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Juni 1939 - 1944

Ingrid stand vor dem großen Standspiegel.

Ihr langes, blondes Haar fiel ihr über die zierlichen Schultern und ihre Augen leuchteten wie das Meer am Strand. Es klopfte an der Tür und ein weiterer Blondschopf lugte ins Zimmer hinein. »Huhu Schwesterherz. Na bist du schon aufgeregt?« Das junge Mädchen betrat den Raum und legte ihre Hände kokett vor ihren Bauch. »Hallo Clara, ich hatte dich noch gar nicht erwartet. Sind schon viele Gäste da?« Ingrid wand sich ihrer Schwester zu. Sie wirkte sichtlich nervös.

»Alle bis auf Josef.« Clara senkte den Kopf.

»O...« Ingrid ging zur Kommode.

»Warte ich helfe dir.« Clara griff nach dem Schleier und steckte ihn ihrer Schwester auf den Kopf. »Sei unbesorgt. Josef wird pünktlich sein. Schließlich lässt man eine so schöne Braut nicht warten.« Clara biss sich auf die volle Unterlippe. Sie spürte ein wenig Eifersucht in sich. Ihre große Schwester hatte alles, wovon eine Frau träumte. Einen jungen, gutaussehenden Mann mit einem großen Haus und viel Geld. Ingrid würde sich nie Sorgen über ihre Zukunft machen müssen, denn nach der Hochzeit hätte sie ausgesorgt. Clara hingegen fand keinen passenden Partner. Es war, als würde es keinen Mann für sie geben. Natürlich war Clara eine Augenweide und bekam auch viele Blicke. Leider war der alles entscheidende Blickkontakt noch nicht dagewesen. Jetzt ging sie notgedrungen mit einem Nachbarjungen zur Hochzeit ihrer Schwester. Clara war es sehr unangenehm, so dass sie sich gerne zu ihrer Schwester verdrückte. Während Clara Ingrid half, pulte Niels wahrscheinlich gelangweilt in der Nase. Er war zwei Jahre jünger als sie und hatte ebenso viel Lust wie sie mit Clara zusammen auf der Hochzeit zu sein. »Meinst du Mutter und Vater währen Stolz auf uns?«, fragte Ingrid und zupfte sich den Schleier zu Recht.

»Auf jeden Fall. Sieh dich doch an. Du wirst den gefragtesten Junggesellen von der Insel heiraten. Und außerdem trägst du Mutters Kleid.« Es schmerzte Clara, so etwas sagen zu müssen.

»Sie wären ebenso stolz auf dich. Ich bin dir vier Jahre voraus, die du nutzen solltest. Irgendwann wird dein Traumprinz mit seinem Rappen kommen und dich mit in sein Schloss nehmen.« Ingrid wand sich um und strich ihrer Schwester über die langen Locken. »Und das dieses Kleid mir passt ist allein dein Verdienst. Denn keiner kann so gut mit Nadel und Faden umgehen wie du.«

Die Eltern der beiden sind vor kurzem bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie waren auf einem Dampfer, der sie sicher aufs Festland bringen sollte. Doch sie kamen nie an. Ingrid und Clara redeten nicht gerne darüber. Sie meinten, dass sich ihre Erinnerungen an ihre Eltern verzerren könnten. Was die meisten Insulaner natürlich schwachsinnig hielten und sie für verrückt erklärten. Ein Klopfen an der Tür verriet den Schwestern, dass es Zeit war zu gehen. »Bist du soweit?«, fragte Clara. Ingrid nickte und nahm die Hand ihrer Schwester. Die Braut trat hinaus, über die gepflasterte Straße vor der St. Clemens Kirche. Ihr dünner Stoff des Kleides kitzelte sie an den Beinen, als sie die wenigen Stufen erklomm. »Es ist soweit.« Ingrid atmete tief ein. Da Franz seine Tochter nicht zum Altar bringen konnte, tat Clara es. Mit klopfendem Herzen und zittrigen Beinen begann Ingrid durch die Bänke zu schreiten. Josef, mit seinen blitzenden Zähnen und der Knollnase lächelte seine Braut liebevoll an. Erst als Clara ihm die Hand ihrer Schwester reichte, begann Ingrid ruhiger zu werden. Sie lauschte der Stimme des Pfarrers. Josef trug einen schwarzen Anzug. Der Krieg würde bald ausbrechen und Josef erwartete jeden Tag den Einberufungsbefehl mit der Post. Soldat zu sein gehörte zur Familientradition. Großvater Wilhelm, Onkel Berthie und Vater Johannes kämpften alle drei im 1. Weltkrieg. Wilhelm würde sicher nicht mehr einberufen, denn er war invalide und konnte nirgends eingesetzt werden.

Deshalb wollte der junge Mann seine geliebte Ingrid noch heiraten. Sollte ihm etwas passieren, wäre die junge Frau abgesichert und müsste sich um nichts mehr sorgen. Natürlich hatte Josef dies mit keiner Silbe erwähnt, als er Ingrid den Antrag gemacht hatte. Doch es spukte in seinem Kopf.

Josef drückte die Hand seiner Braut. Immer wieder flüsterte er ihr ins Ohr, wie sehr er sie liebte und was er alles mit ihr anstellen wollte. Mit erröteten Wangen begann Ingrid in den Hafen der Ehe einzutauchen. Den gesamten Tag ließ Josef seine Braut nicht los. Entweder hielt er ihre Hand so fest, dass es fast schmerzte, oder berührte lieblich ihren Rücken.

»Ich möchte einen Toast aussprechen...«, sagte Onkel Berthie. Sein Haar war streng nach hinten gebürstet worden und seine hohe Stirn glänzte im Lichtermeer der Kerzen. Er trug, genau wie sein Bruder, die Uniform aus dem 1. Weltkrieg. Die vielen Abzeichen ließen ihn streng wirken, obwohl genau das Gegenteil der Fall war.

»...Nun ist es endlich soweit. Josef Ludwig hat seine Braut gefunden. Sollen sie glücklich werden, gute und schlechte Zeiten überstehen und unserer Familie viele Nachkommen bescheren, so dass wir noch viele Hochzeiten feiern können. Auf das Brautpaar.« Er hob sein Glas und prostete den anderen Gästen zu. »Onkel Berthie«, murmelte Josef und schüttelte mit dem Kopf. Dabei strich Ingrid ihm lieblich über das wirre Haar.

Am Abend bezog das frisch vermählte Paar ihr neues Heim. Ein wunderschönes einstöckiges Reetdachhaus mit friesischen Fenstern auf einer Anhöhe Norddorfs. Der Blick auf die ständig wechselnden Gezeiten und die Gischt, die sich bei Hochwasser an den Klippen aufbäumt, luden zu einem ruhigen Leben ein. Josef hob seine Ingrid vor der Haustür auf die Arme und trug sie über die Schwelle. »Was sein muss, muss sein.« Er lächelte und küsste seine Braut auf die Stirn. Erst im Schlafzimmer, welches sich im oberen Stockwerk befand, ließ er sie auf die Matratze nieder. Er zog sich sein Jackett aus und streifte Ingrid die schmalen Riemen ihres Kleides von den Schultern. »Und das Haus gehört jetzt uns?«, fragte die frischgebackene Ehefrau. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn welches junge Paar bekam schon ein so großes Haus zur Hochzeit. »Ingrid. Dieses Haus ist schon lange in unserem Familienbesitz. Es stand eine lange Zeit leer und freut sich endlich wieder Leben in den Räumen spüren zu können.« Er küsste ihre Fußknöchel, als er ihr die Schuhe abstreifte.

»Wenn ich dir wehtue sag es mir bitte.« Er saß vor ihr in der Hocke und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du wirst mir nicht wehtun....« Sie bedachte sein Gesicht mit Küssen. »...Mein tapferer Ehemann. Komm zu mir.« Sie zog Josef zu sich aufs Bett und eine gewaltige Spannung der Lust überrollte das frisch vermählte Paar.

Nach dem Akt lagen sie eine Weile stumm nebeneinander. Keiner wollte über die bevorstehende Zeit reden, denn sie wussten nicht, wie lange sie noch einander hatten.

»Du, Ingrid. Ich...«, begann Josef das Gespräch.

»Ja?« Sie drehte sich auf die Seite und legte ihren Kopf in die Wiege ihrer Hand.

»Als dein Ehemann möchte ich in der Zeit in der ich noch bei dir bin, so viel wie möglich über dich erfahren. Seit ich dich kenne bist du mir ein Rätsel...«

»...und trotzdem hast du mich geheiratet?«, beendete Ingrid den Satz.

»Ja, weil ich dich liebe.« Er blickte sie an und küsste sie auf die Stirn. »Also bitte vertrau mir.« Er seufzte. »Ich werde dich nie fragen was dir widerfahren ist, denn ich hoffe, dass du es mir irgendwann von selbst erzählen wirst.« Er drehte sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Arme hinterm Kopf. »Weißt du meine Mutter und mein Vater waren die besten Eltern die man sich hätte vorstellen können. Meine Mutter hat uns jeden Morgen mit Pfannkuchen geweckt und unser Vater hat uns Geschichten erzählt. Nicht wie üblich aus Büchern. Er hat sich einfach zu uns unter die Decke gelegt und sich eigene Geschichten ausgedacht. Über Seefahrer und Piraten, über Prinzessinnen und Prinzen oder über Abenteurer die gruselige Ungeheuer besiegen wollten um eine schöne Jungfrau zu beeindrucken. Wir dachten das Leben würde immer so weitergehen und nichts könnte uns aufhalten.« Ingrid wischte sich, eine verirrte Träne aus dem Gesicht. »Mein Vater wollte aufs Festland um neue Arbeiter für die Fischerei anzuwerben. Er fuhr sehr gerne mit dem Dampfer aufs Festland und brachte uns immer eine Überraschung mit. Meine Mutter blieb zu Hause bei uns, bis auf dieses eine Mal. Sie hatten gerade ihren vierzehnten Hochzeitstag und wollten mal wieder unter sich sein. So beschloss Vater, Mutter mit aufs Festland zu nehmen. Ihr etwas Schönes zu kaufen und einfach mal wieder Zeit mit ihr zu verbringen. Allein. Weißt du. Nicht mit uns Kindern. Wir waren groß genug um zwei Nächte allein zu sein. Mutter hatte gut eingekauft und die Nachbarin sollte ab und zu mal nach dem Rechten schauen.« Ingrid seufzte, während Josef nach ihrer Hand griff und ihr lieblich über die Fingerknöchel strich. »Es war neblig und feiner Regen tröpfelte auf uns hinab. Erst wollte Vater die Reise verschieben, doch meine Mutter hatte sich schon so sehr gefreut, dass er nicht nein sagen konnte. O, Gott. Hätte er doch bloß.«

»Komm zu mir.« Josef zog seine Frau in seinen Arm und küsste sie abermals auf die Stirn.

»Wir standen am Anlegeplatz und winkten den fröhlichen Gesichtern hinterer, die im dichten Nebel verschwanden. Erst am Abend erfuhren wir von Frau Kreuzer, der Nachbarin, dass der Dampfer mit einem Frachtschiff kollidierte. Das Schiff ist dem Dampfer ohne Vorwarnung in die Seite gerammt und hat alle Passagiere in den Tod gerissen. Vielleicht starben sie nicht, weil die Schiffe zusammengestoßen sind, sondern weil das Wasser einfach zu kalt war, weil sie zu stürmisch war oder weil es einfach an der Zeit war zu sterben? Denkst du, dass der Tod schon auf uns wartet und einen Zeitpunkt bestimmt?«

»Du meinst, dass wir an einem bestimmten Zeitpunkt sterben werden egal wo wir uns befinden?« Ingrid nickte. »Könnte doch sein.«

»Vielleicht?« Josef hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Er dachte an die Zeit, die ihm bevorstand, an Großvater Wilhelms Geschichten aus dem 1. Weltkrieg. Über die verlorenen Blicke von seinem Vater und Onkel Berthie. Sie alle hatten überlebt, also würde Josef es auch schaffen.

Wie stolz Großvater war, als er erfuhr, dass seine Söhne erneut in den Krieg ziehen dürfen. Nun fehlte nur noch sein Enkel. »Versohle Ihnen die Ärsche«, hatte er taktlos beim gemeinsamen Familienessen gesagt. Josef konnte dies nur belächeln. Nach außen hin wollte er sich als starker Soldat präsentieren, während im inneren die Angst lauerte.

Am darauffolgenden Tag lud Onkel Berthie die Familie zum Essen ein. Hoffentlich gibt es heute keine Streitereien, dachte Josef, als er seiner Frau den Stuhl zurechtrückte. Ihr langes Kleid war figurbetont geschnitten, woraufhin die Herren am Tisch gern einen weiteren Blick riskierten.

»Und Junge bist du schon aufgeregt?«, fing Großvater gleich mit dem gefürchteten Thema an.

»Großvater muss das jetzt sein?«, fragte Josef. Auf keinen Fall wollte er, dass Ingrid mitbekam, wie Wilhelm über den Krieg berichtete. »Natürlich. Bald wirst du den Einberufungsbefehl in der Post haben und dann wirst du endlich ein richtiger Ludwig sein. Du wirst in den Klub der Herren aufgenommen werden und einige Dinge erfahren, die niemand sonst weiß.« Großvater klopfte seinen beiden Söhnen, die neben ihm saßen auf den Rücken. Wenn Ingrid an den Einberufungsbefehl dachte, den Josef mit Sicherheit demnächst bekommen wird, krampfte sich ihr unwillkürlich der Magen zusammen.

»Was denn für Dinge, wenn ich fragen darf?« Ingrid nahm ihr Glas und trank einen Schluck Wein.

»Dinge die man von Soldat an Soldat weitergibt.« Wilhelm blinzelte ihr zu. Obwohl die Familie Ludwig sehr wohlhabend ist, war Wilhelm nicht in der Lage seine Zähne pflegen zu lassen. Entweder fehlten sie oder waren vergammelt. Deswegen war Ingrid bei der Hochzeit nicht traurig darüber, dass Opa Wilhelm schon früh nach Hause musste. Er trank gerne mal einen über den Durst und war dann kaum zu bändigen. Deswegen hatten die männlichen Familienmitglieder immer ein Auge auf ihn, um Großvater schnell aus dem Verkehr zu ziehen. »Und was ist das so?« Ingrid ließ nicht locker, was Josef gar nicht mochte.

»Das werde ich dir erzählen, wenn Großvater es mir erzählt hat.« Lieblich küsste er seine Frau aufs Ohrläppchen. Ingrid legte den Kopf schief und genoss diese kurze Liebkosung von ihrem Ehemann. »Was wirst du denn während Josefs Abwesenheit tun?«, fragte Opa Wilhelm weiter.

»Ich bin mir nicht sicher...« Ingrid suchte in Josefs Gesicht nach Hilfe.

»Du könntest den Damen beim Nähen helfen, die Ernte beaufsichtigen oder sich um die Koordination der Fischer auf dem Meer kümmern.« Opa Wilhelms Blick brannte sich in den ihren und ließ Ingrid kaum Luft zum Atmen. Es war, als würde ihr die Kehle zugeschnürt werden. »Letzteres würde dir wahrscheinlich am einfachsten vorkommen, denn dein Vater war doch ebenfalls in der Fischerei tätig.« Er drehte den Kopf und fuhr sich mit seiner Hand durch die speckigen Haare. Wenn Ingrid sich ihn so ansah, hatte er Ähnlichkeit mit einem Gnom und sie fing stumm zu lachen an. »Blitzmädchen gab es auch im 1. Weltkrieg und sie waren echt ein Hingucker.« Er lächelte.

»Was sind Blitzmädels?« Ingrid legte ihr Besteck beiseite.

»Sie leisten militärische Hilfsdienste. Ihre Ausbildung dauert mindestens zwölf Wochen.«

»Ach so. Und deswegen werden sie Blitzmädels genannt?« Opa Wilhelm nickte.

»Du musst dir das nicht anhören, wenn du nicht möchtest«, murmelte Josef.

»Doch, doch. Ich finde das sehr interessant.«

»Sieh dir das an Josef. Deine Frau weiß was sie will. Du bist doch beim roten Kreuz tätig?«

Ingrid nickte stumm. »Dann könntest du sogar im Lazarett aushelfen. Sie nehmen gerne Frauen, die im Gesundheitswesen Erfahrung gesammelt haben.«

»Das hört sich echt spannend an.« Ingrid legte ihre Hände übereinander auf den Tisch.

Wilhelm hielt sein Glas in die Höhe. Jetzt wurde auch der Rest der Familie hellhörig. »Da ich gestern schon früh von der Hochzeit weg musste, möchte ich Ingrid heute herzlich in der Familie willkommen heißen.«

»Ist das unangenehm«, flüsterte Ingrid ihrem Ehemann zu.

»Herzlich willkommen in der Familie.« Josef schlang seinen Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Schläfe.

Wellen der Vergangenheit

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