Читать книгу Eine Insel nur für uns - Nina Hoffmann - Страница 11
Im Ministerium
ОглавлениеAlles fing an, als Nina und ich zwei Jahre zuvor zu jener Reise durch Tongas benachbarten Inselstaat Fidschi aufbrachen. Wir wollten für eine Weile hinaus aus der alten Welt, raus aus dem Alltag – ein Wunsch, wie ihn viele haben. Manche erfüllen sich diesen Traum direkt nach dem Abitur, gehen erst mal auf Reisen, bevor »der Ernst des Lebens« beginnt. Bei uns ging das nicht, obwohl auch wir schon zu Schulzeiten vom Paradies träumten. Kaum das Abschlusszeugnis in der Hand, hatte sich Nina ins Studium gestürzt und ich mit Zivildienst und Ausbildung begonnen.
Die Zeit verging, es war eine gute Zeit, aber irgendwann war klar: Wenn wir nicht ein Leben lang träumen, sondern unser Paradies wirklich sehen wollten, dann jetzt oder nie. Wir ahnten nicht im Geringsten, dass aus diesem ersten Abenteuer etwas werden würde, das wir heute als unsere persönliche Lebensart begreifen.
Zunächst zog es uns in Fidschis Nordosten, auf eine kleine Insel mit vielen Hügeln, Bächen und sieben Dörfern. Wir fanden eine Bleibe in einer Bucht am Rand einer Siedlung und versuchten, uns in Dorf und Südseekultur zu integrieren. Die Insulaner nahmen uns herzlich auf. Und schließlich nahm das Verhängnis seinen Lauf, denn eines Tages trafen wir Jonny.
Jonny ist ein braun gebrannter und gut gelaunter Mittvierziger aus Südafrika, der nach Fidschi kam, um das Leben zu genießen – und er sagte: »Es gibt da diese Insel, also wisst ihr, die ist ein echter Geheimtipp.«
Wir lauschten neugierig, und je mehr Jonny erzählte, desto faszinierter waren wir. Es handelte sich um eine einsame Insel. Die einsame Insel, dreißig Seemeilen entfernt von der nächsten bewohnten. Mitten im weiten Ozean, mitten im Nichts. Ein kleines Sandkorn auf der Seekarte, auf den meisten Karten nicht einmal vermerkt. Unerreichbar für jeden, der nicht um ihre Existenz weiß. Sie ist etwa vierhundert mal hundert Meter groß; um das bewaldete Inselinnere zieht sich ein Sandstrand, der so breit und lang ist wie Eiweiß bei einem Spiegelei.
Die Schönheit der Insel blendete uns, ihre Unberührtheit raubte uns den Atem. Ohne dass wir darüber gesprochen hätten, war uns beiden klar, dass wir genau das suchten. Die Einsamkeit. Auch wenn wir beide keine Misanthropen sind, sondern im Gegenteil unsere Freunde lieben und brauchen – der Gedanke, für eine Weile nur zu zweit zu sein, reizte uns. Würden wir uns neu kennenlernen, wenn wir nichts und niemanden sonst hätten, der uns voneinander ablenkte? Würde es unsere Beziehung festigen?
Als wir den warmen, weißen Sand der Insel zum ersten Mal unter unseren Füßen spürten, fühlten wir uns, als wären wir die einzigen Menschen auf dieser Welt – am schönsten Ort, den man finden kann. Er wirkte so surreal, so unglaublich perfekt. So, dass wir fast heute noch nicht glauben können, wirklich dort gewesen zu sein. Dass es keine Einbildung war, sondern echt.
Diese Insel sieht aus, als hätte eine höhere Macht jedes Sandkorn einzeln arrangiert, jede Koralle in der türkisfarbenen Lagune extra eingesetzt. Und wir bekamen plötzlich die Chance, für kurze Zeit dort leben zu können. Die Erlaubnis, dort leben zu dürfen. Unser Eintritt ins Paradies. Wir konnten gar nicht anders.
Jonny vermittelte uns an den Sohn des Besitzers, einen Neuseeländer, und der freute sich riesig über unser Interesse. Er habe nie darüber nachgedacht, die Insel und das Strandhaus auf ihr zu vermieten, sagte er, aber das höre sich gut an. »Könnt ihr euch mit euch selbst beschäftigen?«, fragte er. Konnten wir das? Klar konnten wir!
In dieser Inselidylle gab es keinen westlichen Luxus, wie wir ihn kennen. Wir hatten eine Komposttoilette, die aus einer Plastiktonne und einem Holzgestell drumherum bestand. Dafür gab es eine komplett andere Art von Luxus: Wir hatten Zeit, unendlich viel Zeit. Für alle täglichen Dinge des Lebens und vor allem füreinander. Ich glaube, das war es, was die Sehnsucht in uns pflanzte und keimen ließ, bis daraus dieses unbedingte Bedürfnis wuchs, das uns zu Hause nicht mehr glücklich werden ließ.
Es wäre naheliegend für uns gewesen, beim zweiten Mal erneut auf jene Insel zu gehen, wir hatten ja sämtliche Kontakte, doch gab es ein Problem, für das wir einfach keine Lösung fanden: Fidschi erteilt prinzipiell keine Erlaubnis, Hunde aus Europa zu importieren. Auch keine Sondergenehmigung. Keine Diskussion. Doch für uns war klar: Unseren Hund lassen wir nicht zurück.
So kamen wir auf das Königreich von Tonga. Gleich neben Fidschi gelegen, die Inseln laut Reiseführer sogar noch abgeschiedener als das im Laufe der letzten Jahrzehnte touristischer gewordene Nachbarland.
Der nette Herr von der Quarantänestation half uns gleich mit unserem speziellen Hunde-Import-Anliegen. Und: Im Verhältnis zu bewohnten Inseln gibt es in Tonga überproportional viele unbewohnte. Etwa dreißig besiedelt, 340 einsam – kaum vorstellbar, dass wir dort nicht fündig werden sollten.
Wochen vor der unheilvollen Fährfahrt auf die Insel suche ich ein Hinterhofbüro auf, das zum Ministry of Lands, Survey, Natural Resources and Environment gehört. Es ist Mittagspause und duftet nach Magginudeln mit Hühnergeschmack, als ich hereinkomme. Die Mitarbeiter gießen sie in Kaffeetassen auf und rühren so lange darin herum, bis die Nudeln weich genug sind.
Richard, Chef der Unterabteilung Geographic Information System im Ministerium, unterbricht die Angelegenheit, die seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, erhebt sich vom Schreibtischstuhl und kommt mir lächelnd entgegen, um mir die Hand zu schütteln. Er trägt tongaische Geschäftskleidung: einen schwarzen Wickelrock, die obligatorische Pandanusmatte darumgebunden, ein schwarzes Hemd und breite Ledersandalen. Er wirkt gemütlich und höflich, trotzdem wird er mich nach Anhören meines Anliegens aller Wahrscheinlichkeit nach für verrückt erklären.
»Wie kann ich helfen?«, fragt er und schaut mich durch seine eckige Brille erwartungsvoll an. Palangis stehen normalerweise wegen Visafragen vor dem Immigration Office eine Straße weiter, einem Gebäude, das zusammenfallen würde, wenn sich nicht so viele Reisepässe darin stapelten. Oder sie schaffen es mal in das Vorzimmer des Ministry of Lands, um Gebühren für geleastes Land zu bezahlen. Doch hierher, in den mit Wellblech bedeckten Anbau hinter dem Hauptgebäude, kommt nie einer.
»Es ist etwas kompliziert«, sage ich. »Ich kann auch nach der Mittagspause wiederkommen.«
»Nein, nein, das geht schon in Ordnung«, erwidert Richard, rollt mir einen Bürostuhl entgegen und fordert mich auf, mich ihm gegenüber zu setzen.
Ich nehme dankend Platz und schildere ihm mein Anliegen. »Meine Frau und ich suchen eine passende einsame Insel für uns«, sage ich. »Dazu brauche ich einen Überblick und gutes Kartenmaterial.«
Mich überrascht, dass Richard gar nicht verwundert reagiert. Er braucht nur zwei Sekunden, um zu verarbeiten, was ich will. »Und was wollt ihr dort machen?«, fragt er.
»Was die meisten Tongaer auch machen«, antworte ich. »Wir mögen das einfache Leben auf den Inseln, wollen einen eigenen Garten anbauen und ab und zu fischen gehen.«
Richard grinst mich an und holt Luft. »Pflanz bloß kein Marihuana an«, warnt er, und ich weiß nicht recht, ob er das als Witz meint. Er führt mich an einen Tisch in der Ecke des Büros, auf dem Karten im DIN-A1-Format ausgebreitet liegen. Manche zeigen große Inseln im Detail. Andere zeigen ganze Gruppen. Richard zieht eine der Kartonrollen herunter, die auf einem Schrank liegen. Er öffnet den Deckel und holt eine Karte heraus, auf der die gesamte Ha’apai-Inselgruppe abgebildet ist. Die liegt in etwa in der Mitte des Königreichs und ist besonders abgeschieden und wenig erschlossen. Genau, was wir suchen. Die einzelnen Archipele sind so weit versprenkelt, dass man meinen könnte, jemand habe Zuckerstreusel auf die Karte fallen und kullern lassen. Die enorme Weite des Ozeans ist das alles bestimmende Element. Die reine Landmasse macht in der Südsee ein Prozent aus, der Rest der Fläche ist Wasser – sie ist so groß wie die Oberfläche des Mondes.
Auf Richards Karte werden die Entfernungen von Insel zu Insel deutlich – das Kartenmaterial, das wir zuvor im Tourismusbüro bekommen haben, war für uns zu nichts zu gebrauchen. Es sind vier Inseln, die uns aufgefallen sind und über die wir gern mehr erfahren würden. Mit tagelanger Internetrecherche haben wir versucht, so viele Eindrücke wie möglich zu gewinnen. Google Earth funktioniert wegen der schlechten Internetverbindung in Tonga kaum, aber zu manchen Inseln finden wir Beschreibungen von Seglern, die auf ihren Fahrten durchs Archipel vor ihnen geankert haben. Die Beiträge sind mitunter mehrere Jahre alt. In den meisten Fällen ist es zäh, an aktuelle Informationen zu kommen. Mit Glück stoßen wir auf Fotos, die Segler nach ihren Törns online gestellt haben, und erfahren von Früchten, die auf den Inseln wachsen, und Tieren, die dort leben.
Auf einer von ihnen, sehr markant durch glatte, große Felsblöcke am Strand, lebt angeblich mehrere Monate im Jahr ein tongaischer Einsiedler mit seinen Schweinen. Das habe ich abends in einer Strandbar erfahren.
»Ist das noch immer so?«, frage ich Richard.
»Soweit ich weiß, ja«, sagt er.
Damit scheidet Klein-Bora-Bora, wie Segler die Insel nennen, leider aus. Nina und ich, sozusagen Zweisiedler, wollen sicher keinen Einsiedler stören. Wobei die Insel noch einen weiteren Vorteil gehabt hätte: Sie ist an einer Stelle mehr als zehn Meter hoch – ein guter Schutz vor einem Tsunami.
Das sieht auch Richard so, der mir eine Karte zeigt, auf der die Entwicklung eines Tsunamis im September 2009 auf den Niuas, den beiden nördlichst gelegenen Inseln Tongas, dargestellt ist. Die Welle hatte Dutzende Menschen das Leben gekostet.
»Die Tsunamigefahr gilt in den nächsten Jahren als erhöht«, sagt Richard. Ich zucke zusammen. Dass es Tsunamis gibt und sie gefährlich sind, ist ja klar, dass aber die Wahrscheinlichkeit, von einem erwischt zu werden, augenblicklich erhöht ist, höre ich zum ersten Mal.
»Du musst sicherstellen, dass du alle offiziellen Warnungen mitbekommst, egal wie«, empfiehlt Richard und sieht mich eindringlich an. Ich nicke; ich werde das Risiko sicher nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Zwei weitere Inseln scheiden aus; sie sind uns zu klein. Auf ihnen kann man kaum einen Kreis laufen, und wir würden uns nach ein paar Stunden an die Gurgel gehen.
In der Ha’apai-Gruppe gibt es jedoch noch eine kleine Inselkette, die passen könnte. Eine Insel ganz im Süden ist am größten, eineinhalb Kilometer lang und dreihundert Meter breit. Leider kann mir Richard keine Auskunft über sie geben. »Ich bin nie dort gewesen«, sagt er. Auch die Insel wenige Meilen weiter nördlich kennt er nicht. Trotzdem erscheint sie mir als Option, weil sie von Seglern als riesige Bananen- und Papayaplantage beschrieben wird, die vor Jahrzehnten angelegt worden sein muss.
Die dritte unbewohnte Insel im Bunde, weitere Meilen nördlich, ist einen Kilometer lang und misst an der breitesten Stelle fast dreihundert Meter. Sie ragt aus dem Meer wie der mächtige Rücken eines Buckelwals, der zum Atmen auftaucht. Nina hat eine Luftaufnahme von ihr im Internet gefunden. Sie liegt in derselben Lagune wie die frühere Plantagen-Insel, und noch aus tausend Metern Höhe ist das türkisfarbene Wasser um die Strände herum zu erkennen. Sie hat eine auffällig breite Sandspitze im Nordwesten – ein traumhafter Platz für abendliche Lagerfeuer.
»Ich glaube, auf dieser Insel hat ein Palangi ein Haus gebaut«, erwähnt Richard beiläufig.
Schlagartig erhöht sich mein Puls. »Wirklich wahr? Ein Haus? Lebt da jemand?«
»Keine Ahnung.«
Ich dämmere einen Moment in Gedanken vor mich hin. Wenn auf der Insel niemand leben würde, und die Besitzer zu kontaktieren wären und wenn denen unser Vorhaben gerade recht käme – ist das vorstellbar? Mit uns hätten sie jemanden, der das Land pflegt, nach dem Haus schaut. Und für Nina und mich wäre das der schnellste Zugang zur einsamen Insel. Es würde keine weiteren Diskussionen geben mit Behörden oder Landbesitzern. Denn selbst wenn eine Insel offiziell im Besitz der Regierung ist, gibt es in Tonga Adelsleute, die einen Anspruch darauf haben und mit denen zu klären wäre, ob wir uns dort für ein Jahr niederlassen dürften. Beim Privatbesitz eines Weißen würde so vieles einfach wegfallen.
Inzwischen sind wir so verbissen mit der Organisation unserer Inselzeit beschäftigt, dass es uns guttun würde, endlich die Wahl des Ortes zu treffen. Dazu kommt: Ein fertiges Haus würde uns die Zeit sparen, den Bau einer Hütte zu organisieren, das Baumaterial auszuwählen, zu kaufen und mit einem größeren Boot auf die Insel zu bringen.
Weil wir die ganze Zeit davon ausgegangen sind, diese Punkte erledigen zu müssen, haben wir uns in unserem ersten Monat in Tonga bereits um einiges gekümmert. Wir waren im Baumarkt und haben uns Holzbalken und Latten angeschaut, Wellblech für das Dach, Regentanks und ihr Fassungsvolumen, sogar spezielle Metallplatten, die Dach und Holzgerüst zum Schutz vor Zyklonen miteinander verbinden.
»Ich kann eine meiner Mitarbeiterinnen losschicken, um etwas über die Besitzverhältnisse der Insel in Erfahrung zu bringen«, bietet Richard an.
»Ja, bitte, bitte«, flehe ich.
»In Ordnung. Das dauert aber eine Weile«, sagt er. »Komm am besten heute Nachmittag noch mal vorbei.«
Bevor ich gehe, bestelle ich fast sämtliches Kartenmaterial Tongas in DIN-A1-Format: Tongatapu und seine umliegenden Inseln, die nördliche Inselgruppe Vava’u, Tonga im Gesamtüberblick und die Ha’apai-Gruppe. Die Karten sind derart detailliert, dass ich sie unbedingt haben muss, um mit Nina in Ruhe alles zu studieren. Richard ist entzückt, und ich handle ihn um zehn Pa’anga, Tonga-Dollar, auf 150 herunter. Ein Pa’anga entspricht etwa vierzig Cent.
»Ich habe noch nie jemandem Rabatt gewährt«, sagt Richard und grinst.
Als ich später am Tag wiederkomme, zeigt er mir den sauberen Druck der bestellten Karten, und ich nicke zufrieden. Er rollt die Papiere zusammen, steckt sie in Kartenrollen und verschließt sie mit Plastikdeckeln.
»Gibt es Neuigkeiten über die Insel?«, frage ich.
»Leider nicht viele«, sagt Richard. Er hat keine Namen oder Kontaktdaten in Erfahrung bringen können, sondern nur den kryptischen Fantasienamen Far Away Limited, ausgedacht für das Inselgrundstück.
Ich bohre noch einmal nach, ob das wirklich, wirklich alles ist. »Keine weiteren Eintragungen?«
Richard schüttelt den Kopf, seine Mitarbeiterin auch. »Tut mir leid«, sagt sie. »Tongaische Bürokratie. Da ist nichts.«
Vermutlich sind die Akten über diesen Landverkauf auf einem der vielen Feuerhaufen Tongas gelandet, von denen jede Familie einen hinter dem Haus hat, denke ich mir. Mist!
»Vielleicht gibt es bei TCC eine Eintragung«, sagt Richard und verweist mich auf die tongaische Telefongesellschaft, Tonga Communications Corporation. Einen Versuch ist es wert, und die Zentrale liegt nur einen Kilometer entfernt.
Die Dame im Büro der Telefongesellschaft sucht eine Viertelstunde in ihrem Computersystem und in verschiedenen Telefonbüchern nach Informationen mit dem Ergebnis: keine Eintragung. Ich setze mich an einen der Rechner im TCC-Büro und durchforste das Internet.
Selbst nach zwei Stunden bin ich auf nichts Brauchbares gestoßen. Niedergeschlagen mache ich mich auf den Heimweg. Nina versucht mich aufzumuntern, wie immer in solchen Situationen.
»Wenigstens wissen wir jetzt von der Existenz der Insel und dass ein Haus auf ihr steht. Das ist mehr als nichts«, sagt sie. »Stell dir einfach vor, dass wir es schaffen.«
»Aber wie sollen wir jemanden finden, der etwas weiß?«, frage ich.
»Wir sprechen einfach jeden an, dem wir begegnen«, sagt Nina. »Tonga ist klein.«
So verbringen wir die nächste Woche ausschließlich mit der Suche nach Menschen, die eine Ahnung haben könnten, wem das Grundstück mit dem mysteriösen Namen gehört. Wir fragen Taxifahrer, Marktfrauen, Angestellte in Internetcafés, Fischverkäufer im Hafen, Fischer, die ihre Verkäufer beliefern. Wir versuchen alles, doch niemand scheint auch nur irgendetwas zu wissen, geschweige denn von dieser Insel gehört zu haben.
Viele Tongaer kennen gerade mal die Inseln, auf denen Dörfer sind, doch so weit weg von Tongatapu nicht mal mehr solche. Wieso also sollte jemand ausgerechnet über eine isolierte Insel Bescheid wissen, gelegen mitten im Nichts, um sie herum nur der weite Ozean? Einen Versuch wert scheint mir noch die Recherche in Resorts – kleinen Hotelanlagen – zu sein. Wenn ein Palangi auf einer abgelegenen Insel ein Haus baut, müssen das die anderen doch mitbekommen!
Wir treffen auf einen mürrischen Deutschen namens Franz, der in einem der entlegenen Resorts um Tongatapu Gelegenheitsjobs nachgeht. Er ist ein hagerer Typ um die fünfzig, seit einer halben Ewigkeit in Tonga und etwa genauso lange mit einer Tongaerin verheiratet. Gerade als ich das Resort betreten will, passt er mich ab, und wir kommen ins Gespräch.
Ich erwähne beiläufig die Insel, auf die es Nina und mich zieht, und bekomme endlich die Antwort, die wir haben wollen.
»Ich habe davon gehört«, sagt Franz. »Ich weiß aber leider auch nicht, wem das Haus dort gehört«, fügt er hinzu, halb entschuldigend. Er verspricht mir, sich umzuhören, und will ein Telefonat mit jemandem führen, der über die »landline« zu erreichen ist, ein Festnetztelefon. Manche abgelegenen Inseldörfer verfügen tatsächlich über einen Anschluss, wofür aufwändig Kabel im Meer verlegt werden mussten.
Einen Tag später holpern Nina und ich mit unserem Mietwagen über Schotter- und Feldwege, um unseren neuen Bekannten zu besuchen, der im wenig erschlossenen Süden der Hauptinsel lebt, der schönsten Gegend Tongatapus. Um uns herum erstrecken sich Tarofelder; die großen Stiele und Blätter der Knollenpflanze wachsen meterhoch. Der Weg führt uns durch ein unscheinbares Tor, hinter dem sich ein gepflegtes Grundstück versteckt. Mischlingswelpen begrüßen uns, Franz winkt von der Veranda. Sunday bellt wie ein Irrer aus dem Kofferraum, er hat es nicht so mit Welpen.
Wir setzen uns an einen Tisch unter einen Deckenventilator. Aus dem Garten nebenan steigt Rauch aus einem mit Palmenblättern bedeckten traditionellen Erdofen auf, und der Duft von Hühnchen und Fisch steigt uns in die Nase. In einem Schrank an der Hauswand sitzt ein Huhn und legt ein Ei. Franz bringt Kaffee. Während er uns von seiner Frau und seiner Tochter erzählt, drückt er mir beiläufig einen Notizzettel in die Hand. Darauf stehen ein Vorname und der Name einer Firma. Mehr hat Franz nicht herausfinden können, aber wir kommen unserem Ziel näher. Nina lacht zu mir herüber.
»Ich hab’s dir gleich gesagt«, flüstert sie mir zu, und ich drücke ihre Hand.
Als wir uns verabschieden, frage ich Franz nach dem nächsten Shop, denn dieser entscheidende Schritt auf dem Weg zu unserer Insel will gefeiert werden. Ein paar Feldwege weiter finden wir ein kleines, gemauertes Gebäude mit Eisenstäben statt Fensterscheiben. Im Inneren steht eine Frau vor einer Regalreihe mit Konservendosen, Zahnpasta, Milchpulver und allem anderen, was in Tonga zum täglichen Bedarf zählt. Ich bestelle ein paar eisgekühlte Dosen Cola, unser Lieblingsgetränk in der tropischen Hitze, und wir stoßen an.
»Ich bin so glücklich«, haucht mir Nina zu, während wir an unserem Wagen gelehnt dastehen und das kalte Zuckerzeug in uns hineinschütten. Ich drücke sie an mich.
»Ja, ich auch.«
Zurück in Nuku’alofa suchen wir im Internet nach dem vollen Namen des Inselbesitzers. Er stammt aus Hawaii, so viel hatte Franz uns noch sagen können, und wir sitzen an jenem Tag stundenlang vor dem Laptop, um mehr herauszufinden. Irgendwann stoßen wir über Umwege auf eine Mailadresse – »Adrian, ich fass es nicht!« – und schicken eine knappe Nachricht, in der wir uns vorstellen und von unserem Traum erzählen.
Es ist grotesk, wie wichtig das Internet ist, um in ein Paralleluniversum aufbrechen zu können, in dem technischer Schnickschnack für uns keine Rolle mehr spielen soll.
Tage vergehen, wir warten ungeduldig und stellen uns tausend Mal dieselben bangen Fragen: Was, wenn es nicht die richtige Mailadresse war? Was, wenn dem großen Unbekannten unsere Idee missfällt? Was, wenn wir mit unserer Suche von vorn beginnen müssen?
Doch dann, nachdem wir jeden Tag mindestens dreimal ins Internetcafé gefahren sind, um unsere Mails abzurufen, kommt die Antwort. Einige Minuten starren wir gebannt auf die Betreffzeile und trauen uns nicht, die Nachricht zu öffnen.
»Mach du’s«, sage ich schließlich zu Nina, und sie klickt die E-Mail an.
»Ich bin sehr interessiert«, schreibt ein Mann namens Jamie. Er und der Miteigentümer würden sich freuen, wenn wir sobald wie möglich auf die Insel ziehen und ein Auge auf sie haben könnten. Das letzte Mal, als sie dort ihren Urlaub verbracht hätten, sei das Grundstück von Wildnis überwuchert gewesen, und sie fänden es großartig, wenn das beim nächsten Mal nicht so wäre und sie gleich das Haus beziehen könnten.
»Habt ’ne gute Zeit«, wünscht er und überlässt uns sein Paradies. Einfach so. Ohne uns zu kennen.
Nina und ich tauschen einen Blick, dann reiße ich sie an mich und küsse sie stürmisch.
»Wir haben’s geschafft«, flüstere ich auf ihre Lippen.