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London, 2014

Der graue Dunst legte sich wie eine dicke Wolke auf die Stadt und machte ihr das Atmen schwer. Ich liebte die graue Welt von London, obwohl es auch genügend sonnige Tage dort gab. Oft habe ich Klassenfahrten nach London organisiert und schon in vielen der eleganten Londoner Hotels gewohnt. Die Stadt war mir also bekannt.

Nie zuvor war es mir jedoch ein Anliegen gewesen, Clark Owen kennenzulernen. Mehr als tausend Fragen dazu verfingen sich wie ein Wollknäuel in meinem Kopf. In meiner Tasche brannte der Brief. Er war der Schlüssel zu meiner Herkunft.

Ich atmete noch einmal tief durch.

Natürlich kannte ich nicht jeden Winkel dieser wunderschönen Stadt, aber ich bemühte mich, allein zurechtzukommen. Unter dem Terminal 5 befand sich die Subway-Station von Heathrow. Dort stieg ich in die Piccadilly Line ein. Ich musste meinen Arm ganz lang machen, um an einen der Handgriffe an der oberen Stange heranzukommen. Links und rechts quetschten sich Männer und Frauen an mir vorbei. Viele Geschäftsleute mit Aktentaschen und hektischen Blicken auf ihre Uhren, schlossen sich bei jedem Halt der Subway dem Strom von Menschen an. Ich musste erst am Piccadilly Circus aussteigen und hatte daher Gelegenheit, noch einmal dem Treiben zuzusehen, bevor ich selbst ein Teil davon wurde.

»Zum Glück habe ich meinen Koffer in einem Schließfach auf dem Flughafen gelassen«, dachte ich, als ich mich aus den Klauen der Bahn befreit hatte. Meines Wissens befand sich diese Station fast einunddreißig Meter unter der Erde. Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass all dies von Menschen erschaffen wurde.

Auf der Rolltreppe stellte ich mich ziemlich weit nach rechts, denn für eilige Menschen war die linke Seite reserviert. Ununterbrochen gingen Geschäftsleute oder andere Reisende auf der linken Seite der Rolltreppe hinauf und hinunter.

Das Tageslicht begleitete mich auf den Straßen, bis die Häuser allmählich zu hoch wurden und die Sonne immer wieder für kurze Momente hinter den Mauern verschwand.

Als der Soho Square in Sicht kam, verkrampften sich meine Eingeweide. Meine Atmung wurde schwerer und ich hasste meine Mutter dafür, dass sie jetzt schon von mir gegangen war. »Warum?«, dachte ich und hätte am liebsten wieder losgeheult. Sie war meine engste Vertraute gewesen und hatte mich doch all die Jahre getäuscht.

Bevor ich zu dem Haus ging, in dem mein Vater gewohnt hatte, oder noch wohnte, machte ich noch einen Abstecher in den kleinen Park. Allerdings war hier alles viel größer als bei uns in Schleswig-Holstein. Ich schmunzelte, als ich die vielen Skulpturen von Bruce Denny auf den Grünflächen sah. Besonders »The Conversion of St. Paul« hatte es mir angetan. Ein Reiter auf einem steigenden Pferd. Die eine Hand hielt er in die Luft, als schütze er seine Augen vor der Sonne. Aber das war nur eine Vermutung meinerseits. Ich schlenderte weiter und traf auf die Statue »Charles II«. Er stand vor einem kleinen Knusperhäuschen. Sicher hätte es auch ein Toilettenhäuschen auf Sylt sein können, aber es passte in diesen Park, wie das Holstentor zu Lübeck.

Auf einer der Bänke in der Nähe versuchte ich zu entspannen. Die Reise nach Hamburg, der Flug und die Fahrt mit der Piccadilly Line hatten ihre Spuren hinterlassen. Hätte ich mich in diesem Moment zurückgelehnt, wäre ich eingeschlafen.

Ich holte den Brief aus der Tasche und nahm das Foto aus dem Umschlag. Vielleicht würde ich darauf irgendwelche Hinweise finden. Aber nichts. Es brachte kein Licht ins Dunkel.

Der Ring, den ich extra in eine Seitentasche getan hatte, musste ein Erbstück gewesen sein. Ein romantischer Ring, Silber oxydiert, mit einem herzförmigen roten Stein. Ich setzte ihn auf meinen Finger und hielt meine Hand ein Stück in die Luft.

»Wirklich hübsch«, murmelte ich und setzte ihn wieder ab. Wenn meine Mutter ihn nicht hatte tragen wollen, dann sollte ich ihn erst Recht nicht aufsetzen.

Es nieselte. Ich tat alles zurück in meine Tasche und machte mich auf den Weg zu den gegenüberliegenden Häusern. Ein kleiner Pub mit einer roten Reklametafel weckte meine Aufmerksamkeit. Auf dem Schlüsselanhänger war das gleiche Emblem abgedruckt wie auf dem Schild am Pub. Also musste eine Verbindung zwischen der Kneipe und meiner Mutter bestehen. Doch was sollte meine Mutter in einer Bar gemacht haben? Ich suchte nach der Hausnummer und begriff erst später, dass neben dem Pub eine Treppe zu einer Haustür hinaufführte. Ich nahm jede Stufe mit einem lauten Herzschlag.

Auf dem Klingelschild stand wirklich Owen.

Kurz bevor ich läutete, atmete ich noch einmal tief durch.

»Hallo«, sagte eine freundliche Stimme.

Dieser englische Dialekt war einfach zu entzückend.

Ich lächelte der jungen Frau entgegen. »Hallo.«

Als Englischlehrerin sollte mir das Sprechen dieser Sprache keine Schwierigkeiten bereiten, aber offenbar befanden sich gerade alle englischen Wörter auf Wanderschaft. Kurz gesagt, ich bekam keinen ganzen Satz zustande. Deshalb hielt ich ihr einfach den Brief unter die Nase.

»Hier.« Ich befahl mir, Ruhe zu bewahren, doch ich konnte sie kaum hören, so sehr pulsierte das Blut in meinen Adern.

»Was ist das? Was wollen Sie von mir?« Die junge Frau mit den großen Augen und dem dunklen Wuschelkopf zog die Augenbrauen merklich zusammen.

»Ich suche Clark Owen«, brachte ich mühsam hervor.

»Kenne ich nicht. Bitte gehen Sie«. Die Frau drückte mir den Brief wieder in die Hand und schloss ohne ein weiteres Wort die Tür.

Perplex blieb ich für einen Moment auf dem Podest vor der Tür stehen. Erst nach einer Weile stieg ich langsam die Treppe herab. Unten hielt ich an und blickte durch die dicken verdunkelten Gläser des Pub.

Drinnen war es schummrig, aber gemütlich. Frauen konnte ich nicht erkennen. Vielleicht kamen sie erst später. Einige Männer, die sicher schon seit dem Morgen am Tresen saßen, hielten ihr Bierglas fest in der Hand.

Sollte ich hineingehen und mich nach Clark Owen erkundigen? Oder lieber wieder gehen? Ein Blick auf die Uhr nahm mir die Entscheidung ab. Ich musste schleunigst zurück zur Piccadilly Line, mein nächster Flieger würde schon bald starten. Hektisch brach ich auf.

Das Lachen der Yanomami

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