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Deutschland

Deutschland. Um fünf Uhr dreißig klingelt das Smartphone. SMS von der Polizei. Unfall mit mehreren Toten auf der Autobahn.

»Ich muss los«, sage ich zu Nina, die noch vor sich hin schlummert.

»Oh nee, schon wieder«, meckert sie.

Manchmal hasse ich meinen Reporterjob. An irgendeinem Unfallort stehen und Autowracks fotografieren – was soll das? Und noch schlimmer, es ist längst zur Routine geworden. Drei Tote, ein Schwerverletzter. Von der Fahrbahn abgekommen, Unfallursache unklar. Das sind die Fakten, die später in der Tageszeitung stehen werden; die Worte für den Text habe ich längst im Kopf. Nüchterne Sätze. Dabei geht es eigentlich um Menschen. Menschen, einfach so aus dem Leben gerissen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit.

Ich schleppe mich zu meinen Klamotten, packe meine Kamera ein, ziehe die neonfarbene Presseweste über. Für Frühstück oder nur einen Kaffee bleibt keine Zeit. Während ich auf der Fahrt zum Unfallort müde auf die Straße sehe, schießen mir plötzlich Bilder in den Kopf. Schöne Bilder, ferne Bilder. Von unserem Urlaub auf einer Insel in Fidschi. Schon eine ganze Weile her. Dort bin ich nachts gern aufgestanden …

Nach getaner Arbeit in der Redaktion angekommen, teilen mir die Kollegen der Onlineredaktion mit, dass der Unfallbeitrag bereits nach kurzer Zeit meistgeklickt ist. In der Konferenz heimse ich ein Lob für den frühmorgendlichen Einsatz ein; vor allem die Fotogalerie, die ich mit dem Smartphone gemacht habe, kommt bei den Lesern an. Deshalb soll ich für die Videoredaktion ein paar Sätze einsprechen, die sie über einen kurzen Clip vom Unfallort legen können. Business as usual; wenn es kein Verkehrsunfall ist, gibt es einen Großbrand oder einen Überfall/Diebstahl/Einbruch.

All diesen Situationen begegne ich mit professioneller Distanz, anders ließe sich mein täglich Brot kaum verdauen. Trotzdem hinterlässt es immer wieder ein schales Gefühl, wenn ich dafür gelobt werde, anderer Leute Unglück in Szene gesetzt zu haben. Und in letzter Zeit blitzt in solchen Situationen immer wieder sie in meinem Kopf auf. Die Insel.

Als ich in der Mittagspause mit einem Kollegen an einem Reisebüro vorbeilaufe, halte ich kurz inne und schaue auf die Palmen, die als Werbung für eine Tropenreise abgebildet sind. Am liebsten würde ich reingehen und sofort buchen, aber der Kollege zerrt mich weiter.

»Für so etwas haben wir heute keine Zeit«, sagt er.

»Als ob wir für so etwas jemals Zeit hätten«, antworte ich. »Es ist ja schon ein Wunder, dass du dich zu einem Kaffee überreden hast lassen.«

»Jammer nicht rum«, lacht der Kollege.

Der versteht das nicht, denke ich und lasse mich mitziehen; durch die Menschenmassen zurück ins Redaktionsgebäude.

Am Nachmittag rufe ich den Polizeisprecher an, um zu klären, ob es bei drei Toten bleibt oder ob der Schwerverletzte inzwischen auch verstorben ist. Es bleibt bei dreien. Ich aktualisiere die Onlinemeldung und schreibe, dass sich der Schwerverletzte nach Angaben der Polizei außer Lebensgefahr befindet. Danach mache ich mich auf den Heimweg.

Feierabendstau, wie zu erwarten war. Im Radio läuft der Song I will love you Mondays. Eigentlich ein Lied über die Anstrengungen der Liebe. 365 Versuche im Jahr, es richtig zu machen. Ich interpretiere es auf meine Weise: 365 Tage im Jahr »running around and going nowhere«. 365 Tage, um die richtige Entscheidung zu treffen – und abzuhauen.

Als ich zur Wohnungstür reinkomme, bin ich gefrustet, wie immer nach so einem Scheißtag. Dabei war der Tag streng genommen nicht einmal scheiße – ich habe meinen Job erledigt, bin dafür gelobt worden und kehre nun heim zu meiner lieben Frau. Trotzdem bin ich schlecht gelaunt, zumal ich Dauerbereitschaft habe und jederzeit aus dem Feierabend gerissen werden kann, obwohl ich den Tag über schon einen Termin nach dem anderen hatte. Ich bringe kaum eine Begrüßung heraus, rede auch sonst kaum ein Wort mit Nina. Wegen Kleinigkeiten motze ich sie an.

»Hast schon wieder keine Butter gekauft, sondern nur die eklige Margarine«, ärgere ich mich, als ich den Kühlschrank aufmache.

»Kauf doch selbst ein«, gibt Nina pampig zurück. Recht hat sie. Und eigentlich brauche ich im Moment nicht einmal Butter. Es hört sich kindisch an: Im Grunde will ich einfach nur ein Bier und mich über etwas aufregen. Meinen Frust ablassen.

»Und, wie war dein Tag?«, fragt Nina als Friedensangebot.

»Frag nicht«, sage ich.

Wenig später sitzen wir im Wohnzimmer und schalten den Fernseher ein. Zappend und schweigsam vergeuden wir den Abend. Eigentlich könnte ich Nina genauso gut fragen, wie ihr Tag in der Grundschule war – sie ist Lehrerin. Aber irgendwie habe ich keinen Nerv dazu. Geschichten von Kindern, die sich danebenbenehmen, und von deren Eltern, die das auch noch gut finden, wegen der Selbstentfaltung und so (dabei sind sie bloß zu faul, ihre Gören zu erziehen – meine Meinung!) – solche Geschichten brauche ich heute nicht auch noch. Auch wenn ich weiß, dass es Nina vielleicht helfen würde, ihren Ballast loszuwerden. Wann haben wir aufgehört, miteinander zu reden?

Wieder denke ich an den Strand. An ein Lagerfeuer unter dem Südsee-Sternenhimmel. Damals haben wir auch nicht immer geredet, aber es war ein gutes Schweigen. Ein gemeinsames.

Während auf dem Bildschirm Werbung für ein sensationell neues Auto läuft und es lautlos durch traumhafte Landschaften fährt, als gäbe es nichts Natürlicheres als einen Haufen Blech in Mutter Natur, geht mir durch den Kopf, dass man hier bei einer banalen Autofahrt völlig sinnlos dem Schicksal zum Opfer fallen kann. Die Auswahl erfolgt absolut willkürlich. Das Risiko, in der Südsee von einem Tsunami überrollt zu werden, ist wesentlich geringer, als im deutschen Straßenverkehr draufzugehen.

Und plötzlich habe ich keine Lust mehr, Zeit zu vergeuden. Sei es im Auto oder vor der Glotze. Uns allen wird so viel Zeit gestohlen jeden Tag, einfach so. Und niemand scheint sich daran zu stören. Im Gegenteil, wir machen einfach mit, weil wir vergessen, was wir sonst noch alles so machen könnten. Dass es andere Dinge gibt, die wir erleben könnten.

In diesem Moment sagt Nina: »Auf der Insel gibt’s weder Butter noch Margarine.«

Ich sehe sie an. Stutze nur einen kurzen Moment. »Du auch?«, frage ich.

»Ja. Die ganze Zeit; seit Monaten.«

»Aber nicht für ein paar Wochen Urlaub, das ist dir schon klar, oder?«

Sie seufzt. »Schön wäre es.«

»Nina«, ich greife nach der Fernbedienung, schalte das Gerät aus und blicke ihr in die Augen. Es ist, als hätten ihre Worte einen Entscheidungswillen in mir wachgerufen, den der Alltagstrott lange Zeit zum Schweigen gebracht hatte. Nun meldet er sich zurück. »Ich will, dass wir nicht nur Träume haben, sondern sie auch umsetzen.«

»An mir liegt es nicht«, erwidert sie bloß. Damit ist es beschlossene Sache, so als hätten wir nur Wochen vorher darüber sprechen müssen. Wir kehren zurück. Wir ziehen auf die Insel.

In den Tagen und Wochen nach diesem Abend fühle ich mich beschwingt, auf eine Art über den Dingen stehend wie ein Superheld, dem nichts und niemand etwas anhaben kann. Auch wenn uns zwischendurch immer wieder Zweifel kommen.

»Überlege mal, was wir alles organisieren müssten.« Mal ist es Nina, die ihre Scheu äußert, mal bin ich es. Es gibt so vieles zu beachten, bis man dem deutschen Alltag entronnen ist – die Wohnung muss gekündigt werden, die Möbel untergestellt, das Auto verkauft, Telefon und Strom abgeschaltet. Bequem ist das nicht. Und das sind nur die Dinge, die uns hier erwarten.

Ist das erledigt, gibt es Abschiedstreffen mit Freunden, mit Nachbarn, mit Kollegen. Verwandtschaft ganz zum Schluss. Und alle werden sie fragen: »Was macht ihr da den ganzen Tag? Wird einem da nicht langweilig? Stumpft man da nicht ab?«

Gegenfrage: »Was macht ihr hier in Deutschland den ganzen Tag? Wird einem da nicht langweilig? Stumpft man da nicht ab?«

An einem schicksalsträchtigen Abend einige unnütze Wochen später, in denen ich sehr oft ins Fenster des Reisebüros gestarrt habe: Nina knallt sich zu mir aufs Sofa, wirft sich regelrecht auf mich und sagt: »Es kann so nicht weitergehen. Wir planen das jetzt endlich, anstatt uns nur auszumalen, was getan werden müsste. Mein Vertrag läuft eh bald aus.«

Nina ist nicht verbeamtet, in diesem Fall gar nicht so schlecht. Ich dagegen muss kündigen, was dem Chefredakteur vermutlich gar nicht schmecken wird. Was soll’s? Wir machen Nägel mit Köpfen. Erstaunlich, wie leicht das plötzlich geht.

Ich bin aufgeregt, als ich meinen Chef zum Geständnis im Biergarten treffe. Die Fassungslosigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben, und er muss erst mal einen tiefen Schluck Weizen nehmen, bevor er etwas sagen kann.

»Ihr meint das schon ernst, oder?« Ich nicke. Er nickt. »Okay. Einsame Insel, ja?« Wieder nicke ich. »Ein ganzes Jahr lang?«

»Jep.«

Mein Noch-Chef schüttelt den Kopf, trinkt noch einen Schluck. Dann nickt auch er. Ich dürfe mich gern wieder melden nach meiner Rückkehr, sagt er.

»Danke«, entgegne ich artig und freue mich wie ein Honigkuchenpferd. Die Vorstellung, nach unserem Ausstiegsjahr wieder für einen Job infrage zu kommen, gibt mir Sicherheit. Trotz unseres Vorhabens, das in den Augen der meisten Menschen reiner Abenteuerlust entspringt, legen Nina und ich großen Wert auf Sicherheit. Es ist eben nicht die Lust am Risiko, die uns auf eine einsame Insel treibt, sondern das Wissen, dass es uns dort besser geht, dass es das ist, was wir gerade brauchen. Dennoch ist es schön, zurückkehren zu können, falls es in die Hose geht.

Als ich nach Hause komme, sehe ich, dass Nina schon erste Umzugskartons vollgepackt hat, die wir bei unseren Familien unterstellen werden.

Ich grinse und rufe ihr zu: »Frei. Wir sind frei!«

Eine Insel nur für uns

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