Читать книгу Nela Vanadis - Nina Lührs - Страница 11

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Heikle Hindernisse

Graue Regenwolken bedeckten den Himmel, als Jarick und seine Gefährten in Asenheim eintrafen. Galoppierend ritten sie durch die verwaisten Straßen. Orangefarbenes Licht schimmerte durch die unzähligen Fenster, doch das nasskalte Grau war zu hartnäckig, ließ sich nicht erwärmen.

An der Kreuzung zur Himmelsburg gab Jarick seinen Begleitern mit einer strengen Handbewegung den Befehl, zu seinem Palast Glitnir zu reiten. Nur widerwillig fügten sie sich, als sie Jaricks entschlossenen, kalten Blick bemerkten. Unbarmherzig trieb Jarick Samru an, denn er musste schleunigst mit Heimdal unter vier Augen sprechen. Gewiss vertraute der Wächter der Schicksalsbrücke ihm umfangreiche Informationen über Nelas Verbleib und die Schicksalstore an, wenn sie von Asengott zu Asengott miteinander sprachen.

Ihm graute bei dem Gedanken, wenn Nela mit ihrem Entführer in einer feindlich gesinnten Welt festsaß und ihr noch mehr Leid widerfahren könnte. Die Nornen spannten für seine Minamia einen leidvollen Pfad, der endlich eine andere Richtung einschlagen musste. Seit ihrem Verschwinden war es für Jarick unmöglich, Nela länger nur als seine Schülerin zu betrachten. Denn es war trotz seiner Forderungen an sich und auch an Nela ausgeschlossen, seine wahre Liebe zu leugnen. Vor allem, wenn sie durch sein eigenes Unvermögen in Gefahr geraten war.

Zügig erreichte Jarick den Fuß des Berges, auf dem sich Heimdals Palast mit der Schicksalsbrücke Asbru befand. Rücksichtslos trieb er Samru den gefährlichen Pfad hinauf. Nicht nur seine Sorge um Nela machte ihn fahrig, sondern auch seine Unachtsamkeit. Kälte durchfuhr Jarick. Unbedacht bewirtete er die unwillkommenen Gäste Gersimi und Syn und unterhielt sie, obwohl es unüblich war, einem Meister in der ersten Zeit der Kenning einen Besuch abzustatten. Doch Jarick wollte um jeden Preis verhindern, dass jemand argwöhnisch wurde, und damit seine Liebe zu Nela entdecken könnte. Wie außerordentlich dumm von ihm! Damit hatte er seine Nela in Gefahr gebracht, sie der Obhut anderer anvertraut, die kläglich versagten. Nein, er hatte versagt. Unbedingt wollte er den Anschein wahren, dass seine Sebjo sich nach den gesellschaftlichen Normen verhielt. Hätte er Nelas Bitte gestattet, Till und Bado in ihre Kemenate zu lassen, wäre sie nicht abermals entführt worden. Wo war sein angeborenes Misstrauen geblieben? Die Angst um die Enthüllung seiner Liebe hatte ihn blind werden lassen. Das würde ihm nie wieder passieren, durfte nie wieder geschehen.

Endlich erreichte er das große Tor der Himmelsburg. Sogleich wurde Jarick von Heimdals Hausmeier Raik in Empfang genommen. „Mein Ansu erwartet Euch bereits.“

„Bringt mich zu ihm.“

„Gewiss“, nickte Raik. Jarick folgte dem Hausmeier den langen Korridor entlang zu dem Salon, in dem Heimdal stets seine Gäste empfing.

Bei seinem letzten Besuch in der Himmelsburg hatte er diesen Raum zusammen mit Nela betreten. Er erinnerte sich daran, als Nela eingehend die Wandteppiche mit den neun Welten betrachtete. Nun befand sie sich in einer dieser Welten. Inständig hoffte Jarick, dass Heimdal ihm gleich mitteilte, dass seine Nela in Midgard auf ihn wartete. Doch sein beunruhigtes Bauchgefühl verriet ihm, dass seine Hoffnung sich nicht erfüllen würde. Das Schicksal war äußerst selten gnädig.

„Gervarus, ich erwarte Euch bereits“, begrüßte Heimdal den Asen.

Ohne sich lange mit höflichen Begrüßungsfloskeln aufzuhalten, fragte Jarick geradewegs: „Wo befindet sich meine Schülerin, und wie ist es möglich, dass aus heiterem Himmel ein Schicksalstor auf meinem Land auftaucht?“

„Meine Antwort wird Euch nicht erfreuen“, begann Heimdal unheilvoll, „Eure Schülerin fiel durch ein natürlich auftretendes Schicksalstor. Das sich hin und wieder öffnet. Allerdings führt es nur in eine Richtung. Sie kann es also nicht für ihren Rückweg nutzen.“

„Wo ist sie?“, unterbrach Jarick ihn ungeduldig.

„In Hel.“

„Wo?“, konnte Jarick es nicht glauben. Er musste sich verhört haben, seine Ohren spielten ihm einen Streich. Unmöglich konnte seine Nela in der Unterwelt festsitzen. Lass sie in Vanaheim, Jötunheim oder auch im Zwergenreich sein, flehte Jarick innerlich. An diese Orte konnte er problemlos gelangen.

„Eure Schülerin Lunela Vanadis befindet sich in Hel.“

Fassungslos starrte Jarick den Wächter der Schicksalsbrücke Asbru an. Das durfte einfach nicht wahr sein! Verfluchte Nornen! Jarick nahm Nela als seine Schülerin in seine Sebjo auf, damit er von Odin nicht nach Hel verbannt wurde, und nun befand sich seine Minamia dort?

„Bring mich unverzüglich dorthin!“, forderte Jarick unüberlegt.

„Nein“, lehnte Heimdal seine Forderung konsequent ab. „Hel ist keine Welt, der man einfach einen Besuch abstatten kann. Hel ist die Unterwelt. Dorthin schicke ich nur verbannte Schurken und Gesetzesbrecher. Kommt jetzt nicht auf den Gedanken, Euch verbannen zu lassen. Das bringt weder Euch noch Eure Schülerin zurück in die anderen Welten. Denkt an Euren Vater. Auch er hat bisher keinen Ausweg aus seiner Verbannung gefunden. Hofft darauf, dass Hel diesen Irrtum erkennt und Eure Schülerin wieder entlässt.“

Balder, bitte kümmere dich um meine Minamia, flehte Jarick in Gedanken. Ein Fünkchen Hoffnung keimte in ihm, dass er seinen Vater mental erreichte. Doch Jarick wusste, dass seine mentalen Fähigkeiten nicht über die Grenzen der Welten hinausreichten. Nornen, ich fehle Euch an, führt meine Minamia und meinen Vater zueinander. Die Vorstellung, Balder würde sich seiner Nela annehmen, beruhigte sein aufgewühltes Herz, ließ ihn seine Gefühle beherrschen.

„Hel. Es ist schon sehr viel Zeit vergangen, seit ich mit ihr sprach“, dachte Jarick an die Herrin der Unterwelt. Niemals würde sie ohne Gegenleistung seine Bitte akzeptieren, seine Schülerin freizugeben. Egal, wie jemand nach Hel gelangte, gehörte in ihre Welt, betrachtete sie als ihren Untertanen. Sobald jemand jedoch die Unterwelt verließ, wie auch immer dies geschah, gab sie jeglichen Anspruch auf ihn auf. Er musste einen Weg finden, Nela ohne die Herrin der Unterwelt aus Hel zu befreien, denn Jarick war sich bewusst, dass die Göttin verlangen würde, dass jemand Nelas Platz einnahm, nicht irgendjemand, sondern der, der die Bitte aussprach.

„Ja, äußerst selten verlässt sie ihre Welt, um sich mit anderen Göttern auszutauschen“, wusste Heimdal.

„Gibt es viele geheime Tore, die sich plötzlich in den neun Welten öffnen?“, forschte Jarick nach.

„Ja, die gibt es. Allerdings führen sie nicht alle nach Hel.“

„Weshalb gibt es sie?“

„Stellt Euch Yggdrasil als einen Palast vor und die Welten als Zimmer. Es gibt Türen, durch die man von einem Raum in den anderen gelangen kann. Und es gibt zwei Türen, die es möglich machen, jeden Raum zu betreten. Natürlich gibt es auch geheime Türen, die im Verborgenen liegen. Diese Geheimgänge sind die natürlichen Tore. Einige von ihnen stehen immer offen, führen in beide Richtungen, andere schließen sich wieder und führen nur in eine Richtung. Euer Schicksaltor war ursprünglich ebenfalls ein natürliches.“

„Woran erkennt man, dass man durch ein Tor auch wieder zurückkehren kann?“, hakte Jarick nach.

„An den Fäden“, war Heimdal nicht bereit, mehr zu verraten.

„Woher weiß man, in welche Welt das Tor führt?“, wollte Jarick nun wissen.

„An den Fäden. Allerdings besitzen wenige Tore auch ein Symbol.“

Heimdals Antworten brachten Jarick nicht weiter. „Bisher merkte ich keinen Unterschied bei den Fäden, wenn ich von einer Welt in die andere gelangte.“

„Weil Ihr nicht darauf geachtet habt, Gervarus. Selbst Asbru unterscheidet sich sehr zu Eurem Schicksalstor.“

Jarick dachte über Heimdals Worte nach. Doch konnte er sich an keinen Unterschied erinnern. Jedes Mal empfingen ihn die Fäden und zogen ihn in die andere Welt. „Worauf muss ich achten?“

Heimdal lächelte verneinend. „Ich bin untröstlich, aber ich kann es Euch nicht anvertrauen.“ Selbstverständlich verriet er nicht jedes Geheimnis der Schicksalstore.

„Heimdal, ich kann meine Schülerin nicht in Hel lassen. Bitte gebt mir einen Rat, wie ich es bewerkstelligen kann, sie ohne Hels Beteiligung zurückzuholen“, bat Jarick eindringlich, denn es war keine Lösung, mit Nela den Platz zu tauschen. Zwar wäre Nela dann zurück, aber nicht in Sicherheit. Jarick wäre dann unfähig, sie vor ihren Feinden zu beschützen. Zudem wären sie dann weiterhin getrennt. Jarick konnte und wollte nicht von seiner Minamia getrennt leben. Er musste sie in seiner Nähe haben. Auch wenn er sie nicht lieben durfte, so wollte er doch ihre Freundschaft.

„Ich verstehe Euren Zwiespalt. Ihr seid für Eure Schülerin verantwortlich, und gewiss wird es Odin und Freya sehr erzürnen, wenn sie erfahren, dass Ihr die letzte Vanadis an Hel verloren habt. Hier ist mein Rat: Geht nach Midgard. Sucht dort nach dem Vanadis-Tor.“ Mit einem Nicken verabschiedete sich der Wächter der Schicksalstore. Mehr würde Jarick von ihm nicht erfahren.

„Ich danke Euch.“

Als Jarick auf Samru die Himmelsburg verließ, entluden sich die grauen Wolken. Strömender Regen nässte die Straßen und Gebäude Asenheims. Kein Bewohner der Stadt streifte durch die Straßen und Gassen. Jeder suchte vor diesem Unwetter Schutz im Innern der Paläste und Häuser. Nur Jarick ritt durch die verlassenen Straßen, die in dem grauen Licht trostlos wirkten. Das lausige Wetter passte hervorragend zu seiner Gemütsverfassung. Das Einzige, was ihn nicht verzweifeln ließ, war die Tatsache, dass seine Nela noch lebte. Sie war klug, stark und eine Überlebenskünstlerin. Sie würde die Zeit auch ohne Balder lebend überstehen, die er benötigte, um zu ihr zu gelangen. Doch wie sollte es ihm nur gelingen, Nela aus Hel zu befreien, ohne selbst dort zu stranden? Sollte er keinen anderen Weg finden, würde er sich nach Hel verbannen lassen. Dann wäre er an ihrer Seite. Am liebsten hätte er sich sogleich selbst verbannt, denn er trug die Schuld, dass seine Nela in Hel war. Regen peitschte ihm ins Gesicht, strafte ihn für seine Unachtsamkeit.

Vor Breidablik, dem Palast seines Vaters, stoppte er Samru, hielt sein Gesicht dem prasselnden Regen entgegen. Das Wasser nässte seine Gewandung, Kühle umhüllte seinen Leib, kroch in seine Glieder. Eine ungewohnte Kälte befiel seine Gefühle, ließ ihn zittern. Der Regen verbarg seine sorgenvollen Tränen.

„Nornen, gebt mir einen Hinweis! Gebt mir irgendetwas, wo ich mit der Suche nach dem Vanadis-Tor beginnen soll“, flehte er die Schicksalsfrauen an. Angespannt wartete er auf ein Zeichen, doch die Nornen erbarmten sich nicht, ihm die Suche nach seiner Nela zu erleichtern.

„Verfluchte Nornen“, machte Jarick seinen ohnmächtigen Ärger Luft. „Warum tut Ihr uns das an? Habt Ihr Euch noch nicht genug an unserem Leid ergötzt?“

Natürlich antworteten sie nicht, hüllten sich wie stets in Schweigen. Jarick konnte sich nur auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen.

In einem beeindruckenden Gleitflug trotzte Winifred dem Unwetter, landete auf Jaricks Schulter und lehnte ihren Kopf mitfühlend an seine Wange. Winifred störte sich nicht an ihr durchnässtes Gefieder, blieb an der Seite ihres Ansus und besten Freundes. Seine weise Beraterin stand ihm in dieser vermaledeiten Situation zur Seite.

Vanadis-Tor? Welches Tor meinte Heimdal? Jarick konnte sich nicht vorstellen, dass es sich dabei um das Schicksaltor handelte, das von dem Palast Folkwang in Asgard zum Hauptordenshaus der Elhazen in Midgard führte. Unentwegt grübelte er über Heimdals Worte nach.

In seinen Gedanken betrachtete er das Denkspiel, ließ Winifred daran teilhaben: Ein Schicksalstor, das den Vanadis gehört und es mir ermöglicht, nach Hel zu gelangen. Plötzlich durchfuhr ihn ein Geistesblitz, angeregt von seiner Beraterin: das Neunweltentor. Dieses besondere Schicksalstor war in Midgard und die Vanadis waren die Wächter wie Heimdal über Asbru. Das Neunweltentor war genauso wie Asbru ein Schicksalstor, von dem aus man in jede der neun Welten reisen konnte.

Nur wo in Midgard befand sich das Neunweltentor? Jarick wusste es nicht, hatte keinen Anhaltspunkt, wo es sich befinden könnte. Auch Winifred kannte den geheimen Ort nicht. Es war ein sehr gut behütetes Geheimnis, das nur der Großprior des Ordens Elhaz kannte, aber es musste Hinweise geben. Die Suche würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Viel zu lange für Jaricks strapazierte Geduld. Jede Minute, die verstrich, beunruhigte ihn zusehends. Seine Minamia war in Hel gefangen, an einem Ort, an dem Schurken, Verbrecher und Meuchelmörder lebten.

‚Wir müssen nach Midgard.‘ Hastig trieb er Samru an, galoppierte auf den schnellsten Weg zu seinem Palast. Noch heute mussten er und seine Freunde nach Midgard aufbrechen.

‚Zu Johanna Bonengel‘, riet ihm Winifred mental.

Nela Vanadis

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