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ОглавлениеZu Weihnachten zog Ingrid sich ihr azurblaues Kleid an, welches sie im hinteren Teil ihres Kleiderschrankes gefunden hatte. Ihr widerspenstiges lockiges Haar war hochgesteckt und verlor sich auf ihrem Kopf. Clara stand in einem rubinroten Kleid an der Haustür und richtete das Kleid, welches sie Martha geliehen hatte. Die Freundin von Clara steckte in einem dunkelgrünen Etuikleid, welches ihr bis zu den Waden reichte. Sie sah wunderschön aus und stach die beiden Schwestern mit ihrer versteckten Schönheit aus. Als Ingrid Martha erblickte atmete sie tief ein und aus. Sie strich sich über ihre Taille, die bei genauerem Hinsehen breiter als Marthas war. »Bin ich etwa eifersüchtig?«, fragte sie sich selbst und trat die Treppe hinab. Die drei Mädchen schälten sich in ihre Mäntel und warteten bis der kleine Niels das Pferd vor den Wagen gespant hatte.
Familie Ludwig bewohnte das größte Haus im Dorf Nebel auf Amrum. Es war Tradition, dass sich alle Familienmitglieder am Heiligen Abend im Haus einfanden.
»Schön das ihr gekommen seid«, sagte Louise als sie die Tür öffnete und die drei Mädchen in die Arme schloss. »Aber das ist doch selbstverständlich. Wir haben etwas mitgebracht« Ingrid reichte ihrer Schwiegermutter den Kartoffelsalat, den sie aus den letzten Resten machen lassen hatte. Im neuen Jahr musste sie zum Amt gehen um sich dort, die ihr zustehenden Lebensmittel, abzuholen.
»Das ist ja lieb. Dora und Ella sind auch hier. Ich freue mich das wir alle hier sind.« Erneut fiel sie ihrer Schwiegertochter um den Hals. »Wir freuen uns auch.«
Vorsichtig traten die drei Mädchen durch den schmalen Flur in den großen Essbereich. Der Essbereich wurde durch eine große Flügeltür von dem Wohnbereich getrennt. »Wow. Das ist atemberaubend«, murmelte Martha und setzte sich flink neben eine ihrer Klassenkameradinnen. Die beiden Mädchen waren ebenfalls gut gekleidet und sahen wohl genährt aus. Sie saßen gerade auf ihren Stühlen und lauschten den Stimmen der Familie. Großvater Wilhelm stiefelte in den Raum und setzte sich neben Ingrid. »Moin. Moin. Schön, dass ihr alle hier seid.« Er setzte seinen Krug an die Lippen und trank den guten Wein in einem Zug aus. »Muss das sein. Wir haben doch noch nicht mal angefangen zu essen«, sagte Louise nach langem Überlegen. Sie alle hatten Respekt vor seinem Erscheinen. Doch nun, da Louise mit ihm allein unter einem Dach wohnte, musste sie sich zu wehren wissen. »Was hast du mir denn zu sagen. Ich lass mir von euch Frauen nichts sagen. Meine Söhne sind nicht da und welche Schuld ist es?« Er streifte die Blicke der Frauen. »Eure. Ihr sitzt hier auf euren dicken Ärschen und feiert Weihnachten, während meine Söhne irgendwo im Sterben liegen.« Seine Hand schnellte nach oben und fegte sein Gedeck vom Tisch. Ein lautes Scheppern gefolgt von einem Schweigen. Die Dienstmagd kam, kehrte die Scherben lautlos auf und deckte neu ein.
»Ich denke wir sollten essen. Wir wollen schließlich nichts verkommen lassen.« Ella stand auf und zog sich die Schüssel mit Kartoffelsalat heran. »Hast du Heimaturlaub?«, fragte Ingrid starr auf ihren Teller gerichtet. »Ja. Ich habe mir einige Tage frei genommen. Außerdem habe ich hier noch einige Dinge zu erledigen. Schließlich ist mein Vater vor kurzem erst gefallen.«
»Ja. Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid. Du weißt doch gar nicht was das für ein Gefühl ist. Da hat Wilhelm schon Recht. Ihr wisst gar nicht was Krieg bedeutet. Tagtäglich sterben tausende von Menschen.«
»Ella es reicht. Wir sind eine Familie und müssen zusammenhalten und uns nicht gegenseitig fertig machen«, versuchte Louise Ella verständlich zu machen. Doch Ella wollte nichts hören. Sie stand auf und verschwand im angrenzenden Raum. Leises Schluchzen drang durch die Wände. »Wir sollten sie ein wenig in Ruhe lassen.«
Urplötzlich begann die Sirene für den Fliegeralarm zu ertönen. Die wenigen Frauen und Wilhelm standen auf löschten die Kerzen, die sie im Raum verteilt hatten und bahnten sich einen Weg in den Keller. »Ich habe Angst Ingrid«, murmelte Clara, als sie versuchte die Stufen mit ihren Füßen zu ertasten. »Ich auch. Aber wir müssen jetzt stark sein.« Die Schwestern hielten sich fest an den Händen während sie sich in den kleinen Keller eng aneinander quetschten. »Wo ist Ella?«, fragte Dora. »Ich bin hier.« Das Knarren der Treppe war zu hören und die Tür, die leise ins Schloss fiel. »Ich habe die Kellertür nicht gleich gefunden.«
»Jetzt bist du ja da.« Ingrid strich Ella lieblich über den Rücken.
»Ja. Es tut mir leid was ich vorhin gesagt habe. Ich weiß auch nicht.«
»Ist schon in Ordnung.«
Lange Zeit blieben die Frauen ruhig. Die lauten Motoren der Flugzeuge rauschten über ihren Köpfen hinweg. Niemand sagte ein Wort.
Die Stille zerbarst in tausend Teile, als die Haustür mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel.
Zitternd und eng umschlungen, weil sie wussten, dass sich fremde Menschen über ihren Köpfen im Haus aufhielten, bangten die Frauen um ihr Leben. Großvater Wilhelm saß ruhig in der Ecke.
Ingrid lauschte. Bei genauerem Hinhören war sie sich sicher, dass es nur eine einzige Person sein konnte. Ihr Herz pochte und das Rauschen des Blutes in ihren Adern ließ ihr Trommelfell platzen.
Die Kellertür wurde geöffnet. »Keine Angst. Uns wird nichts geschehen. Wir haben nichts verbrochen«, murmelte Louise und begann sich um ihre Tochter zu klammern.
»Hallo. Mutter bist du hier unten?«, fragte eine für Ingrid vertraute Stimme.
»Josef. Bist du das?« Ingrid konnte die Worte ohne ein Zittern in ihrer Stimme nicht aussprechen.
»Ingrid?« Das Knarren der Treppe wurde lauter und eine raue Hand legte sich auf die Schulter der jungen Frau. Sie fühlte sich auf dem dünnen Träger des Kleides wie ein Fremdkörper an, der nicht zu ihr zu gehören schien. »Ich habe dich so vermisst. Wie bist du hierhergekommen?«
»Josef. Bist du es wirklich?« Ingrid stand auf und tastete nach dem Gesicht ihres Ehemannes, welches sie schon so oft in ihren Träumen getan hatte. »Ich bin es wirklich.« Seine Hände umschlossen ebenfalls ihre Wangen, glitten hinunter zu ihren Schultern und folgten der Spur hinab zu ihren Hüften. »Du bist so wunderschön.« Seinem Instinkt folgend trat er näher an seine Frau bis sich ihre Lippen trafen. »Ich habe dich so vermisst.« Josef schloss Ingrid in seine Arme.
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Mit dem Zug und dann mit der Fähre. Den Rest habe ich zu Fuß bewerkstelligt. Es war ja keine Menschenseele mehr zu sehen, nachdem der Fliegeralarm über die Insel getönt hatte. »Das ist wahr. Aber zum Glück wurden noch keine Bomben abgeworfen.«
»Das ist schön. Hauptsache euch geht es allen gut.« Josef holte aus seiner Tasche einige Kerzen heraus, die er aus dem ersten Stockwerk mitgebracht hatte. »Die habe ich oben gefunden. Hier ist ja kein Fenster und so wird kein Licht nach draußen dringen. Er zündete ein Streichholz an und ließ die kleine Flamme auf dem dünnen Holz tanzen. »Jeder sollte sich eine nehmen, so dass wir es uns hier unten gemütlich machen können.« Josef setzte sich und hielt seine Frau fest im Arm. »Wer seid ihr denn?«, fragte der junge Soldat als er die drei Kinder der Kinderlandesverschickung erblickte.
»Ich bin Martha. Und das sind meine Freundinnen Emma und Annemarie. Wir kommen aus dem Rheinland. Unsere Eltern wollten, dass wir evakuiert werden.«
»Wie lange seid ihr schon hier?«
»Eine ganze Weile. Martha gehört zu uns«, brachte Ingrid sich ein und legte den Kopf auf die Schulter ihres Mannes. Martha nickte gehorsam. »Hast du die schlechten Nachrichten über deinen Vater und Onkel Berthie schon gehört?« Louise trat näher zu ihrem Sohn.
»Ja. Ich habe daraufhin Heimaturlaub genommen.«
»Heimaturlaub. Wieso denn das? Ich habe den Urlaub nie angetreten. Du musst für unseren Führer an die Front gehen«, sagte Wilhelm.
»Das werde ich noch früh genug tun. Aber die Familie ist wichtiger als alles andere. Sag du mir nicht, dass du niemals Urlaub genommen hast. Denkst du Großmutter fand es gut. Sie würde sich im Grab umdrehen, wenn sie erfahren würde wie du über den Krieg redest.« Josef strich sich über die Stirn. »Der Krieg fordert von uns allen einen Tribut. Es sind andere Zeiten Großvater. Du verstehst das nicht.« Josef küsste seiner Ingrid auf die Schläfe. Am liebsten hätte Ingrid sich auf ihn gestürzt. Ihr Ehemann blickte in den Schein der Kerze. »Hast du auch schon einige der Juden eingefangen? Hitler soll all das Pack, was sich hier einnistet, in die Kammern schicken. Wir wollen keine Schmarotzer in unserem Land.« Er streckte eine Faust in die Höhe. »Wenn du Hitler siehst, sag ihm, dass Wilhelm Ludwig hinter ihm steht und ihn niemals enttäuschen wird.« Keiner sagte ein Wort. Alle hatten es satt und waren auch nicht traurig, dass Ingrid, Josef und Clara mit Martha schon sehr bald aufbrechen wollten. Josefs Stimme war nur noch ein Flüstern. Es war als hörte er gar nicht richtig zu, als hätte seine Seele den Körper verlassen. So wie Ingrid es schon vermutet hatte. Außerdem wollte die junge Frau ihrem Mann nicht mehr die unpassenden Sätze von Großvater aussetzen lassen und packte ihre sieben Sachen. Josef küsste seine Mutter auf die Stirn, nahm seine kleine Schwester in den Arm und half den drei Mädchen höflich in den Mantel.
Pferdehufen hallten in die dunkle Nacht, als der Alarm geendet hatte und die Menschen die Keller und Bunker wieder verlassen durften. Josef sog die frische Luft und die Freiheit die ihn für diesen Moment geschenkt wurde förmlich ein.
»Wir sind zu Hause«, sagte Ingrid und hielt ihrem Ehemann die Tür auf. »Komm, geh dich frisch machen und danach können wir zu Bett gehen. Möchtest du noch eine warme Milch mit Honig?« Josef schüttelte mit dem Kopf und schritt wie in Trance die knarrende Treppe hinauf. Ingrid seufzte und beobachtete ihn. »Wie geht es ihm?«, fragte Clara und legte ihr Kinn auf das Geländer.
»Nicht gut. Es ist wie ich befürchtet habe. Und es ist noch nicht vorbei.«
»Muss er denn wieder zurück?« Clara zuckte mit den Achseln.
»Sicher.« Ingrid überlegte. »Desertieren wäre eine Möglichkeit, aber wir wären ein Leben lang auf der Flucht und ich weiß nicht ob Josef das Durchhalten könnte. Und was wäre, wenn man uns findet?« Der Gedanke trieb Ingrid Tränen in die Augen.
Ein Krachen erschütterte das obere Stockwerk, woraufhin ein Klirren folgte. Ingrid rannte die Stufen hinauf, nahm immer zwei auf einmal um möglichst schnell bei ihrem Mann zu sein.
Als sie ins Badezimmer blickte, sah sie Josef in Unterwäsche auf dem Boden. Ein Kreis aus Scherben umrundete ihn. Es war als würde er in einem Zirkel sitzen und darauf warten verhext zu werden. Der Spiegel über dem Waschbecken war zerbrochen und von Josefs Hand tropfte das Blut wie ein Rinnsal hinab. Er hatte ihn zerbrochen. Wut und Zorn hatten sich über die Monate aufgestaut und sich binnen Sekunden entladen.
»Clara, Clara schnell«, schrie Ingrid und kniete sich vor ihren Mann. »Was machst du denn mein Schatz?« Sie griff behutsam nach seiner Hand und entfernte die großen Scherben aus seiner Handfläche. »Was ist denn geschehen?« Clara stellte sich in den Türrahmen und verschwand sofort wieder. Minuten später stand sie mit einem Handtuch, einer kleinen Dose, die die Schwestern als Notfallpaket benannt hatten und einem Besen und Kehrer im Bad. »Hier.« Clara atmete schwer. Ingrid nahm die Pinzette aus der Dose und pulte nacheinander die Scherben aus dem Fleisch. Sie schrubbte das geronnene Blut weg und spülte die Hand nochmals in einem Krug mit warmem Wasser ab. Danach umwickelte sie die Hand mit einem Verband und küsste sie »Auf schnelle Genesung.« Derweil kehrte Clara die Scherben vom Boden auf und wischte mit dem großen Mob das Blut fort. »Nimm alle Spiegel im Haus ab«, flüsterte Ingrid ihrer Schwester zu, bevor sie Josef in ihre Gemächer begleitete.
Sie entledigten sich ihrer Kleidung und legten sich unter die Decke. Während Josef starr nach oben blickte, kreiste Ingrid mit ihrem Zeigefinger auf der Brust ihres Ehemannes. »Josef...«, sagte sie nach einer endlosen Warteschleife. »...Rede doch mit mir.« Seufzend strich Ingrid über seine gewellten Haare und küsste ihn auf die Stirn. Es hatte keinen Sinn, er würde sich einfach nicht rühren. So brauchte sie nicht lange zu überlegen und drehte sich, mit dem Rücken zu Josef, auf die Seite. Urplötzlich, sie musste schon einige Stunden geschlafen haben, spürte sie zwei große Arme die sich um ihren nackten Körper pressten. An ihrem Gesäß spürte sie etwas Hartes. »Ingrid bitte hilf mir. Sie kommen um mich zu holen«, flüsterte Josef.
»Mm.« Mehr brachte sie nicht heraus, doch als sie immer stärker diesen Druck an ihrem Po spürte, drehte sie sich um und blickte ihrem Ehemann in die Augen. »Kannst du nicht einschlafen?«, fragte sie und strich über seine Wange. »Nein. Sie werden kommen und mich holen. Ich...« Josef fing an zu zittern und küsste seine Frau leidenschaftlich. Aus dem kleinen Jungen von eben wurde wieder der Ehemann den Ingrid sich wünschte. Er zog seine Frau an sich, zwängte seine Zunge zwischen ihre Lippen und drückte sie auf den Rücken. Dann bestieg er sie wie ein Reiter sein Pferd. Ingrid hatte sich diesen Liebesakt romantischer und leidenschaftlicher vorgestellt, doch Josef ließ sich nicht bremsen. Er stieß und schnaubte, schwitzte und sabberte. Das junge Mädchen lag wie ein nasser Sack unter dem hundert Kilo Mann. Er vögelte seine Wut, sein Zorn regelrecht hinaus. Irgendwann schlich sich die Müdigkeit ein und Josef ließ sich auf seine Frau plumpsen. Da lag er nun, immer noch in ihr und schnarchte leise.
Ingrid öffnete ihre Augen, die sie während des Aktes geschlossen hatte wieder und versuchte Josef auf die Seite zu drehen. Er grunzte und schnäuzte mit der Nase. Ingrid deckte ihn ein und legte sich auf den Rücken. Jetzt starrte sie gegen die Decke und überlegte wie es wohl weitergehen sollte. Nach den Feiertagen wollte Ingrid sofort den Dorfarzt aufsuchen um sich Informationen über Kriegstraumata anzufordern. Sie wollte sich wappnen und wissen was auf sie zukommen könnte. Josef muss sicher bald zurück an die Front. Wie lange kann ein Soldat eigentlich Urlaub machen? Die junge Ehefrau zuckte mit den Achseln. Sie war sich nicht sicher, aber eine Woche würde er sicher bei ihr bleiben. Morgen sollten die Schwestern zum Mittagessen wieder zu Louise kommen. Deswegen hatten sie auch heute früher gehen dürfen. Sie meinte, dass das junge Paar erst mal ein paar Stunden für sich haben sollte und morgen für den Rest der Familie noch genug Zeit wäre. Ingrid war dankbar und somit nickte Clara ihr zum Gehen zu. »Ach mein schöner Ehemann. Was haben sie dir bloß angetan?« Ingrid beugte sich über ihn und küsste ihn hinters Ohr. Ein kurzes Grunzen erklang und eine Hand griff nach ihrem Handgelenk. »Bitte bleib bei mir«, hauchte er und drückte noch fester zu.
»Ich bleibe bei dir, aber bitte drück nicht so fest zu. Du tust mir weh.« Mit der anderen Hand versuchte Ingrid seine Hand zu lösen. Je mehr sie versuchte sich aus seinen Fängen zu befreien, drückte er nur noch mehr zu. »Ich brauche dich. Ich habe schlimme Dinge getan. Ich....ich habe Familien zerstört.« Abrupt ließ er los und legte seinen Kopf an Ingrids Brust. Und da war er wieder, der kleine Junge. Er fing zu weinen an. Josef weinte, als hätte er sich beim Radfahren das Bein aufgeschlagen, die bösen Buben ihn wieder einmal im Schulhaus geärgert oder seine Schwester und deren Freundinnen ihn in Badehose am Strand ausgelacht haben. Der kleine Junge, nachdem Ingrid sich so sehr gesehnt hatte. Ihre Gedanken schleuderten sie an den Tag zurück, wo die Nachbarin zu ihr und Clara kam um ihnen die tragische Nachricht zu überbringen. Auch an diesem Tag musste sie stark sein. Ihre Schwester schrie, weinte und brüllte ihre Trauer hinaus, doch die große Schwester saß wie eine Statue im Sessel und strich Clara über die dicken Haare. »Schsch!«, meinte sie immer wieder und versuchte damit selbst ihre Traurigkeit zu unterbinden. Und als Ingrid weinen durfte, konnte sie nicht. Es war als hätte sie fremde Augen in den Höhlen. Ingrid presste die Augen zusammen, kniff sich in die Wangen um sich Schmerz zuzufügen, woraufhin Tränen sich nicht mehr aufhalten lassen wollten. Alles Gelingen nutzte nichts. Sie war wie erstarrt. »Die eiserne Lady«, konnte sie jemanden in der Menge hören. Ob es ihr gegolten hatte wusste sie nicht. Und wieder hatte sie an den Satz denken müssen. Ingrid wollte mit ihrem Ehemann weinen, doch konnte sie sich nicht dazu aufraffen. Vielleicht galt der Satz doch ihr? »Weißt du Josef. Mir hat mal jemand gesagt, dass ich ihm alles erzählen kann, er mich aber nie danach fragen würde....« Sie küsste ihn auf die Lippen. Die Lippen die so trocken waren wie der Sand in der Sonne. »Du kannst mir vertrauen.«
Sie legte ihrem Mann eine Hand auf die Stirn. »Ich wollte nie an die Front. Ich dachte ich könnte im Camp arbeiten, für die Luftwaffe Nachrichten durchgeben, Wetterverhältnisse überbringen...« Er seufzte. »Am Anfang war alles noch in Ordnung. Ein Unteroffizier nahm mir und weiteren einberufenen Soldaten am Bahnhof die Papiere ab und begleitete uns die ganze Zugfahrt aus. Wir gingen in einer einheitlichen Formation zur Kaserne, wo wir uns mit etlichen Papieren herumschlagen mussten. Ich schlief in einem Saal mit sechzig weiteren Männern und teilte mir einen Spind mit Georg. Er kommt aus Berlin und ist in meinem Alter.«
»Das hört sich doch ganz gut an.« Ingrid griff in Josefs volles Haar.
»Ja. Noch. Wir wurden in Waffenkunde und politische Erziehung unterrichtet. Viele meiner Kameraden hatten den Arbeitsdienst schon abgeleistet und wussten, wie der Hase läuft. Ich dagegen musste mich erst eingewöhnen. Morgens früh aufstehen, laufen, aufräumen, zwei Stunden Theorie im Schulungsraum. Danach Hofdienst. Grüßen lernen, marschieren, singen. So furchtbare Lieder...« Seine Lippen begannen zu zucken und ein federleichtes Lachen legte sich auf seine Lippen. »...Aber, wenn die Offiziere nicht hinhörten, schmetterten wir unsere eigenen Lieder.«
»Was denn für Lieder?« Ein großes Fragezeichen setzte sich auf Ingrids Gesicht.
»Ausgedachte Zeilen. Es darf gesungen werden was einem gerade so einfällt.«
»Und was geschah dann?«
»Ich wurde zum Wachdienst eingeteilt.« Kurzes Schweigen. »Dort habe ich zum ersten Mal einen Menschen erschossen.«
»O. Das ist ja schrecklich.« Eigentlich wollte Ingrid dies nicht laut aussprechen und versuchte daher die letzten Worte hinunterzuschlucken. »Er hatte keinen Nachturlaubsschein mit. Als der Wachhabende kam, konnte er ihn nicht identifizieren und da schoss ich einfach. Es war so leicht.«
Josef nahm die Hand seiner Frau und hauchte Küsse auf den Rücken. In Ingrid kribbelte es. »Die Märsche zum Postempfang waren mir die liebsten. Wenn ich deine Briefe in meinen Händen halten durfte, fühlte ich mich zum ersten Mal wieder froh.« Er seufzte. »Wenige Wochen später sollten wir auf dem Schießplatz mit den Waffen warm werden. Dort musste ich einigen Spott über mich ergehen lassen, denn mein Todesschuss sprach sich schnell herum. Der Todesschütze. So nannten sie mich. Das gab mir nach einigen Wochen den nötigen Respekt.«
»Was habt ihr in der freien Zeit gemacht?«
»Manchmal gingen wir ins Kino, doch am liebsten verbrachten wir die freie Zeit in einer Kneipe. Doch eines abends.« Josef kniff seine Augen zusammen. »Eines abends nahmen wir eine Abkürzung und folgten einer schmalen Gasse, die uns zurück zur Kaserne bringen sollte. Wir blieben stehen als wir ein Schluchzen vernahmen. Georg und ein weiterer Kamerad namens Ferdinand waren bei mir. Wir pressten uns an die kalte, verdreckte Hauswand und lauschten. Es war so schrecklich. Kleine Kinder knieten vor Soldaten. Wir erkannten ihre Kleidung sofort. Juden!
Wir hätten eingreifen sollen, denn was dann geschah werde ich niemals vergessen. Nacheinander schossen sie den kleinen die Köpfe weg. Ich versuchte zu atmen, doch mir fehlte die Luft.«
»Aber das ist doch nicht deine Schuld.«
»Doch. Genau das ist es Ingrid. Ich bin schuld, dass die Kinder nicht mehr leben. Ich hätte eingreifen sollen. Aber Feigling Josef war zu schwach.« Er raffte sich auf und blickte zum verdunkelten Fenster.
»Nun hast du Heimaturlaub? Entspann dich bitte.« Ingrid legte vorsichtig ihre Hand auf den Rücken ihres Mannes und fing an ihn zu streicheln.
»Ja. Die Ausbildung ist vorbei. Das heißt einen kurzen Heimaturlaub. Ausruhen, damit man mit neuer Kraft in die neue Division eintreten kann.«
»Division? Was ist das?«
»Militärischer Großverband. Eine Division kann aus 10.000 bis 30.000 Soldaten bestehen. Meistens sind es verschiedene Streitkräfte. Wir werden in den Osten einmarschieren.« Josef ließ sich zurück ins Kissen sinken und zog sich die Decke bis zum Kinn.
Was sollte Ingrid sagen? Sollte sie ihm sagen, dass alles wieder gut werden würde, dass es nicht so schlimm sei, denn schließlich töten auch andere Männer? Sie war verzweifelt und wusste sich nicht anders zu helfen, als über den holprigen Weg zu gehen um Großvater Wilhelm um ein Gespräch zu bitten. Diesen Schritt hatte sie noch nie zuvor in Erwägung gezogen, sie hatte sich eher davor gefürchtet. Doch es musste sein. Sie wollte wissen was den Männern an der Front schlimmes erwartet. Warum sie nie mehr ganz wiederkommen? Ingrid war gar nicht mehr in der Lage zu denken oder zu grübeln, denn der Schlaf riss sie mit sich und nun wusste sie auch warum Josef sich nicht mehr im Spiegel ansehen konnte. Er sah nur noch einen Killer. Einen Mann der tötet um nicht selbst getötet zu werden. An seinen Händen hing das Blut. Das Blut von den kleinen Mädchen, die ihn wahrscheinlich noch mit flehenden Kinderaugen um Hilfe baten.