Читать книгу Eine Insel nur für uns - Nina Hoffmann - Страница 12
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Im Dorf
Als ich auf der Alo’ofa aufwache, fünf Stunden später, stelle ich fest, dass wir in ruhigeres Fahrwasser vorgedrungen sind. Mir ist kaum noch mulmig. Das Brummen des Dieselmotors übertönt das Meer, die Wellen sind abgeflacht. Sione hat die Plastikplane an der Reling nach oben geklappt. Die Nacht ist noch schwarz, aber der Himmel klart auf. Ein Fährmann wirft einen Eimer ins Meer und zieht ihn gefüllt mit Wasser an einem Seil wieder herauf. Er kippt es über die Stellen, an denen Passagiere den Weg bis zur Reling nicht rechtzeitig geschafft haben.
In der Ferne erkenne ich einen dunklen Umriss: die erste Insel auf der Zickzackroute durch die vielen Archipele. Der Junge auf dem Boden, der sich meinen Rucksack als Kopfkissen herangezogen hat, sieht, dass ich aufgewacht bin und auf den Horizont schaue.
»Auf dieser Insel wohne ich«, sagt er und zeigt auf die Umrisse der ersten Palmen, die sich in der Nacht abzeichnen, und dann in den Himmel auf die Venus, die fast so hell leuchtet wie sonst der Vollmond.
»Kennst du diesen Stern?«, fragt er. »Wir nennen ihn Daystar.«
Auf der Insel des Jungen werde ich versuchen, einen Fischer dazu zu überreden, mich zur einsamen Insel zu bringen und dort mit mir zu übernachten. Am nächsten Morgen kann er mich wieder zur Kirchenfähre bringen, die sich dann auf ihrer Route zurück nach Nuku’alofa befindet.
Als die Sonne im Osten aufgeht, erkenne ich weitere Einzelheiten der angesteuerten Insel, links einen Hügel, rechts einen Hügel, die Mitte ist flach. Das Meer ist hier im Schutz der Inseln ruhiger. Am Himmel stehen nach dem starken Regen der Nacht nur noch einzelne Wolken, das Blau wird sich durchsetzen.
Einer meiner Sitznachbarn fragt mich, wo ich hinwill. Es sei selten, dass ein Palangi mit der Kirchenfähre verkehrt. Ich erzähle ihm von Ninas und meinem Traum und dass ich auf dem Weg zu unserer neuen Bleibe bin.
»Kennst du jemanden hier?«, will er wissen. Als ich verneine und selbst ein wenig ernüchtert bin, dass ich auf eine Insel fahre mit ein paar Dutzend Einwohnern, von denen ich keinen einzigen kenne, sagt er: »Du kannst bei meiner Familie im Haus übernachten.«
Insgeheim hatte ich mir gewünscht, Gastfreundschaft zu erfahren, obwohl ich unangekündigt an einem Ort auftauche, von wo aus man nicht so einfach weiterkommt. Ich musste sie quasi voraussetzen. Aber dass ich sogar noch vor der Ankunft zum Bleiben eingeladen werde, freut mich sehr, und ich willige ein. Die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf ergreifen – so langsam bekomme ich Übung darin.
Mein Sitznachbar heißt Salesi. Er ist etwa dreißig Jahre alt und übergewichtig, wie fast alle Insulaner. In der Südsee verlieh Körperfülle lange Zeit Bedeutung und Ansehen, teilweise ist das auch heute noch so. Der vormalige König wog zu Bestzeiten mehr als zweihundert Kilo.
Salesi bringt nur gut die Hälfte auf die Waage und ist ganz und gar untypisch gekleidet für die Gegend. Er trägt eine Jamaica-Mütze und ein Basketballtrikot der Los Angeles Lakers, dazu eine weite Rapperhose bis über die Knie und strahlend weiße Nike-Sportschuhe mit strahlend weißen Socken darin. Salesi hat eine Zeit lang in den Staaten gelebt, das ist offensichtlich.
»In Los Angeles«, erzählt er stolz, im Stadtteil Inglewood. Ich erschrecke, denn Inglewood ist als Ghetto bekannt. Wie ich erfahre, werden Salesis Frau und Tochter im Februar zurück nach L.A. gehen. Kaum vorstellbar, dass jemand das Südseeparadies gegen bandenbeherrschten Großstadtmuff tauschen möchte. Doch natürlich ist mein Blick auf Tonga der eines geblendeten Touristen.
»Ich selbst bleibe hier«, murmelt Salesi, und ich erkundige mich, warum. »Ich darf nicht einreisen.«
Ich traue mich nicht, nach dem Warum zu fragen. Seit Nina und ich in Tonga sind, haben wir schon einige Geschichten gehört über Tongaer, die ihr Glück in Kalifornien suchen. Die meisten wollen weg von hier. Wie extrem diese Entwicklung ist, lässt sich an der Einwohnerzahl Tongas ablesen. Hunderttausend Menschen leben noch im Königreich, mehr als zwei Drittel auf der Hauptinsel. Hunderttausend Tongaer leben »oversea«, wo alles besser sein soll und wo alles besser ist, wie jene behaupten, die zurückkehren. Vielleicht ist es das Phänomen vom Gras, das auf der anderen Seite eben immer grüner ist. Mir bleibt die tongaische Landflucht ein Rätsel.
Ein kleines Holzboot kommt vom Strand herangefahren und schaukelt neben der Alo’ofa im Wasser. Gepäck wird verladen, das kleine Boot fährt zurück, dann kommt es wieder. Die ersten Passagiere steigen um. Wegen des Riffs kann die Alo‘ofa nicht näher an die Insel heranfahren.
Ich verabschiede mich von Sione und klettere mit Salesi auf das flache Holzdach eines zweiten Boots, das zum Abholen der Passagiere gekommen ist.
Kurze Zeit später springe ich an Land, und es fühlt sich so gut an, endlich wieder Sand unter den Füßen zu haben. Erleichtert lasse ich mich auf den Strand fallen, um meine Seekrankheit auszukurieren. Wahnsinn, wie schön es ist, einfach dazuliegen und die Sonne auf der Haut zu spüren.
Ein Schatten fällt auf mein Gesicht. Salesi steht neben mir und beugt sich zu mir herunter.
»Sprich mit niemandem«, flüstert er, bevor er sich umdreht und davonläuft, um seine Familie zu begrüßen. Verwundert blicke ich ihm nach. Was meint er?
Im Dorf herrscht Trubel und schätzungsweise die Hälfte aller Einwohner ist an den Strand gelaufen, um Gäste und Nahrungslieferungen zu empfangen. Männer schleppen Reissäcke, Frauen tragen Mehltüten, Fischer nehmen kleine Kühlboxen entgegen, aus denen sie Eisblöcke in große, leere Kühltruhen umlagern, die zwischen den Palmen stehen. Das ist der Aufbewahrungsort für die Fische, die für den Weiterverkauf vorgesehen sind und die mit der Fähre an den Markt nach Nuku’alofa geliefert werden.
Um die Insel herum sind einige kleine Inseln zu sehen, mit breiten Stränden und vielen Palmen, wunderschöne Orte, und ich sehne mich nach Nina und unserem neuen Zuhause.
Nach einer halben Stunde holt mich Salesi ab und führt mich in das kleine, hübsche Holzhaus seiner Familie. Er hat mich bereits angekündigt, und seine Mutter bereitet eine Mahlzeit für mich vor. Auf einem Tisch wartet ein Teller mit dampfender Languste, zwei kleinen Snappern und einer gekochten Brotfrucht. Salesis Mutter schiebt mir einen Stuhl hin, gibt mir einen Becher voll Salz, wünscht mir guten Appetit und verschwindet im Garten.
Ich bin allein im Raum, dem Wohnzimmer der Familie, das bis auf ein abgesessenes Sofa und den Tisch, an dem ich sitze, völlig leer ist. Vor mir die Languste. Wie soll ich das Ding ohne Besteck essen? Ich beginne mit der Brotfrucht und warte, bis die heiße, rote Schale der Languste etwas abgekühlt ist, bevor ich sie aufbreche und das zarte weiße Fleisch aus dem Schwanz herauspule. Was für ein Frühstück! Obwohl mir die Seekrankheit noch zu schaffen macht, esse ich, so viel ich kann.
Als guter Tongaer müsste ich jetzt ein Nickerchen auf den Flechtmatten machen, die auf dem Boden ausgebreitet sind, stattdessen zieht es mich in den Garten. Salesi hat mir einen Bootsmann angekündigt, der mich weiterbringen kann. Das ist im Augenblick das Wichtigste! In den letzten Monaten habe ich gelernt, alles auszublenden, das nicht mit unserem Ziel, der Insel, zu tun hat, und jetzt bin ich so verdammt nah dran.
Im Garten grillt Salesis Vater, ein lächelnder Mann mit wenigen Zähnen und rundlichem Gesicht, gerade das zweite Frühstück, einen Albacore-Thunfisch, zu Deutsch Weißer Thun, auf einem Wellblech über der Feuerstelle und will mich erneut bewirten. Ich lehne dankend ab, obwohl Albacore auch als »Hähnchen des Meeres« bezeichnet wird und jeder Bissen ein Genuss ist.
Aus meinem Rucksack hole ich zwei große Dosen Corned Beef heraus, die ich extra hierhergeschleppt habe, um mich bei gastfreundlichen Insulanern bedanken zu können. Rotes Fleisch ist auf den Inseln immer begehrt, denn normalerweise liegt hier nur aus dem Meer Gefangenes auf dem Grill. Über das Gesicht von Salesis Vater geht ein Strahlen, als er die Dosen entgegennimmt.
Plötzlich taucht der Junge von der Fähre, der mir die Venus gezeigt hat, im Garten auf, und Salesis Vater schickt ihn auf eine Kokospalme, die er flink wie eine Eidechse hinaufklettert. Mit den Füßen tritt er ein paar grüne Nüsse herunter, klettert hinab und schlägt mir mit einer Machete gekonnt eine auf.
»Kletterst du auch auf die Palmen?«, frage ich Salesis Vater, der tief und laut durch seine paar Zähne lacht.
»Dafür haben wir Kinder«, sagt er.
Endlich trifft der Bootsmann ein, er heißt Ulu, ist 26 Jahre alt, hat auffällig dicke Augenbrauen, kurz geschorene Haare und einen Fünftagebart. Er spricht kaum Englisch, und Salesi übersetzt für ihn. Als er meine beiden Benzinkanister erblickt – das Dreifache der benötigten Spritmenge –, nickt er erfreut und ist innerhalb von zwanzig Minuten startklar.
Dann geschieht, was ich befürchtet habe, weil Nina und ich es schon zu oft erleben mussten: Salesi will Geld.
»Der Ausflug wird dich etwas kosten«, sagt er. Bereits der Reiseführer hatte uns gewarnt: Man könnte den Eindruck gewinnen, dass manch ein Tongaer es am liebsten hätte, wenn man ihm sein Geld in die Hand drückt und wieder zurückfliegt, wo man hergekommen ist, ohne überhaupt den Flughafen zu verlassen.
Salesi nennt seine Forderung eine »Vermittlungsgebühr«, und mir wird klar, warum ich nicht mit anderen sprechen sollte – wie leicht hätte mein Geld dann in anderer Tasche landen können.
Ich knirsche mit den Zähnen, beuge mich aber Salesis Willen, um nicht am nächsten Tag unverrichteter Dinge mit der Alo’ofa zurück nach Tongatapu fahren zu müssen. Doch ich lasse mir nicht alle Asse aus dem Ärmel ziehen.
»Ich zahle erst danach«, stelle ich klar.