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ОглавлениеVier Monate war Josef schon fort und noch immer hatte Ingrid kein Lebenszeichen von ihm bekommen. Sie schrieb ihrem Ehemann jeden Tag. Berichtete über die Dinge, die sich auf der Insel zutrugen, erzählte von sich, von Clara und über den Haushalt, den sie nun allein bewältigen musste. Sie war es leid, nur Hausfrau zu sein. Sie fühlte sich einsam in diesem Haus. So viele schön eingerichtete Zimmer, ein Keller mit Dienstboteneingang und einer kühlen Kammer, Toilette im Haus und genug Schlafzimmer im Obergeschoss. Deswegen war sie sehr froh, dass Clara zu ihr zog. Ihre jüngere Schwester bewohnte bis vor kurzem noch das gemeinsame Elternhaus. Da Clara noch jünger und unverheiratet war, ging sie wie alle anderen Mädchen zur Schule. Am Nachmittag traf sie sich mit weiteren Frauen im Nähstübchen im Dorf Nebel. Dort wurde aus alten Kleidungsstücken neue gefertigt. Die älteren Frauen waren überrascht über Claras Talent und nahmen sie gerne bei sich auf. Daraufhin begann Ingrid sich noch nutzloser zu fühlen.
Zwei Tage später war reges Treiben in der St. Clemens Kirche. Der Pfarrer bat alle Insulaner ins Gotteshaus. Ingrid zog eines ihrer schönsten Kleider an, so wollte sie den Frauen ihren Wohlstand präsentieren. Seit der Krieg ausgebrochen war, hatten die meisten Familien nur noch wenige Habseligkeiten. Die Essensmarken, die man vom Amt bekam, waren schnell weg und die Selbstversorgung begann. Ingrid zügelte das Pferd und der Wagen kam vor der Kirche zum Stehen. »Was denkst du sollen wir außer der Reihe in der Kirche?«, fragte Clara, als sie die Stufen hinauf trat. »Das werden wir gleich erfahren.« Als die beiden Schwestern durch die Reihen schritten, folgten ihnen viele Blicke. Als Louise die beiden erkannte, winkte sie ihnen heftig zu.
»Guten Tag. Schön das sie alle so zahlreich erschienen seid. Ich habe heute eine Bitte an Sie. Der Krieg zerrt an unseren Nerven, bringt uns an unsere Grenzen.« Der Pfarrer schritt durch den Mittelgang und schloss die schweren Türen. Danach öffnete er eine kleine Seitentür und ließ eine Menge Kinder mit einigen Erwachsenen rein. Ein Raunen ging durch die Reihen. »Ich würde gerne etwas aus der Bibel zitieren.« Der Pfarrer räusperte sich. Trüge er nicht sein Talar, hätte Ingrid ihn auch als Landstreicher abstellen können. Seine wirren Haare, der viel zu lange Bart - der unbedingt gestutzt werden musste - und die müden Augen. »Als aber das Volk die Donnerschläge und Blitze, den Posaunenschall und den rauchenden Berg wahrnahm, da fürchtete sich das Volk und blieb in der Ferne stehen. Und sie sprachen zu Moses: Rede du mit uns, so wollen wir zuhören, aber Gott soll nicht mit uns reden, sonst müssen wir sterben. Zweites Buch Moses, Exodus, Kapitel 20/19.«
Was hatte dies zu bedeuten? Ingrid strich über den Bibeleinband. »Damit möchte ich euch sagen, dass ihr keine Angst haben müsst. Wenn wir zusammenhalten und uns gegenseitig helfen, dann wird uns nichts geschehen. Der Donner und die Blitze werden über uns hinweg schweben. Reichen wir uns die Hände.« Er deutete zu den Kindern. »Diese Jungen und Mädchen suchen ein neues Zuhause. Sie sollen bei euch leben, zur Schule gehen und ein unbeschwertes Leben führen. Bis der Donner vorbei und der Frieden zurückkehrt.«
Lautes Gemurmel ertönte aus den Ecken der Kirche. »Vorübergehend könnten einige Jungen und Mädchen in unserem Elternhaus leben«, brachte Clara hervor.
»Still.« Ingrid griff nach Claras Handgelenk und zog den Arm, den ihre Schwester in die Höhe gestreckt hatte, hinab. »Vielleicht haben sie Läuse. Sie verpesten das ganze Haus.«
»Also ich könnte zwei Kinder aufnehmen«, sagte Louise und bedachte Ingrid mit einem scharfen Blick. Er bohrte sich in ihr Herz und begann ihr Luft zu machen. »In Ordnung«, murmelte sie.
»Das ist nett Louise. Clara was ist mit dem Haus? Steht das Angebot?« Der Pfarrer rieb sich seine Hände. »Ja. Das Haus hat drei Schlafzimmer. Badezimmer, Wohnzimmer und Küche.«
»Das ist nett.« Er teilte die Kinder in Gruppen. Weitere Frauen meldeten sich und nahmen - sich meistens eins oder auch zwei - je nach Zimmer mit. Verstohlen blickte Ingrid zum Pfarrer. Sie vermochte nicht zu denken, dass in ihrem Haus ein ungebetener Gast wohnte, doch sie wollte auch nicht als eiskalter Engel da stehen, und erbarmte sich. »Ich hätte gerne das junge Mädchen dort.« Die junge Frau deutete zu einem abgemagerten Mädchen mit großen Augen und filzigen Haaren. Ingrid stand auf und legte ihre Hand unter ihr Kinn. »Wie alt bist du?«
»Vierzehn«, sagte das Mädchen mit piepsender Stimme.
»Und wie heißt du?«
»Martha.«
»Okay. Ich werde dich mitnehmen. Du bekommst etwas zu essen, ein Bad und eine Bleibe.«
»Danke Frau Ludwig.« Ingrid wusste, dass der Pfarrer bedenken hatte. Seit den Monaten, in denen Josef sich im Krieg befand, hatte sich Ingrid rapide verändert. Ihr Herz ist erkaltet. Jeden Abend weint sie sich in den Schlaf, während Clara nebenan schlief.
Als sie zu Hause angekommen waren, führte Ingrid Martha, die nur einige Jahre jünger als die Hausherrin war, durch die Zimmer. Jedoch wirkte die zurückgelassene Ehefrau viel älter. Sie erläuterte Martha ihren Tagesablauf und brachte sie danach in die Küche. Von dort aus führte sie das Mädchen in eine kleine Kammer in der sich eine Pritsche und Kommode befand.
»Hier wirst du schlafen. Nach der Schule wirst du mir und meiner Schwester im Haushalt helfen. Wenn deine Arbeiten erledigt sind, kannst du dich mit deinen Freunden treffen.« Ingrid drehte sich, blieb an der Tür stehen und wand sich erneut um. »Du kannst dich ein wenig ausruhen, dich einrichten. Clara wird die Kleidung bringen und dir ein Bad einlassen. In einer Stunde gibt es Abendbrot im großen Salon.« Damit ließ Ingrid Martha allein zurück. Das junge Mädchen stellte ihren Koffer auf der Pritsche ab und zog einige Kleidungsstücke hervor. Sie waren teils von Motten zerfressen oder einfach zu klein. Auf dem Kopfkissen lag eine Bibel. »Ich vermisse dich Mama.«
»Denkst du sie wird sich hier wohlfühlen?«, fragte Clara, während sie die Nadel in den Stoff des Kleides stach. »Ich hoffe.«
»Warum zum Teufel hast du ihr die Kammer neben der Küche gegeben? Ich meine, das ist doch nicht das richtige für ein Mädchen in unserem Alter.«
»Ich hab ihr doch nicht die Kühlkammer gegeben.« Ingrid schnaubte und blickte aus dem Fenster.
Clara knotete den Faden und schaute sich ihr Werk an. »Fertig.« Sie stand auf und ließ ihre Schwester, die in Gedanken versunken war, allein im Wohnbereich. Clara folgte dem Dampf, des heißen Wassers, welches sie in die kupferfarbene Badewanne getan hatte. Der Dampf kroch durch die Ritzen der Tür und schwebte ihr wie ein Geist entgegen. »Martha.« Clara klopfte an die Tür.
»Ja. Bitte.«
Clara öffnete auf Marthas Bitte die Tür. »Ich habe das Kleid fertig. Du kannst es gleich anziehen. Ich werde es hier über den Hocker legen.« Ohne einen Blick auf die Wanne zu riskieren, schloss Clara behutsam die Tür. Danach tat sie drei, statt zwei Teller auf den Tisch. »Morgen werde ich im Garten die Samen einpflanzen«, sagte Clara, doch Ingrid saß immer noch abwesend in ihrem Sessel.