Читать книгу Wellen der Vergangenheit - Nina Hutzfeldt - Страница 10
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ОглавлениеAm Abend gab es für jeden eine Scheibe Brot mit Quark oder wenig Marmelade. In den butterknappen Jahren musste man sich anders zu helfen wissen. Die Schwestern hatten sich geeinigt, dass ein ausgewogenes Frühstück wichtiger war als Abendbrot, so dass sie morgens mehr auftischten. Bald würden die Samen in der Erde Früchte tragen. Zu Weihnachten sollte Martha ein Huhn rupfen und danach in den Ofen schieben. Dazu würde es Kartoffeln und Reis geben, den Clara schon vor dem Krieg in Mengen eingekauft hatte.
»Denkst du ich sollte mich zum Wehrdienst melden?«, fragte Ingrid ihre Schwester, als sie darauf warteten, dass Martha die Teller aufdeckte. »Ich weiß nicht. Ist es nicht zu gefährlich. Du bist schließlich eine verheiratete Frau.«
»Aber sieh mich doch an. Ich sitze den ganzen Tag zu Hause herum.« Sie legte ihre Hände auf den Tisch. »Muss man dafür nicht eine Ausbildung haben? Du hast gerade mal die Schule fertig. Mama hat dich ab und zu mal zum roten Kreuz mitgenommen. Das macht dich nicht gleich zur Krankenschwester. Außerdem kannst du doch andere Aufgaben übernehmen. Gehe zur Feuerwehr und frage ob du dort helfen kannst...« Ingrid verzog bei Claras Vorschlag das Gesicht. »...oder du kommst mit mir. Ich könnte dir das Nähen beibringen.«
»Ich weiß nicht.« Ingrid nahm sich ein Stück Brot und tat sich Quark darauf. Dazu gab es einen halben Becher Milch. »Komm schon. Es wird bestimmt nett. Martha du kannst auch gerne mitkommen. Dann kannst du deiner Mutter ein paar Pantoffel anfertigen.«
»Meinst du? Ich weiß nicht. Ich glaube ich kann das nicht.«
»Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.«
Diese Worte kreisten den Rest des Abends in Ingrid Kopf herum. Nachdem das Abendessen beendet war trat die junge Frau in ihr Zimmer.
Das Schlafzimmer war klein und gemütlich eingerichtet. Ein kleiner Kamin stand in der Ecke und verlieh dem Gemach die gewünschte Wärme. Der große Ohrensessel stand vorm Fenster, von wo aus sie in die Ferne schauen konnte. Gerne beobachtete sie die Kegelrobben wie sie sich bei schönem Wetter auf der bekannten Sandbank, Jungnamensand, sonnten. Es war ein faszinierendes Schauspiel, welches sie gerne beobachtete. Besonders in der Zeit wo Josef fort ist. Es ist Ingrids Lieblingszimmer. Sie setzte sich in den Sessel und nahm nochmals den Brief an sich. Grübelnd stand sie auf und begann in der Kommode nach Papier zu suchen. Gleichzeitig griff Ingrid nach einem Füllfederhalter. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte sich zum Dienst anmelden. Egal was Clara sagen würde. Es war ihr Leben und sie musste wissen, was für ihr Leben am wichtigsten ist. Sie musste fort, denn sie konnte die Stille in ihrem Herzen, das Lachen ihrer Schwester nicht mehr ertragen.
Ich möchte mich zum militärischen Dienst melden. Bitte geben Sie mir so schnell wie möglich Bescheid.
Mit freundlichem Gruß
Ingrid Ludwig
Claras hysterische Stimme riss sie aus ihren Gedanken und hinterließ verschnörkelte Fehler auf dem feinen Briefpapier. »Ingrid...Ingrid.« Innerlich musste sie aufstöhnen und steckte den Füllfederhalter zurück in die Halterung. »Was ist denn geschehen?«, fragte sie, nachdem sie sich aus ihrem Sessel geschält und die Treppe halb heruntergegangen war. »Louise ist da. Sie sitzt im Wohnbereich.« Louise? Um diese Uhrzeit. Schon komisch.
»Ich komme sofort.« Die junge Frau hastete die Treppe hinab und folgte Clara. In einem der Sessel saß ihre Schwiegermutter. Ihre Schultern hingen hinab, während ihre Augen vom vielen Weinen verquollen waren. »Was ist geschehen?«, fragte Ingrid und spürte den Krampf in ihrem Herzen. »Ich habe Post bekommen.« Louise schluckte.
»Ja. Und?« Bitte lass es nicht Josef sein. Bitte lass es nicht Josef sein, dachte Ingrid und verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn Josef etwas passiere, würde sie die Nachricht zuerst erhalten.
»Es geht um Johannes. Er wird vermisst.« O. Ingrid wusste nichts zu sagen. Sanft schob sie sich den anderen Sessel heran und nahm Louises Hände in die ihre. Sie zitterte und ihre Lippe bibberten. Als würde sie in einem Sommerkleid im Schnee sitzen. »Das tut mir sehr leid. Vielleicht ist er desertiert und kommt schon bald zu uns zurück.« Die junge Frau wollte ihrer Schwiegermutter Mut machen, wusste aber, dass sie auf Holz biss. »Da ist noch etwas«, murmelte Louise zwischen mehreren Schluchzern. »Berthie.« Eine lange Pause. »O Gott. Ich weiß gar nicht wie ich es Ella erklären soll.« Sie legte ihre Hände vor ihr Gesicht um die wilden Tränen vor den Mädchen zu verbergen. Dabei glitt ihr ein Brief auf den Schoß. Woraufhin Ingrid danach griff und ihn auseinanderfaltete. »Gefallen am 01.12.1939. Polen. Kopfschuss«, flüsterte Ingrid. »Von wem hast du den Brief?«
»Der Pfarrer hat ihn mir gegeben.« Louise beruhigte sich etwas und nahm dankend die Tasse Tee, die Martha ihr gebracht hatte, an. »Ella wird wohl auch Bescheid bekommen haben, aber da Berthie bei uns gemeldet ist, kam die Nachricht zuerst zu uns. Also zu mir«, verbesserte sie sich. »Hoffentlich geht es meinem Jungen gut. Ich habe ja solche Angst.«
»Ja. Ich habe erst heute Post von ihm erhalten.« Schnell machte Ingrid sich auf nach oben, nahm den Brief vom Bett und gab ihn Louise, als sie zurück in Wohnbereich kam.
Ein kurzes Lächeln gefolgt von weiteren Tränen huschte über das Gesicht der Schwiegermutter.
»Das ist sehr schön. Ich freue mich. Zumindest eine gute Nachricht.«
»Ja. Ich war sehr erfreut über die Nachricht. Aber es tut mir sehr leid. Ich hoffe das alles gut wird und Johannes...« Ingrid vermochte den Namen gar nicht auszusprechen. »...bald zurückkommt.«
»Das hoffe ich auch.« Louise trank den letzten Schluck ihres Tees, stand auf, reichte ihrer Schwiegertochter den Brief und machte sich zum Aufbruch bereit. »Louise«, sagte Ingrid. »Möchtest du nicht heute bei uns bleiben. Wir haben genug Schlafzimmer. Die Verdunkelungspflicht hat vor wenigen Minuten begonnen, so dass du im dunklen nach Hause müsstest. Das kann ich nicht verantworten.«
»Das ist ganz lieb.« Sie seufzte und knöpfte weiterhin ihre Jacke zu. »Aber ich möchte dir keine Umstände machen. Ich gehe nach Hause, dann kann ich noch ein wenig nachdenken. Außerdem bekommt mir die klare Winterluft.« Louise öffnete die Tür und ein heftiger Wind polterte ihr ins Gesicht. »Es tut mir leid.« Ingrid mogelte sich schnell an ihrer Schwiegermutter vorbei und schloss die Tür. »Ich befehle dir heute hier bei uns zu bleiben. Martha wird dir das kleine Zimmer herrichten, wenn du möchtest kann Clara dir ein Bad einlassen.« Ingrid, die ein schlechtes Gewissen hatte, strich ihrer Schwiegermutter über die kalte Wange. Weswegen ihre innere Stimme solch ein Gefühl in ihr ausgelöst hatte war ihr nicht klar. Vielleicht, weil ihr Brief sie mit Freude erreicht hatte. »Ja. Das wäre sehr nett.« Trotz ihrer Schwäche wirkte Louise immer reserviert.
Während ihre Schwiegermutter sich im angrenzenden Badezimmer im heißen Wasser räkelte, tat Ingrid einige Bücher aus ihrer Sammlung auf den kleinen Nachttisch neben dem gemütlich bezogenen Bett. Danach überprüfte sie die Fenster. Obwohl sie Martha eingeschärft hatte, dass sie die Verdunkelung nicht mit Nachlässigkeit tun sollte, konnte sie nicht anders um die Arbeit zu überprüfen. Deshalb verdunkelte Ingrid ihr eigenes Zimmer immer selbst. Vorsichtig stellte sie eine kleine Beleuchtung zum Lesen neben die Bücher. Als alles perfekt zu sein schien, schloss sie die Tür und trat in ihr eigenes Zimmer. Ingrid war müde und wollte sie etwas hinlegen. Die Nächte waren ihr am liebsten, denn sie konnte träumen, ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Dort traf sie Josef morgens beim Aufstehen im Badezimmer an. Mit freiem Oberkörper stand er vor dem Spiegel und strich sich über den Bart. Ingrid trat auf ihn zu und wollte die Arme um ihn legen. Doch von jetzt auf gleich verschob sich die Szenerie und Josef löst sich in Luft auf. Dann wachte Ingrid von Schrecken gezeichnet auf und schrie seinen Namen. Mit der Zeit hatte sie gelernt nur neben ihm stehen zu können. In die wunderschönen turmalingrünen Augen zu blicken und ihm einen Luftkuss zuzuwerfen. »Ich darf ihm nicht zu nahe kommen«, sagte sie sich wie ein Mantra. »Ich darf ihm nicht zu nahe kommen. Ich darf ihm nicht zu nahe kommen, sonst verschwände er.« Vorsichtig fing sie eine Träne auf, die sich aus ihrem linken Auge gelöst hatte. Sie inspizierte den glasklaren Tropfen.
Ein Klopfen ließ Ingrid aus ihrem Schlaf gleiten. »Josef bitte, wo bist du? Bleib bei mir...«, murmelte die junge Frau und öffnete ein Auge. »Ingrid. Ist alles in Ordnung?« Clara streckte ihren Kopf in den Raum. Ingrid konnte ihn zwar in der Dunkelheit nicht sehen, aber sie wusste es. »Ja. Wieso?« Ingrid streifte über die dicke Decke.
»Ich habe Schreie gehört und mir Sorgen gemacht.« Clara trat ein und setzte sich ans Fußende.
»Ich glaube ich habe nur schlecht geträumt.«
»Dann ist ja gut. Weißt du ich habe Angst. Der Krieg sollte doch schnell vorbei sein und nun sitzen wir hier, haben kaum etwas zu essen. Wir sind gefangen in unserem eigenen Land. Hitler möchte immer mehr Macht. Und wenn ich nach Nebel gehe, sehe ich immerzu Polizisten die aufgeregt von einem Haus ins nächste stürmen.« Clara legte ihre Hände übereinander.
»Ja. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen.«
»Ja. Ich weiß. Aber du siehst es ja nicht mit eigenen Augen. In der Schule wird uns auch allerlei Fusel eingeschärft. Wir singen und lernen politische Sachen.«
»Ach. Clara. Es wird alles wieder vorbeigehen. Du musst nur ganz fest daran glauben. So nun Marsch ins Bett.« Ohne ein weiteres Wort stand Clara auf und schloss lautlos die Tür.