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Fährfahrt
Die Reise ins Paradies führt durch die Hölle und leider vorbei an jeder Menge Schiffswracks. Es ist früher Abend, die Dunkelheit bricht bereits über den Hafen herein. Bei Tageslicht haben wir von hier aus noch die Bananenstauden und die hochgewachsenen Palmen entlang der Küstenstraße gesehen. Das türkisblaue Meer machte die Umgebung zusammen mit dem Sonnenschein extra grell und nur mit Sonnenbrille genießbar.
Jetzt, um diese Uhrzeit, ist die Südsee verschwunden. Der Himmel ist bewölkt, auch Sterne und Mond spenden kein Licht.
Nuku’alofa heißt der Ort, in dem wir uns befinden – per Definition die Hauptstadt Tongas, aber Hauptdorf trifft es besser.
Nuku’alofa weicht in mancher Hinsicht von dem ab, was wir uns unter Südseeidylle vorgestellt haben. Wir reden immerhin vom Garten Eden auf Erden, wie dieses Gebiet mit seinen abertausenden Inseln zwischen Hawaii, Neuseeland und den Osterinseln im Südosten schon vor Jahrhunderten gern beschrieben wurde.
Dagegen ist Nuku’alofas Anblick ernüchternd. Die Stadt wurde nach dem Tod des Königs im Jahr 2006 halb niedergebrannt. Es gab Unruhen, denen die Forderung nach einer demokratischen Zusammensetzung des Parlaments vorausgingen. Geschäfte wurden geplündert und in Brand gesetzt. Das heutige Zentrum, wenn man es so nennen will, besteht vorwiegend aus Zementfundamenten – Reste der Brandruinen. Obwohl die Stadt mit ihren dreißigtausend Einwohnern vergleichsweise klein ist, herrschen Zustände wie in einer Großstadt: Überall liegt Müll herum, es wird mit Drogen gehandelt und gestohlen. Es kommt auch mal vor, dass ein Räuber mit einer Machete bewaffnet die Bank überfällt.
Wenigstens außerhalb der Stadt gibt es schöne Dörfer, Ecken mit unzähligen Mangobäumen und Strände zu entdecken, und die Südsee wird mehr zu dem, was wir zu finden erwartet hatten.
Nuku’alofas Hafen ist ein kleiner Schrottplatz mit einer kleinen Anlegestelle an der Spitze des Piers. Von den abgenutzten Pollern werden nur noch wenige benutzt. Viele Schiffe liegen auf Grund, Bugspitzen ragen mahnend aus dem Wasser.
»Ob das eine so gute Idee ist?«, höre ich Nina fragen, die erschüttert zu den Wracks hinüberschaut.
»Ich weiß auch nicht so recht«, sage ich.
Der Mietwagen steht außerhalb des Hafengeländes, und wir gehen die restlichen Meter zu Fuß. Unbequem mit den Badelatschen, weil wir ständig in das nächste Schlagloch treten. Schweiß tropft uns von den Augenbrauen, die Luft ist feucht und salzig. Sunday hechelt.
Das einzige Schiff unter dem Dutzend, an dem der Lack hält, ist die hellblau gestrichene Alo’ofa. »Liebe« heißt das. Sie macht einen heruntergekommenen Eindruck. Das Boot liegt am Ende des Piers, etwa fünfzig Menschen haben sich in einer Gruppe versammelt und stehen vor einem Absperrband. Ein Scheinwerfer, der an einen Generator angeschlossen ist, beleuchtet die Schotterfläche vor der kleinen Fähre. Nina stellt den Rucksack ab, der für ihre zierliche Gestalt deutlich zu schwer gepackt ist, und ich stelle die Kanister Benzin dazu.
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen und beginne zu begreifen, zu welcher Herausforderung ich heute antreten werde. Wenn ich auf das dunkle Meer hinausschaue, erkenne ich überall weiße Schaumkronen auf den Wellen.
Mir bleibt keine Wahl. Eine Fahrt mit diesem Boot ist die einzige Möglichkeit, an den Ort zu gelangen, der für das nächste Jahr unsere kleine Traumwelt werden soll – irgendwo mitten im Nichts, in tiefster polynesischer Einsamkeit.
Es wird ein Island-Hopping der anstrengenden Art, die Nacht hindurch, mit mehreren Stopps. Die einsame Insel selbst kann ich mit der Fähre nicht direkt erreichen; ich bin auf einen Fischer angewiesen, der mich von der nächstgelegenen bewohnten Insel dorthin bringt. Für die paar Seemeilen brauche ich so lange wie im Flieger um die ganze Welt.
Nina wird mit Sunday in Nuku’alofa warten und mit den Einkäufen für die ersten Monate auf unserer Insel beginnen, bis ich von der Erkundung zurückkomme und herausgefunden habe, was uns erwartet.
Wir verschaffen uns einen Überblick im Gewusel. Die Leute stapeln Unmengen Gepäck, manche haben Säcke mit Tarowurzeln dabei, eine Frau einen Plastikweihnachtsbaum mit Lichterkette. Viele von ihnen zieht es schon jetzt, Mitte November, zu ihren Familien auf die abgeschiedenen Inseln. Fernab jedes Einkaufsmarkts werden sie die Weihnachtszeit dort verbringen.
Sione, der Mann von der Fähre, erkennt uns wieder. Er ruft unsere Namen über die Köpfe hinweg und winkt uns zu sich. Wir sind in der Menge die einzigen Palangis, wie Weiße im Südseekönigreich von allen genannt werden, und leicht zu erkennen.
»Adrian, bist du startklar?«, fragt er, als wir vor ihm stehen.
Bin ich das?
»Ich denke schon.«
In den ersten beiden Monaten in Tonga hatten wir vergeblich versucht, die abgelegenen Inselgebiete zu erreichen, die uns am meisten interessierten. Die Segler, die wir trafen, lehnten unsere Anfragen nach einem Transfer von vornherein ab. Mit Fischern lief es nicht besser. Wir waren der Verzweiflung nahe. Sione half uns. Als wir ihn kennenlernten, hangelte er sich gerade barfuß von einem benachbarten Wrack über eine Maurerdiele auf die Alo’ofa hinüber, hopste über die Kluft zwischen Schiff und Pier zu mir, blickte mich mit seinen kokosnussbraunen Augen an und antwortete auf meine Frage, die ich ihm schon von Weitem zugerufen hatte: »Yes, my friend.«
Wie sich herausstellte, ist Sione ein wahrer Seenomade. Einer, der alle Inselchen am Ende der Welt kennt. Er ist 44 Jahre alt und verbringt sein Leben ausschließlich auf Booten. Auf der Alo’ofa arbeitet er als eine Art Verwalter, im benachbarten Schiffswrack wohnt er.
Es wird ernst, ich gebe Nina einen Abschiedskuss, von dem sie sich kaum lösen kann, und tätschle Sunday über den Kopf.
»Das klappt schon alles«, flüstere ich Nina ins Ohr. Sie nickt, sagt aber nichts.
Sione weist mich über einen schmalen Balken ins Boot. Bevor ich mir einen Platz suche und Sione zurück an seine Arbeit lasse, frage ich ihn: »Wird es sehr schlimm?«
Er antwortet sehr untypisch für die meisten Tongaer, die allzu gern sagen, was man hören will: »Es wird rau.« Ich hatte es geahnt.
Die Alo’ofa ist in Wahrheit nur ein ehemaliger Fischkutter mit einer überdachten Außenfläche. Innen finden Passagiere keinen Platz. Ich setze mich auf eine schmale Holzbank an der Seite, von wo aus ich nach vorne schauen kann, wo die meisten Leute sind. Sie legen sich auf den Schiffsboden und verwenden ihre Gepäckstücke als Kopfkissen. Ein Mann, in Schwarz gekleidet und eine Flechtmatte aus getrockneten Pandanusblättern um die Hüfte geschwungen, stellt sich vor die Passagiere und beginnt, auf Tongaisch zu sprechen.
»Das ist der Pfarrer«, sagt mir einer der Bootsangestellten. »Er betet für eine sichere Überfahrt.«
Wir legen ab, ich sehe Nina am Pier stehen, im warmen Regenschleier der Nacht, und wir winken uns ein letztes Mal zu.
Jetzt, so kurz nach dem Aufbruch, wirkt alles sehr unwirklich. In weiser Voraussicht hat Nina mir vor Antritt der Fährfahrt ein paar Tabletten gegen Seekrankheit in die Hand gedrückt, besonders hohe Dosis, von denen wir eine ganze Reihe von Packungen aus Deutschland mitgenommen haben. Mit einem Schluck Wasser spüle ich die erste Pille hinunter.
»Was ist das?«, fragt ein Junge, der mich dabei beobachtet.
»Das hilft gegen Seekrankheit«, antworte ich.
»Kann ich auch eine haben?«
»Klar«, sage ich und gebe ihm statt einer Tablette lieber ein Reisekaugummi. Die sind auch ganz gut; vor allem prophylaktisch für Jungs.
Die Alo’ofa tuckert an den ersten kleinen Inseln vorbei, die wenige Kilometer vor Tongas Hauptinsel Tongatapu liegen und deren Umrisse ich, obwohl wir ihnen jetzt so nahe sind, kaum noch wahrnehme im Schwarz der Nacht. Von hier aus begibt sich unser Boot hinaus ins offene Meer.
Ohne eine Phase der Eingewöhnung beginnt die Passage, auf die jeder im Schiff verzichten könnte. Meterhohe Wellen, die ich mehr erahnen als sehen kann, türmen sich vor uns auf. Ich beschäftige mich eingehend damit, mich auf einen Punkt außerhalb des Bootes zu konzentrieren. Allerdings weiß ich nicht, welchen ich nehmen soll, es stehen nicht viele zur Auswahl, und so blicke ich zurück in Richtung Tongatapu, wo ein Licht in einem spärlich ausgestatteten Südseeleuchtturm brennt – eine Lampe auf einem Metallmast.
Minuten später ist auch dieses Licht verschwunden, und ich suche vergeblich nach Halt am Horizont. Es gibt nur noch Dunkelheit. Die Alo’ofa schaukelt auf und ab, manchmal spritzt ein Schwall Wasser vom Bug bis in den Seitengang. Die Plastikplane über der Reling, die Sione nach einer Stunde Fahrt herabgelassen hat, und selbst meine Regenjacke bieten nach einer Weile keinen Schutz mehr vor den Wellen. Mir ist kalt, ich bin nass bis auf die Unterhose. Entnervt drehe ich mich zur Seite, den Blick stur auf Ölfässer gerichtet, die im hinteren Teil des Schiffes stehen. So bekommt nur noch mein Rücken das Wasser ab und die Kapuze meiner Jacke und es rinnt mir nicht mehr über Gesicht und Kinn in den Kragen.
Die Tablette bewirkt, dass ich schläfrig werde, meine Angst vergesse und dem Verlangen nach Schlaf gern nachgeben würde. Aber ich habe einen denkbar schlechten Sitzplatz, bin eingequetscht zwischen zwei dicken Männern. Der Kaugummi-Junge liegt zu meinen Füßen und hat sich eine Decke bis übers Gesicht gezogen, nur seine Augen blicken hervor.
»Schmeckt ganz gut«, sagt er. »Ich glaube, es hilft.«
Auch bei mir wirkt die Tablette eine ganze Weile, und ich hoffe, die Fahrt verhältnismäßig gut zu überstehen. Aber, das war klar, plötzlich ist mir doch speiübel. Ich greife nach der Reling, wanke nach hinten zu den Ölfässern. Gegenüber befindet sich die sogenannte Toilette. Ich schiebe die Holzplatte zur Seite, die als Tür gedacht ist, und stürze voller Dankbarkeit, die Schüssel erreicht zu haben, hinein.
Wie ich erst jetzt bemerke, sitze ich schon die ganze Zeit vor dem Seitenfenster der Toilette, weshalb mir die gesamte Höllenfahrt über der Geruch von Urin in die Nase steigt. Nach dieser ersten Sitzung beschließe ich, fortan zur Reling zu gehen, was auf lange Sicht humaner ist als die Toilettenkabine, in der sich auf dem Boden Salzwasser mit Allerlei vermischt.
Als ich in meine gequetschte Position zurückgekehrt bin, beobachte ich, dass auch andere Passagiere die Reling nutzen, um überflüssigen Mageninhalt loszuwerden. Sie klappen die Plastikplane einen Spalt nach oben und recken ihre Köpfe hindurch in Wind und Wellen.
»Wie geht’s dir?«, fragt der Junge besorgt.
»Ist okay«, lüge ich.
Der Regen wird in der Nacht noch stärker, die Wellen werden noch höher, und nach jedem Kamm beginnt eine steile Talfahrt. Ich frage mich, ob das Gepäck, das im unteren Bugraum verstaut liegt, nicht vielleicht doch zu schwer ist, um die Alo’ofa heil zum nächsten Flecken Land zu bringen.
Immer, wenn wieder Leute zur Reling laufen und zurück oder die nächste Welle reinschwappt, schrecke ich vom Dösen hoch. Die nassen Klamotten auf der Haut sind ungemütlich und sie werden in dieser Nacht nicht mehr trocknen.
Eigentlich soll ich erst acht Stunden, nachdem ich die erste Tablette eingenommen habe, die zweite nehmen. Aber ich entscheide mich für zwei Stunden früher, es ist kurz nach Mitternacht. Ich krame irgendwie die Flasche Wasser aus dem Rucksack, wofür ich den schlafenden Jungen wecken muss, der ihn als Kopfkissen benutzt, und werfe die nächste Tablette ein.
»Kann ich noch ein Kaugummi haben?«
Ich reiche es ihm wortlos. Seekrank sein ist wie sterben.
Obwohl ich mir die Antwort doch immer wieder längst gegeben habe, frage ich mich: Ist es wirklich das Richtige, was wir tun? War es klug, daheim die Wohnung aufzulösen und die Jobs aufzugeben? Für was? Für einen verrückten Traum? Eine Idee, die sich vielleicht gar nicht so verwirklichen lässt, wie wir uns das vorstellen? Was haben wir davon? Ich habe keine Antworten, ich sitze in einem Boot und mir dreht sich der Kopf.
Es gibt einen Zeitpunkt in jener Nacht, an dem ich aufgehört habe, das Ende der Fahrt herbeizusehnen. Mir ist jegliches Zeitgefühl verloren gegangen. Wenn mir jemand erzählen würde, wir seien schon Tage unterwegs, und ich hätte keine Uhr auf dem Handydisplay, würde ich es glauben.
Die Alo’ofa treibt in den Wellen wie eine Flaschenpost, die niemals irgendwo ankommt. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass wir uns voranbewegen. Mittlerweile wäre es mir selbst egal, wenn ich im Halbschlaf von der Bank auf den Boden rutschte und von dort unter der Reling hindurch in die Tiefe. Hauptsache, die Augen schließen sich, ohne dass sich gleich alles dreht im Kopf. Endlich übermannt mich die zweite Tablette.