Читать книгу Das Lachen der Yanomami - Nina Hutzfeldt - Страница 12
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ОглавлениеNorthumberland, 2014
Die Nächte waren am schlimmsten.
Immer ließen Träume mich am Leben meiner Mutter teilhaben. Ich beobachtete sie, während sie ruhig in ihrem Bett schlief, wachte über sie, wenn sie krank war und tröstete sie, wenn sie Kummer hatte. Und nun, wo ich vor Trauer sterben wollte, kam sie nicht zurück. Und in der Nacht kamen die Dämonen der Vergangenheit und schlichen sich im Kreis um mein Bett herum an mich an. Ich spürte deutlich die Angst in meinen Gliedern und wünschte mich in die Arme meiner Mutter. Ich suchte sie und rief nach ihr, doch sie kam nie. Wenn ich dann aufwachte, musste ich traurig feststellen, dass sich nichts geändert hatte. Meine Mutter war immer noch verstorben und ich war immer noch im nördlichen England, um mich zu erholen. Eine Träne verlor sich auf meiner Wange.
Die Tage zogen wie ein immer wiederkehrender Zug an mir vorbei. Die Trauer hätte meinen Tag bestimmt, wenn nicht Christopher die Lücke in meinem Leben ein wenig erhellt hätte. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich allein auf dieser Welt. Aber dem war nicht so, denn auch meine Freundin Mareike war immer für mich da.
Plötzlich schreckte ich hoch. Mareike! Ich hatte sie völlig vergessen. Die letzten Tage mit Christopher hatten mich so in Beschlag genommen, dass alles andere um mich herum nicht mehr wichtig war.
Gleich nach dem Frühstück versuchte ich, Mareike anzurufen, aber niemand hob ab. Ich schrieb ihr eine WhatsApp, damit sie auf dem Laufenden blieb. Schließlich hatte ich mich noch gar nicht bei ihr gemeldet. Eigentlich benutzte ich WhatsApp nur für Kurznachrichten, aber heute schrieb ich einen ganzen Roman. Es sollte nachher nicht heißen, ich hätte mich nicht bei Mareike gemeldet. Ich ging in den Garten und setzte mich auf die schmiedeeiserne Bank unter dem Apfelbaum und blickte zu der zugewachsenen Eisenpforte. Seit ich wusste, dass dort die Pforte stand, war meine Neugier kaum noch zu bändigen. Ich konnte meine Augen einfach nicht abwenden und stellte mir die grauenvollsten Dinge dahinter vor. Meine Phantasie war sehr lebhaft und ich konnte gute Geschichten erfinden, wenn ich wollte. Aber dies hier war keine meiner erfundenen Geschichten, dies war die Wirklichkeit und ich war mittendrin.
»Guten Morgen, Mrs. Grewe«, sagte eine Frauenstimme, die mich erstarren ließ.
Als ich mich umdrehte, sah ich in die wasserblauen Augen von Sophia.
»Oh, guten Morgen«, erwiderte ich ihren Gruß.
Sie sah aus, als hätte sie nicht gut schlafen.
»Ein herrlicher Morgen«, unterbrach ich die aufkommende Stille.
Sie stand einfach nur da und blickte mich strafend an. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, warum sie zu mir gekommen war. Sicher nicht, um mir einen schönen Tag zu wünschen. Innerlich zuckte ich mit den Achseln und fragte mich, was ich für sie tun könnte.
»Das stimmt.« Sophia blickte zum Himmel. Langsam schritt sie um die Bank herum.
»Wissen Sie, diese Bank hat schon vieles mitansehen müssen.« Dabei strich sie mit ihrer glatten Hand über die kunstvolle Lehne.
»Aha«, murmelte ich. Was sollte ich sonst sagen.
»Wenn Sie reden könnte, dann wäre sie die Kronzeugin in einem Fall.«
»Warum erzählen Sie mir das Mrs. Collins?« Mein Herzschlag wurde lauter.
»Ich habe Sie mit meinem Ehemann gesehen. Es hat mir nicht gefallen.«
»Aber Sie sind doch gar nicht mehr zusammen.« Ich rutschte in die andere Ecke.
»Hat er Ihnen das erzählt?« Sie ging weiter und lachte höhnisch.
Bitte, warum kam mir keiner zur Hilfe? Mir lief ein Schauer den Rücken hinab.
»Wir haben uns vor Jahren das Eheversprechen gegeben. Wir haben glückliche Zeiten und auch die schlechten Zeiten miteinander geteilt. Wir teilen tolle Neuigkeiten und schmutzige Geheimnisse. Ich freue mich über jeden Gast, aber ich hasse es, wenn jemand auf dem Grundstück herumschnüffelt und sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt.«
»Um Gottes Willen. Ich möchte mich nicht einmischen«, sagte ich schnell, denn ich konnte die feurigen Flammen in ihren Augen sehen, den Augen, die so freundlich gewirkt hatten.
»Gut, dann wäre ja alles geklärt.« Danach stolzierte sie wie ein schwebender Schwan über den Rasen zum Haus zurück. Ich war verwirrt. Warum hatte sie mir erzählt, dass sie und Christopher noch ein Paar wären? Natürlich waren sie verheiratet und somit in einer Weise verbunden, die nur verheiratete Paare nachvollziehen können. Aber Christopher hatte klar gesagt, dass es für die beiden keine Zukunft mehr gebe.
Ich beschloss, aufzustehen und es mir in meinem Zimmer gemütlich zu machen. Das Wetter war viel zu schön dafür, aber es schien mir vernünftig zu sein. So konnte ich Christopher ausweichen, ohne ihn zu verletzen.
Die Tage vergingen viel zu schnell und die Lesung meines Vaters stand unmittelbar vor der Tür.
An diesem Tag verschlief ich und das Aufstehen fiel mir besonders schwer.
Beim Frühstück bekam ich keinen Bissen runter, denn in meinem Magen rumorte es wie auf einer Baustelle. Als ich zum Haus schaute, konnte ich Sophia sehen. Es sah aus, als würde sie mich beobachten, aber vielleicht sah sie auch einfach nur aus dem Fenster.
Die letzten Tage hatte zumindest ich einfach nur aus dem Fenster gesehen. Von meinem Zimmerfenster aus hatte ich einen wunderschönen Blick. Ich beobachtete Christopher, wie er die Blumen versorgte und den Rasen mähte. Ich machte mir Gedanken über unsere Beziehung. Hoffentlich war er mir nicht böse, denn ich hatte ihm viel zu verdanken. Ich konnte mir nicht ausmalen, was er über mich dachte. Urplötzlich war ich aus seinem Leben verschwunden. Doch heute war ich auf ihn angewiesen und musste wie ein räudiger Köter an seiner Tür kratzen.
Ich klopfte erst einmal und dann ein zweites Mal.
»Ist wohl keiner da, hä?«, sagte eine Stimme hinter mir.
»Sieht wohl so aus«, sagte ich und wandte mich um. Ein Lächeln umspielte meine Lippen.
»Tja, ich hatte mich schon gefragt, was ich verbrochen habe.« Mit der rechten Hand hielt Christopher die Harke, während er die andere in seine Hüfte stemmte.
»Ja, es tut mir auch sehr leid.« Ich kratze mich am Kopf. Was sollte ich sagen?
Unbewusst fühlte ich, dass die Wahrheit das Beste wäre.
»Vor ein paar Tagen hatte ich Besuch von Sophia.«
Christopher runzelte fragend die Stirn. »Und?«
»Sie bat mich, nicht herumzuschnüffeln und mich von dir fernzuhalten.«
»Das gibt es doch nicht. Hast du denn irgendetwas getan, was sie skeptisch gemacht haben könnte?«
»Na ja, es könnte sein, dass sie mich beobachtet hat. An dem Tag, als du mir die Karte von dem Grundstück gezeigt hast und dieser geheimnisvollen Hütte.«
»Oh je. Warst du bei der Hütte?« Christopher lehnte die Harke gegen die Hauswand und rieb sich die Stirn.
»Leider kam ich nicht weit, weil eine Rosenhecke mir den Weg versperrt hat«, sagte ich in einem Ton, den nur eine Vorgesetzte anschlagen konnte – oder eine Lehrerin wie ich.
Christopher runzelte wieder die Stirn. »Okay, hätte ich sie wegnehmen sollen?«
»Nein.« Ich winkte ab. »Ich war nur überrascht wegen der Pforte. Weißt du denn gar nicht, dass die dort ist?« Ich legte mir meine Hände auf den Bauch.
»Doch, natürlich. Als wir das Haus kauften, war die Hecke mehrere Jahre alt. Samuel Bradford war urplötzlich verstorben und seine beiden Kinder wollten das Haus ziemlich schnell verkaufen. Aber es gab familiäre Probleme und deshalb behielten sie es noch einige Jahre, bis wir den Kaufvertrag unterzeichnen konnten.«
»Also denkst du, die Kinder haben die Hecke gepflanzt?«
»Könnte sein. Es ist mir aber reichlich egal. Ich finde sie einfach wunderschön und würde sie um keinen Preis wegnehmen wollen. Wir würden ein Stück Natur beschädigen.«
Am liebsten hätte ich laut gelacht: ein Stück Natur beschädigen. Überall auf der Welt wird die Natur von den Menschen verletzt und es kümmert niemanden. Und ich wollte einfach nur eine Pforte passieren. »Okay«, willigte ich dennoch ein.
Christopher schaute auf seine Uhr. »Wir müssen bald los, wenn wir nicht zu spät bei der Lesung erscheinen wollen.«
»Ja, deswegen bin ich hier. Fährst du immer noch mit mir zur Lesung? Ich meine, jetzt da ich dich die letzten Tage nicht an meinem Leben teilhaben ließ?«
»Aber natürlich. Du kannst ja nichts für meine Frau. Sie möchte alles haben, aber sie merkt nicht, wie sehr sie die Menschen mit ihrem Verhalten verletzt.«
»Mich hat sie eher gegruselt«, gab ich zu und legte mir die Arme um den Körper.
»Na dann. Wie hat dir eigentlich das Buch gefallen?«
»Stimmt, das wollte ich dir noch sagen. Es war toll. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen. Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Es ist noch in meinem Zimmer. Ich muss sowieso nochmal hoch, weil ich den Brief mitnehmen möchte.«
»Ja, das ist eine gute Idee.« Christopher ging zur Haustür und schloss sie auf. »Ich gehe mich jetzt frisch machen. Sagen wir, wir treffen uns in einer Stunde wieder hier. Dann fahren wir gemütlich los und können vor Ort noch etwas essen.«
»Das hört sich gut an.« Ein leichter Windhauch ließ meine Haare in alle Richtungen fliegen. Ich blickte Christopher nach, als er die Tür schloss und sein Umriss hinter dem milchigen Fenster in der Tür kleiner wurde, bis er in einem anderen Raum verschwand.
Als ich in meinem Zimmer angekommen war, wurde mir schnell klar, dass mir nicht viel Zeit blieb, denn eine Stunde hatte schließlich nur sechzig Minuten oder dreitausendsechshundert Sekunden. Ich zog mich rasch aus und schlüpfte in die Duschkabine. Das Wasser war so wunderbar warm, dass ich am liebsten einfach unter der Brause geblieben wäre. Doch da musste ich wieder an die Uhr denken. Die Zeit wartete nicht auf mich. Sie war der Grund, warum Menschen immer gehetzt und gestresst waren. Wie oft am Tag schaute man auf die Uhr? Ohne die Zeit würde unsere Welt im Chaos versinken. Früher gab es keine Uhren, da ging man nach dem Aufstehen zur Arbeit und machte sich erst beim Sonnenuntergang auf den Rückweg. Aber heute wäre ein Leben ohne Uhr nicht mehr vorstellbar.
Mit dem Handtuch rubbelte ich mir den Rücken trocken und begutachtete mich im Spiegel. Ein bisschen Rouge würde meiner fahlen Haut nicht schaden, dachte ich, und packte meine wenigen Schminksachen aus. Lippenstift, ein wenig Wimperntusche und Rouge. Fertig war mein Ausgehgesicht. Während ich in den Spiegel schaute, dachte ich an meine Schülerinnen. Ich hatte einige Mädchen in meiner Klasse, die schon mit vierzehn Jahren voll geschminkt waren. Sie trugen so dickes Make-up, dass man meinen könnte, sie wären im Kunstunterricht in den Tuschkasten gefallen.
Ich entschied mich für ein weißes Kleid mit roten Punkten darauf. Dazu farblich abgestimmt ein breiter Gürtel und Ballerinas. In eine kleine Tasche packte ich alle Sachen, die in dem Karton waren, inklusive dem Buch von George Preston. Aufregung pur stand mir ins Gesicht geschrieben.
Ich war als erste am Treffpunkt und drehte mich immer hin und her, so dass mein Kleid sich merklich in die Lüfte hob. Wenn jetzt ein starker Windhauch käme, dann könnte ich mich als eine neue Marilyn Monroe verkaufen.
Christopher führte mich zu einem Land Rover, der perfekt zu seinem legeren Outfit passte.
Während der Fahrt schwiegen wir. Ich blickte aus dem Fenster und staunte über die Weiten, die sich bis zum Meer hin erstreckten. Es war ein atemberaubender Anblick.
Als wir uns Alnwick näherten, kam das prächtige Alnwick Castle in unser Blickfeld.
In seiner beeindruckenden Größe und Schönheit reckte es sich uns entgegen. Ich war so fasziniert von diesem Schloss, dass ich am liebsten weitergefahren wäre, um es zu besichtigen. Aber diese Faszination und die Neugier auf das Innere wollte ich mir für die Klassenfahrt mit meinen Schülern in ein paar Wochen aufheben.
Wir hielten in einer schmalen Straße, in der sich die Autos dicht an dicht an den Straßenrand quetschten. Ein Laden schmiegte sich an den nächsten. In den meisten Schaufenstern hingen große, rote Rabattschilder, von denen die jeweiligen Prozente abzulesen waren.
»So, wir sind da.« Christopher drehte den Zündschlüssel und schnallte sich ab. »Bist du bereit?« Er lächelte mich an und dann spürte ich plötzlich seine Hand an meiner Wange. »Du schaffst das. Wir sind jetzt schon so weit gekommen.«
Christopher fand genau die passenden Worte zu meiner Situation. Mein Herz pochte so laut, dass ich nur hoffte, ich würde die kommenden Stunden überleben.
»Wollten wir nicht noch etwas essen gehen?«, fragte ich.
»Ja, aber natürlich.« Christopher war perplex. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich die Situation so schnell beenden würde.
»Wo willst du denn essen gehen? Ich hätte Appetit auf Pizza.«
Wieso war mir diese Situation mit seiner Hand auf meiner Wange so unangenehm gewesen? Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen, dass ein netter Mann mir nahe sein möchte. Vielleicht war es die heranrollende Nervosität wegen meines Vaters.