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Die Erinnerung kehrt zurück
ОглавлениеNachdem ich meine Erinnerung an den Vortag also größtenteils wiedererlangt hatte, ließ die Intensität meiner Bemühungen, schnellstmöglich meinen (Noch-)Arbeitsplatz aufzusuchen spürbar nach. Auch wenn ich formal bis zum Eintreten der fristgerechten Kündigung noch drei Monate im Dienste der Firma stand (für eine sofortige Freistellung war ich bei weitem nicht wichtig genug), wollte sich der rechte Elan nicht mehr einstellen. Dass ich nach wie vor von der vorherigen Nacht noch ziemlich angeschlagen war, wirkte sich auf meine Motivation auch nicht eben förderlich aus. Letztendlich siegte dann aber doch mein Pflichtbewusstsein, so dass ich mich nach einer kurzen Dusche und einem kargen Katerfrühstück, bestehend aus zwei Tassen Kaffee und einer Handvoll Aspirin, auf den Weg zur Arbeit machte.
Erfreut stellte ich fest, dass das Ausmaß des morgendlichen Berufsverkehrs nach 12:00 mittags erheblich nachlässt, so dass ich das Firmengelände nach deutlich kürzerer Anreise als gewohnt erreichte.
Mein Chef nahm meine geringfügige Verspätung (mittlerweile war es etwa 13:30) nach kurzem Zögern kommentarlos zur Kenntnis. (Was hätte er auch sagen sollen? „Wenn das noch mal vorkommt, müssen Sie mit einer Abmahnung rechnen!“?)
Die verbleibende Arbeitszeit verbrachte ich damit, lustlos einige der wenigen noch verbliebenen Routineaufgaben zu erledigen, um anschließend ein wenig im Internet zu surfen.
Danach trieb mich der bedrohlich gesunkene Koffeinpegel wieder in Richtung Kaffeeküche, wo mich Simon mit einem breiten Grinsen erwartete.
„Na Casanova, wie fühlen wir uns heute?“
„Alles bestens“, antwortete ich, die Kater-Kopfschmerzen verleugnend, „und bei Dir?“
„Bis auf ein paar kleinere Ausfallerscheinungen heute morgen alles im Lack“, sagte er, „aber der gestrige Abend war es allemal wert.“
Er grinste immer noch über beide Ohren.
„Schließlich habe ich noch einiges darüber gelernt, wie man die Herzen der Damen im Sturm erobert. Seid Chantalle und Du Euch noch nähergekommen?“
Was redete er denn da für wirres Zeug? Waren er und ich etwa nicht gemeinsam gegangen? Und wer zum Teufel ist Chantalle?
„Jetzt sag bloß, Du kannst Dich an Deine Angebetete von gestern nicht mehr erinnern.“
Offensichtlich empfand er meinen verwirrten Gesichtsausdruck als Bestätigung. Zu recht.
„Na dann wollen wir Deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen“, sagte er und zückte sein Handy. Nachdem er ein paar Mal energisch auf dem Display herumgewischt hatte, drehte er es so zu mir, dass ich die Aufnahmen des gestrigen Abends sehen konnte. Da wir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr allein in der Kaffeeküche standen, drängten sich auch ein paar Kollegen neugierig heran.
Sollte es sich bei Chantalle etwa um die Göttin handeln, an die ich mich langsam schemenhaft zu erinnern begann?
Was ich dann auf den Bildern sah, erschütterte mich zutiefst. Das konnte doch unmöglich wahr sein!
Neben einem nicht unsympathischen, aber bereits ziemlich derangierten südländischen Typen mit schwarzen Haaren und dunklen (und etwas glasigen) Augen und verzücktem Gesichtsausdruck, war eine Dame, schätzungsweise Ende dreißig, mit strähnigem, in der Nuance „Thekenschlampe“ blondiertem Haar und kräftigem Make-up, das ihre grobporige Haut nur unzulänglich kaschierte, zu sehen. Ihr gezwungenes Lächeln entblößte eine Reihe großzügig dimensionierter nikotingelber Zähne. Das T-Shirt mit dem Logo des Lokals spannte sich durchaus bemerkenswert im Brustbereich, bedauerlicherweise aber nicht nur dort. Wie war das möglich? Natürlich wusste ich aus eigener Erfahrung, dass man sich Frauen schöntrinken kann, aber hier hatte ich offensichtlich neue Maßstäbe gesetzt.
„Das hättet Ihr mal sehen sollen“, prustete Simon los, „wie er diese Aphrodite angegraben hat.“ „Heirate mich“, äffte er mich nach, „schenk mir zehn Kinder.“ „Du bist die Frau, von der ich mein Leben lang geträumt habe.“ Die weiteren Photos, die er geschossen hatte, waren nicht vorteilhafter (weder für Chantalle noch für mich), was der allgemeinen Heiterkeit in der Kaffeeküche keinen Abbruch tat. Dann spielte Simon noch die Aufnahme ab, in der ich meinen überbordenden Gefühlen Luft machte.
„Schatzi, schenk mir ein Photo, schenk mir ein Photo von Dir…“ plärrte es hingebungsvoll aus dem Handy-Lautsprecher.
Der restliche Tag verlief insgesamt ereignislos, so dass ich gegen 16:30 befand, dass die Loyalität mit dem Arbeitgeber mit dem Beschäftigungsverhältnis endet und es somit für heute genug sei und machte mich wieder auf den Heimweg.
Kaum dort angekommen, klingelte das Telefon. Meine Mutter war dran. Was sollte ich jetzt bloß sagen? Natürlich wussten meine Eltern, dass es um die Firma in letzter Zeit nicht sonderlich gut bestellt war und machten sich deswegen große Sorgen um den Arbeitsplatz ihres einzigen Sohnes. Nicht zu unrecht, wie sich jetzt herausgestellt hatte. Ganz sicher würde das Gespräch früher oder später darauf kommen, ob es denn etwas Neues in der Firma gäbe. Meine Sorgen diesbezüglich sollten sich als unbegründet erweisen. Unter Tränen informierte mich meine Mutter, dass meine Großmutter am Vorabend verstorben war.
Gefasst versuchte ich meine Mutter so gut es eben ging zu trösten und versprach ihr, mich am nächsten Tag in das erste Flugzeug nach Athen zu setzen, um rechtzeitig zur Beerdigung am Donnerstag morgen auf der kleinen Kykladeninsel zu sein, von der meine Mutter stammte und auf der meine Eltern seit ihrem Ruhestand gemeinsam mit meiner Großmutter die Sommermonate verbrachten.
Nachdem ich aufgelegt hatte, buchte ich einen Flug um 07:50 am nächsten Morgen und stellte verwundert fest, dass ich angefangen hatte zu weinen.