. Im frühen 21. Jahrhundert trat mit der Schweinegrippe (2009) eine weitere hinzu.

Die Spanische Grippe zeigte das zerstörerische Potential einer pandemischen Influenza besonders deutlich auf. Sie forderte nach neueren Schätzungen zwischen 80 und 100 Millionen Todesopfer. Zum Vergleich: Diese Zahl übersteigt die Zahl der militärischen Opfer des Ersten Weltkriegs um das Vier- bis Fünffache. Hinzukommen diverse Ausbrüche der Pocken, die allein im 20. Jahrhundert schätzungsweise 300 Millionen Todesopfer forderten, also mehr als alle Kriege und Genozide des 20. Jahrhunderts zusammen. Das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) tötete seit 1980 etwa 36 Millionen Menschen. Ausbrüche der Cholera fordern nach Angaben der WHO jährlich zwischen 1,3 und 4 Millionen Opfer. Und diverse andere Krankheiten führen rund um den Globus regelmäßig zu Epidemien: Ein besonders beunruhigendes Beispiel stellt etwa das Ebolafieber dar, das zwar regelmäßig zu nur kleineren Ausbrüchen führt, dafür aber eine erschreckend hohe Letalität von bis zu 90 % aufweist.

Ein kurzer Blick in die Geschichte der Weltgesundheit lehrt also, dass katastrophale Infektionswellen die Menschheit regelmäßig heimsuchen. Und daraus muss man schließen: Pandemien sind in regelmäßigen Abständen erwartbar. Dies gilt umso mehr, als wir die Ursachen und Ursprünge der Pandemien inzwischen gut verstehen.

Mikrobiologische Krankheitserreger, also Bakterien, Viren oder Parasiten, werden von Tieren zu Menschen übertragen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Zoonosen oder Zooanthroponosen. Solche Übertragungen sind vor allem dort wahrscheinlich, wo eine Vielzahl von Wildtieren verzehrt wird, die dem Menschen fremde Mikroorganismen beherbergen. In China und anderen asiatischen Ländern begegnet man den sogenannten »Wet Markets«, wo entsprechende Wildtiere wie etwa Schleichkatzen, Schuppentiere oder Fledermäuse lebend angeboten und erst beim Kauf geschlachtet werden. Bereits das Coronavirus SARS-CoV, das die Lungenkrankheit SARS (2003) verursachte und mit dem Covid-19-Erreger SARS-CoV-2 verwandt ist, wurde wahrscheinlich über Wet Markets auf den Menschen übertragen.

Für die Möglichkeit einer pandemischen Infektionswelle durch ein neues Virus spricht also nicht nur eine Vielzahl historischer Präzedenzfälle. Wir kennen auch den Übertragungsweg von Tier zu Mensch und wissen, dass die Bedingungen einer Übertragung auf diesem Weg in vielen Ländern gegeben sind.

Eine Pandemie wie die aktuelle war aus einem weiteren Grund absehbar: Die sozioökonomischen, technischen und Umweltbedingungen unserer Gegenwart begünstigen die Entwicklung und Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Der Global Risk Report (2019) des World Economic Forum identifiziert in diesem Zusammenhang fünf wichtige Trends:

1 Das globale Dorf: Mikrobiologische Krankheitserreger oder Pathogene können durch das enge Transportnetzwerk des internationalen Personen- und Warenverkehrs innerhalb von nur 36 Stunden an jeden beliebigen Ort der Welt gelangen.

2 Die Urbanisierung: Der überwiegende Teil der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Die urbane Bevölkerungsdichte und die vergleichsweise schlechten hygienischen Bedingungen vieler Metropolen begünstigen die Verbreitung von Krankheitserregern.

3 Die Entwaldung: Der weltweite Baumbestand ist in den letzten zwei Jahrzehnten rückläufig. Das begünstigt Epidemien, weil Wildtiere so aus ihren natürlichen Lebensumgebungen vertrieben werden und verstärkt Kontakt zu Menschen haben, was die Wahrscheinlichkeit zoonotischer Erkrankungen erhöht.

4 Der Klimawandel: Nach Einschätzung der WHO kann der Klimawandel die Ausbreitung infektiöser Krankheiten aus mehreren Gründen begünstigen, etwa indem sich die klimatischen Bedingungen für die Ausbreitung bestimmter Krankheitserreger verbessern.

5 Flucht und Vertreibung: Millionen Menschen fliehen weltweit vor Armut, Verfolgung, Krieg und Naturkatastrophen und sind dabei besonders anfällig für Infektionskrankheiten wie Masern, Malaria, Diarrhö und akute Atemwegserkrankungen.

Halten wir also fest: Aufgrund der Vielzahl historischer Pandemien, der bekannten und weiterhin vorhandenen Übertragungswege von Tier zu Mensch und den für pandemische Krankheitserreger günstigen Bedingungen der modernen Welt war es nur eine Frage der Zeit, bis uns eine weitere Pandemie heimsuchen würde.

Bill Gates, der sich wie erwähnt seit langem mit der Prävention von Pandemien auseinandersetzt, führte bereits vor fünf Jahren aus: »Wenn irgendetwas in den nächsten Jahrzehnten mehr als 10 Millionen Menschen umbringt, dann ist es sehr wahrscheinlich ein hochinfektiöses Virus und kein Krieg.«

Natürlich wussten auch die nationalen und internationalen Gesundheits- und Seuchenschutzbehörden um dieses Risiko. Die WHO und das RKI verfügen etwa über Pandemiepläne für Influenzawellen. Infolge der SARS-Pandemie des Jahres 2003 wurde nicht nur an Influenzapandemien gedacht. Der Ausbruch eines modifizierten, deutlich infektiöseren Coronavirus (Modi-SARS) wurde in einer Drucksache des Bundestages aus dem Jahr 2012 ausführlich besprochen.

Wenn These 1 zutrifft, war also durchaus vorhersehbar, dass die Welt früher oder später eine schwerwiegende virale Pandemie erleben würde. Dennoch haben die Entscheidungsträger nahezu aller westlichen Länder nicht mit hinreichender Alarmbereitschaft auf den Ausbruch von Covid-19 im chinesischen Wuhan reagiert. Noch am 11. März beklagte der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus »ein alarmierendes Niveau des Nichtstuns«. Es drängt sich daher die Frage auf, warum es so lange dauerte, bis man das pandemische Potential des neuen Coronavirus erkannt hatte. Das führt uns zu These 2.

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