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Der Ausritt

Eine graue, undurchdringliche Wolkendecke verlieh dem Herbsttag einen tristen Schleier. Nirgends leuchteten die farbenfrohen Blätter, sondern hingen trostlos in verschiedenen Grauschattierungen an den gespenstischen Ästen. Statt eines hellen Khakis lag das verwelkte Gras trüb in einem dreckigen Olivgrün am Boden, über den sie schwerfällig gen Süden ritten. Mit hängendem Kopf trottete der Rappe den Lichtfüchsen hinterher, fügte sich gleich seinem Herrn dem unerwünschten Ausritt.

„Ist das nicht ein herrlicher Tag?“, lobte Gersimi überschwänglich den schwermütigen Morgen, dabei drehte sie sich kurz zu Jarick um. Vorfreudig funkelten ihre Augen, ihre Lippen kräuselten sich zu einem koketten Grinsen.

Doch Jarick konnte nichts Begeisterungswürdiges an diesen grauen Vormittag finden. Eine stetig wachsende Unrast, die sich schleichend von seinem Herzen ausgehend in seinen Adern ausbreitete, nagte an ihm. Er sollte nicht hier mit Gersimi und Syn sein, sondern bei Nela. Er musste sich um seine Minamia, nein, verbesserte er seinen Gedanken, um seine Schülerin kümmern, damit sie das Grauen vergaß, das Fido ihr zufügte. Fido, die Erinnerung an den bestialischen Drauger nährte seinen Blutdurst. Sogleich umschlossen seine Finger die Zügel fester, ein zorniges Grollen kroch seine Kehle empor. Doch ließ er den Laut nicht hinaus, erstickte ihn. Zwar kostete es ihm ungeheure Selbstbeherrschung, aber er durfte sich nichts anmerken lassen, durfte nicht durch sein Verhalten seine wahren Gefühle für Nela offenbaren. In den Augen der neun Welten war sie seine Schülerin, die er nicht lieben durfte. Ihr gutbehütetes Geheimnis kannten nur wenige Eingeweihte, denen Jarick und Nela ohne Einschränkung vertrauten. Der Lysane wollte sich gar nicht ausmalen, was es bedeutete, wenn ein Feind von ihrer unterdrückten Liebe zueinander erfuhr. Der Entdecker könnte ihn ausnahmslos erpressen, denn Jarick würde alles tun, um das Leben seiner Nela zu schützen.

„Ja, durchaus“, pflichtete Syn der Vanin bei, während sie ihr Pferd stoppte und ihr Gesicht mit geschlossenen Augen dem wolkenverhangenen Himmel entgegenstreckte. Ein herrlicher Herbstmorgen für die lichtscheuen Lysane, weil die Sonnenstrahlen, die sie schwächten, nicht durch die dicke Wolkendecke drangen.

Jarick sah nicht zu ihr, richtete seinen Blick zur Burg Glitlindi, die er nur als kleinen Fleck in der Ferne wahrnahm. Dort musste er sein. Nicht hier, nicht in Gesellschaft der beiden Lysaninnen. Fast war er geneigt, Samru herumzureißen, einfach seinen Gefühlen nachzugeben, die ihm fortwährend zuflüsterten, dass er bei Nela sein musste.

„Trotzdem hoffe ich, dass wir Euch mit unserem spontanen Besuch nicht allzu sehr von Euren Pflichten fernhalten, Gervarus“, sprach seine Verlobte ihn verständnisvoll an. Die gerechtigkeitsliebende Asin war äußerst pflichtbewusst und verkörperte überzeugt die Gesetze und Werte der eingeweihten Welt. Zudem legte sie sehr viel Wert auf die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Eine Zuwiderhandlung innerhalb ihrer Sebjo bestrafte sie unverzüglich, ohne eventuelle triftige Gründe abzuwägen. Jarick hingegen wog genau ab, welcher Verstoß aus welchen Gründen geschah.

„Ach, Syn“, bemerkte Gersimi dünkelhaft, „Ihr und Eure Pflichtbesessenheit. Gervarus befindet sich fortwährend in seiner Auszeit, und momentan braucht er sich, um sein Bündnis nicht zu kümmern, weil Lunela sich zuerst erholen muss. Also hat er ausreichend Muße, um mit uns Zeit zu verbringen.“

Mit einem verachtenden Blick strafte Jarick Gersimi, der ihr jedoch entging, da sie zu sehr damit beschäftigt war, sich in Syns Bestürzung zu aalen. Jarick konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, was ihn vor Jahrhunderten dazu bewegt hatte, eine unverfängliche Affäre mit Gersimi einzugehen. Zum Glück war er damals so geistesgegenwärtig gewesen und hatte ihr nicht seine Arwa verliehen. Nicht auszudenken, welche Ränkespielchen seine Sebjo erdulden müsste, wenn Gersimi die Stellung der Badjana innehätte.

Abermals fragte er sich, was er hier in der Wildnis mit seiner Verlobten und seiner ehemaligen Mätresse verloren hatte? Sein Verstand kannte die Antwort zur Genüge, aber sein Herz wollte sie nicht akzeptieren. Es wollte, dass er Nela schützend in seinen Armen hielt, jegliches Leid von ihr fernhielt.

„Das trifft auf Lunela zu, aber nicht auf Tristan“, versetzte Syn, die sich wieder gefangen hatte. „Gervarus muss seinem Bündnis in der ersten Zeit der Kenning seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenken, damit aus ihnen schnellstmöglich gute Alvaren werden. Es wäre eine Schmähung, wenn das Bündnis Forsetis nur eine unzureichende Stellung innerhalb der Alvarengemeinschaft einnehmen würde.“

Dankbar für die Möglichkeit, die Syn ihm bot, diesen Ausritt rasch zu beenden, beteiligte er sich an dem Gespräch. „Ihr habt Recht, Syn. Wie konnte ich meinen Schüler nur vergessen. Ich sollte möglichst bald zurückkehren und ihn unterweisen.“

„Das muss doch nicht sofort sein. Gönnt Tristan doch eine kurze Pause von der kräfteraubenden Kenning. Außerdem wird er Lunela voraus sein“, gab Gersimi betulich zu bedenken. Als ob sie es wirklich interessierte, wie es den Elhazen während ihrer Kenning erging! Das Einzige, was Gersimi in diesem Moment beabsichtigte, war, diesen Ausritt nicht abzubrechen, der ihr überaus zusagte. Sie genoss die Möglichkeit, Syn fortwährend vor ihm bloßzustellen, machte seiner Verlobten überaus deutlich, dass sie ihren Verlobten nicht kannte, nicht die richtige, zukünftige Gemahlin an seiner Seite war. Was Jarick betraf, wollte er weder Syn noch Gersimi als seine Gemahlin, denn ihm widerstrebte nicht nur der Gedanke an eine vertraglich geregelte Muntehe, sondern auch die Tatsache, einer Fremden die Rechte der Gemahlin innerhalb seiner Sebjo einzuräumen. Es würde das Leben seiner Lidam, seiner Minamia und auch seines drastisch ändern.

„Kein Kenninger lernt gleich schnell, Gersimi. Eure Sorge um Lunelas möglichen Rückstand ist daher unbegründet“, klärte Jarick sie ungehalten auf.

„Gewiss, Meister“, spottete Gersimi erheitert, bevor sie ihre Hand beschwichtigend auf seinen Oberschenkel legte.

„Gersimi, Euer Gebaren ist überaus ungehörig“, entfuhr es Syn erbost. Daraufhin lachte die Vanin erheitert.

Flink ergriff Jarick ihre Hand, hielt damit Gersimi Einhalt, sich weiter zu seiner intimen Stelle vorzutasten, die nur noch eine einzige Frau berühren durfte. Die Erkenntnis überraschte ihn nicht, aber brachte zugleich auch Schwierigkeiten mit sich. Wenn Odin ihn zwang, sich mit Syn zu vermählen, würde er seiner Pflicht als Gemahl nachkommen können. In der lysanischen Gesellschaft war es üblich, nicht monogam zu leben. Denn Liebe galt als ein lästiges, schwächendes Leiden, von dem sich jeder Vorderer hüten sollte. Jedoch verspürte er den übermächtigen Drang, seiner Minamia treu zu sein, auch wenn sie sich nicht mehr näher kommen durften.

„Gersimi, Ihr vergesst Euch!“, ermahnte Jarick seine einstige Mätresse kühl.

„Seit wann seid Ihr so zurückhaltend?“, stichelte Gersimi mit einem anzüglichen Grinsen. „Ich erinnere mich an Situationen mit Euch, die Syn gewiss die Schamesröte ins Gesicht triebe, wenn sie davon erführe. Allerdings sollte ich sie vielleicht vorwarnen, damit sie weiß, was auf sie zukommt, sobald sie Eure Gemahlin wird.“

„Gersimi“, fuhr Jarick sie an, „mäßigt Eure Zunge!“ Er besaß augenblicklich keine Geduld für Gersimis intrigantes Benehmen. Zudem wollte er sich auch nicht wortgewandt auf einen Schlagabtausch einlassen.

„Fürchtet Ihr Euch etwa, dass Eure Zukünftige schockiert sein könnte?“, bemerkte Gersimi spitz.

„Nein, eher über Eure Unverfrorenheit, Euch in Angelegenheiten einzumischen, die Euch nichts angehen“, erwiderte Jarick aufgebracht.

Ein selbstgefälliger Zug kräuselte ihre Lippen. „Ihr wisst doch, ich mische mich überaus gern in fremde Angelegenheiten ein.“

Ihr herausfordernder Blick schürte in ihm den Verdacht, dass Gersimi nicht mehr über ihre Affäre sprach, sondern etwas im Schilde führte. Aber was führte sie im Schilde? Wollte sie mit einer perfiden Intrige Syn bei Odin in Ungnade fallen lassen, damit der Allvater die Asin nicht länger seinem Enkel zur Gemahlin geben wollte? Gersimi war eine Meisterin in Ränkespielen. Er musste auf der Hut sein, denn Gersimi gaukelte wieder einmal. Nur welches Spiel spielte sie? Wen hatte sie zu ihren Spielsteinen auserkoren?

„Gersimi, Ihr seid ein liederliches Fräulein. Niemals hätte ich erwartet, dass Ihr Euch derart vergesst“, entfuhr es Syn erzürnt.

„Liederlich?“, funkelte Gersimi die Asin pikiert an.

Nun brach ein Wortgefecht zwischen den beiden Lysaninnen aus, die sich auf seiner Burg selbst eingeladen hatten und seine Gastfreundschaft und ihn uneingeschränkt in Anspruch nahmen. Schnellstmöglich sollte sein unerwünschter Besuch wieder abreisen. Er musste sich uneingeschränkt um Nela kümmern, stattdessen gab er den charmanten Gastgeber und ließ sich von Gersimi für ihre Intrige gegen Syn benutzen.

Mit einem kurzen Befehl beendete Jarick vorerst das unbedeutende Gezanke. Beide Lysaninnen sahen ihn an, allerdings schaute nur Syn betreten drein. „Wir kehren zur Burg zurück. Zudem halte ich es für ratsam, dass Ihr Euch bis zu Eurem baldigen Aufbruch aus dem Weg geht.“

Ohne auf eine Zustimmung zu warten, trieb Jarick Samru an. Während er rasch über die Wiesen zur Burg galoppierte, machte er sich nicht die Mühe, nach hinten zu blicken. Es war ihm einerlei, welche weiteren Hässlichkeiten sich die beiden Frauen an den Kopf warfen oder welche Verletzungen sie sich gegenseitig zufügten.

Als er den Burghof erreichte, drosselte er Samrus Tempo. Noch bevor der Hengst zum Stillstand kam, schwang er sich aus dem Sattel. Eilig rannte er die wenigen Stufen zum Wohnturm hoch. An der Treppe zu den Gemächern traf er auf Tristan. „Schon zurück? Ich bin auf den Weg zu Nela“, begrüßte ihn sein Schüler.

„Ich begleite dich.“

Als er die erste Stufe betrat, berührte ihn zaghaft eine kühle Hand. „Verzeiht! Ich wollte Euch nicht verärgern“, sagte Syn niedergeschlagen.

„Euch trifft keine Schuld, Syn. Allerdings ersuche ich Euch, meine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch zu nehmen. Wie Ihr bereits erwähntet, muss ich mich um mein Bündnis kümmern.“

„Selbstverständlich“, verneigte sich Syn pflichtgemäß. „Ich werde noch in dieser Stunde nach Asenheim zurückkehren. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.“

„Möge das Schicksal Euch wohlgesonnen sein“, verabschiedete Jarick sie höflich.

Der Ase sah seiner aufgezwungenen Verlobten hinterher, als sie sich langsam entfernte. Sein Blick flog durch das Foyer der Burg. Gersimi war nirgends zu sehen, jedoch spürte er ihre Aura auf dem Burghof. Sie tat ganz gut daran, ihn nach ihrem ungebührenden Benehmen zu meiden.

Gemeinsam mit Tristan erklomm er die Stufen und ging den Korridor entlang, der zu Nelas Kemenate führte. Die Unruhe, die er bereits am Morgen gespürt hatte, kehrte zurück. Ein drohendes Unheil lag in der Luft. Ganz konnte er diese Bedrohung nicht benennen, es war nur ein Gefühl, das sich in seinem Innern mit jedem Schritt verstärkte. Doch als er vor Nelas Tür stand, bemerkten seine lysanischen Instinkte, dass sie sich nicht in ihrer Kemenate befand.

Unbeherrscht stieß er die Tür auf. Entsetzt starrte er in das Gemach. Hedda lag bewusstlos neben dem gedeckten Frühstückstisch. Von Nela fehlte jede Spur.

„Hedda!“, kniete Tristan sich neben die Magd und berührte sie sanft an der Schulter. Doch das Mädchen reagierte nicht. Jarick trat an den Tisch heran, nahm einen Becher in die Hand und roch daran. Seine Hand ballte sich zur Faust, als er den schwach süßlich-bitteren Geruch des Giftes wahrnahm.

„Dämmerschlaf“, benannte Jarick den geschmacklosen Trunk.

„Nela antwortet nicht“, entfuhr es Tristan entsetzt.

„Sie kann nicht. Der Dämmerschlaf hüllt ihren Geist ein. Wir müssen warten, bis die Wirkung nachlässt.“ Es fiel Jarick schwer, die Worte auszusprechen und sich selbst zu einem kühlen Vorgehen zu zwingen. Unüberlegte Handlungen würden Nela nicht retten, sondern ihre Lage noch verschlechtern. Zwanghaft kämpfte Jarick gegen sein rachedurstiges Lysanen-Ich. Keineswegs durfte er die Kontrolle über sich verlieren und jedem, dem er auf der Suche nach seiner Minamia begegnete, seinen Zorn spüren lassen.

„Sie muss noch auf der Burg sein.“

„Nein“, enttäuschte Jarick seinen Schüler. Er konnte Nelas Aura nicht spüren. Jarick sah auf seine Hand, konzentrierte sich auf die unsichtbaren Schnüre. Nela befand sich in Asgard. Außerdem konnten die Entführer noch nicht weit sein. Als Jarick zu dem Ausritt mit Gersimi und Syn aufbrach, hatte er Nelas Aura innerhalb der Burgmauern gespürt.

„Ich werde mit den Wachen sprechen. Wehe dem, der Nela mit ihrem Entführer entkommen ließ“, entfuhr es Tristan wütend, bereits aus der Tür hinaus, bevor Jarick sich aus seiner Starre befreien konnte. Er fasste es nicht, dass Nela in kürzester Zeit zweimal entführt wurde. Sie war doch für alle nur seine Schülerin. Was bei Hel, brachte die Nornen dazu, ihr solches Leid widerfahren zu lassen?

„Wer hatte Wache am Tor?“, verlangte Jarick zu wissen, als er ins Quartier der Wachen trat. Tristan redete bereits auf den Obermeister ein.

„Ansu“, verneigte sich der Obermeister, „dieselben, die auch jetzt am Tor sind.“

Jarick trat vor die Tür, sah zum Tor und beobachtete die Wachhabenden. Gerade überprüften sie eine Magd, die einen Korb mit Gemüse bei sich trug. Sie schäkerten mit ihr. Unbemerkt kam ein Knecht herein. Jarick biss die Zähne zusammen. Er konnte nicht fassen, dass seine Anordnung so sträflich missachtet wurde.

„Das glaube ich jetzt nicht“, entfuhr es Tristan und marschierte wütend auf die Wachhabenden zu. Auch seinem Schüler war es nicht entgangen, dass die menschlichen Huscarls ihre Arbeit unzureichend nachgingen.

„Huscarl“, rief Jarick dem Obermeister seiner Burg Glitlindi zu, „ersetzt die Wachhabenden durch gehorsame Huscarls.“ Jarick wartete die Bestätigung des Obermeisters nicht ab, sondern ging schnellen Schrittes zum Tor, wo Tristan bereits die Huscarls vorwurfsvoll auf ihre Unachtsamkeit aufmerksam machte.

„Kümmert Euch um Eure Angelegenheiten, Alvare“, blaffte ihn einer der Wachhabenden an.

„Ihr missachtet den Befehl Eures Ansus“, entfuhr es Tristan erzürnt.

„Wirklich? Wir überprüfen diese Magd doch mit viel Sorgfalt“, lachte der zweite Wachhabende anzüglich.

„Außerdem“, fügte der andere noch hinzu, „passiert hier doch nichts. Es ist der langweiligste Ort in ganz Asgard.“

„Ist dem so?“, hakte Jarick kalt nach.

Erschrocken wandten sich die beiden menschlichen Huscarls zu ihrem Herrn um. „Ansu“, sprachen sie ihn unisono ehrfürchtig an, während sie eine Verbeugung andeuteten.

„Ihr missachtet meinen Befehl, und dazu habt Ihr nichts Besseres zu tun, als diese Magd zu belästigen. Ihr seid unwürdig, noch länger Lidam meiner Sebjo zu sein.“

„Ansu, es ist doch nichts geschehen“, versuchte sich der Kleinere herauszuwinden.

„Unter Euren Augen wurde meine Schülerin entführt. Wie konnte das geschehen? Wenn Ihr Eure Aufgabe gewissenhaft erledigt hättet, wäre das nicht passiert.“

Furchtsam, was ihnen nun bevorstand, gaben sie sich schuldbewusst, doch Jarick konnte es ihnen ansehen, dass sie sich keiner Schuld bewusst waren.

„Hat jemand eine bewusstlose Frau aus diesem Tor hinausgetragen?“

„Nein, Ansu.“

„Wurde eine große Truhe, in die ein Mensch passen würde, an diesem Morgen aus der Burg gebracht?“

„Ja, Ansu. Vor nicht all zu langer Zeit passierte ein Händler das Tor.“

„Warum habt ihr die Kiste nicht durchsucht?“

„Es gab keinen Grund, den Tand des Händlers zu durchwühlen.“

„Wie lautete mein Befehl?“, presste Jarick die Worte wütend heraus.

„Jeden und alles zu überprüfen, Ansu“, wiederholten die Wachhabenden seine Anordnung.

„Obermeister, sperrt diese beiden in den Kerker. Ich befasse mich mit ihnen, wenn ich zurück bin.“

„Tristan, hol unsere Pferde“, befahl Jarick kühl.

„Was ist geschehen?“, wollte der Hausmeier wissen, der auf Jarick zu gelaufen kam, als der Obermeister die beiden Befehlsbrecher zum Kerker führte. Beide baten inständig um Gnade, doch Jarick fand für sie momentan kein Gehör. Er musste sich zügeln, um sie nicht auf der Stelle zu bestrafen. Zuerst musste er Nela finden.

„Meine Schülerin wurde entführt. Gnaden dem Entführer die Nornen, wenn ich ihn finde“, stieß Jarick viel zu zornig hervor. „Die Magd Hedda liegt bewusstlos in der Kemenate meiner Schülerin. Bringt sie zu einem Heiler.“

„Natürlich, Ansu.“ Augenblicklich befolgte er der Anweisung.

In vollem Galopp preschten Jarick und Tristan den Weg gen Norden. Es war unwahrscheinlich, dass dieser vermeintliche Händler in südlicher Richtung unterwegs war, denn sonst wäre er das Risiko eingegangen, ihn zu treffen.

„Ich denke, dass er sich im Schutze des Waldes hält“, erwog Tristan.

„Ja. Ihm muss bewusst sein, dass wir Nelas Verschwinden schnell bemerken“, stimmte Jarick seinem Schüler zu.

Jarick richtete seine Sinne auf die nähere Umgebung, weitete den Radius aus, als er seine Nela nicht spürte. Schließlich gewahrte er einen Hauch ihrer Aura. „Hier entlang“, befahl Jarick und lenkte Samru in den Wald nordöstlicher Richtung.

‚Jarick, es ist schon wieder passiert‘, erklang Nelas furchtsame Stimme in seinem Kopf. ‚Im Apfelsaft war ein Schlaftrunk und ein Mann, ein Mensch entführte mich.‘ Erleichterung durchflutete Jarick. Nela war wach und nicht mehr weit entfernt.

‚Wo bist du?‘, wollte Jarick sofort wissen. Es würde die Suche erheblich erleichtern, wenn er ihren genauen Standort kannte.

‚In der Wildnis. Ich fliehe be...‘

Entsetzt brachte Jarick Samru zum Stehen und starrte fassungslos auf seine Hand. Die unsichtbaren Schnüre dehnten sich, das allgegenwärtige Kribbeln wandelte sich in ein taubes Gefühl. Nela befand sich plötzlich nicht mehr in Asgard. Wie war das möglich? Es gab hier kein Schicksalstor.

„Was ist?“, verlangte Tristan zu wissen, während er sein Pferd wendete und besorgt auf ihn zuritt.

„Nela hat Asgard verlassen. Aber es ist nicht möglich. Nicht hier. Nicht in Glitlindi.“

„Lass uns den Ort finden und dort nach Spuren suchen“, behielt Tristan einen kühlen Kopf, während Jarick gegen seine Emotionen kämpfte. Er durfte sich nicht von seinen ohnmächtigen Gefühlen leiten lassen, durfte sein lysanisches Ich nicht die Kontrolle überlassen, denn er musste einen kühlen Kopf bewahren. Nur so würde er Nela finden.

Nela Vanadis

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