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Waffenbrüder

„Ich bin Balder Odinson von Asgard.“

Verzweifelt starrten ihre geweiteten Pupillen Balder an. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, das Gesicht aschfahl. Die von der Stirn bis zu ihrem Kinn verlaufenden Hautabschürfungen schwelten unter der Kruste dunkelrot. Der graue Leinenverband verbarg ihre schmerzende Kopfwunde. Blutverkrustete Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht und ihre gerissenen Lippen zitterten, aber kein Laut.

Oh nein! Ich bin in Hel. HEL! Verfluchte Nornen, welch grausames Spiel treibt ihr? Jarick nahm mich als seine Schülerin, damit er nicht hierher verbannt werden würde. Und jetzt bin ich hier! In Hel! Jarick und Nanna sind in Asgard; Balder und ich verharren in Hel. Das ist falsch, ungerecht und grausam. Nornen, warum hasst ihr mich so sehr? Habt ihr mich nicht schon genug gequält?

Warum bin ich in der Unterwelt bei Jaricks Vater? Ein Hoffnungsschimmer, aber kann ich ihm vertrauen?

„Ihr könnt Eure Hoffnung auf mich setzen, Lunela. Ihr gehört zur Sebjo meines Sohnes, folglich genießt Ihr meinen Schutz. Seid willkommen in meiner bescheidenen Wohnhöhle.“

Ertappt zuckte Nela zusammen. Konnte Balder ihre Gedanken lesen?

„Euer Misstrauen steht Euch ins Gesicht geschrieben“, stellte Balder bedauernd fest.

„Nela, du bist Alvarin?“, mischte Emma sich in das Gespräch ein. „Du kannst Balder vertrauen.“

„Ja.“ Nela beäugte Emma, setzte ihr Alvarentalent ein, um ihre Daseinsform zu erkennen. Unglaublich leuchtete Emmas Aura in einem satten Grün. Das Grün der Elfen. Zwangsläufig musste Nela an Runa und ihren Verrat denken.

Runa, meine Kampfgefährtin, wandelte sich in das Böse, nur um die Schlüssel des Großpriors des Ordens Elhaz, meines Vaters, zu stehlen. Ihr Bestreben trieb sie so weit, mich zu erpressen, mich gar zu töten.

War Emma ebenfalls eine rücksichtlose Späherin, die einem Unschuldigen nach dem Leben trachtete? Hatte auch Emma diese Schuld auf sich geladen? War Hel die Strafe für ein abscheuliches Verbrechen? Unmöglich, nicht Emma!, wehrte sich Nelas innere Stimme gegen diesen furchtbaren Verdacht.

Unerwartet schlug die Holztür krachend gegen die Felswand, kleine Splitter stoben durch die Luft. Mordlüstern stürzte ein wüster Drauger sich auf Balder. Nela und Emma schreckerstarrt. Blitzschnell wich Balder der hinabrasenden Axt aus und stieß den Eindringling mit einem heftigen Stoß durch die Türöffnung hinaus.

„Ihr bleibt hier“, sah der Ase Emma entschieden an, bevor er dem Angreifer nachjagte, dabei zog er die Holztür hinter sich zu.

„Ase!“, brüllte eine Stimme. „Gib mir meine Beute.“

Ein eiskalter Schauder überfiel Nela. Hektisch sah sie sich um. Nur Fels. Meterdicker Stein. Sofort erkannte sie: Ich sitze in der Falle. Unruhig starrte sie auf die Tür. Tausend Gedanken jagten durch ihren Kopf, schürten ihre Ängste. Wer ist der Angreifer? Bin ich die Beute? Nein! Ich nicht! Merkt euch das, Nornen! Ich ergebe mich nicht kampflos meinem Schicksal.

Unerträglich waren das Warten und die Ungewissheit. Daher trat sie an das ovale Loch in der Felswand heran. Nur dort draußen lagen die Antworten.

Eine bedrohliche Ödnis aus grauen Felsen erstreckte sich vor ihr. Hin und wieder spendeten brennende Fackeln vor den Eingängen der wenigen Wohnhöhlen Licht. Doch reichten die Funzeln nicht dazu aus, um die niederdrückende Finsternis zu vertreiben, die sich in dieser Welt hartnäckig eingenistet hatte. Nirgends gab es Farben oder vertraute Pflanzen. Verzweigte, dunkelbraune Wurzeln ragten aus dem steinernen Himmel herab, wanden sich in der Luft zu einem wirren Geflecht, dessen Enden sich in einem tiefschwarzen Teich verloren. Auf einem Wurzelast spreizte ein schwarzer Geier seine Flügel und stieß einen schauerlichen Warnruf aus, bevor er sich in die Tiefe auf einen halbverwesten Kadaver stürzte. Gierig riss er ein großes Stück Fleisch aus dem toten Tier heraus und schlang es hinunter. Der Anblick rief in Nela eine Warnung vor großem Unheil hervor.

Dann erblickte sie die Störenfriede. Unwillkürlich schreckte Nela zurück. Dort draußen lauerten ausgehungerte Hyänen; furchteinflößende Gestalten. Ihre Auren wabberten in einem schmutzigen Braun, einem trostlosen Schwarz und in einem falschen Eierschalenweiß. Die blutroten Muster verrieten ihre bösartigen Seelen, und diese Verschnörkelungen zeigten die Opfer in ihrem furchterregenden Todeskampf. Jeder Leidtragende starb qualvoll ob der brutalen Ader ihrer Mörder.

Die skrupellosen Verbrecher mit Narben übersäten Leibern steckten in abgenutzten Fellen, ihre kaltblütigen Augen fixierten Balder, dabei verzogen sich ihre Münder zu einem blutgierigen Grinsen. Jeder führte ein Beil mit sich, deren Schneiden noch eine rostbraune Färbung trugen: das getrocknete Blut ihrer letzten Opfer. Unter ihnen war ihr Entführer. Zweifelslos forderte er sie. Er war ihr wahrhaftig nach Hel gefolgt, aber wer oder was trieb ihn an, dass er sich freiwillig in die Unterwelt begab, nur um sie wieder in seine Gewalt zu bekommen? Er muss einen Ausweg, ein Tor kennen!

Nela durchfuhr Eiseskälte, dabei ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Verzweifelt rief sie über die Schicksalsschnüre nach Jarick und auch nach Tristan. Doch ihre Hilfeschreie prallten auf ihrem Weg gegen die undurchdringliche Felswand und wurden donnernd laut in ihre Gedanken zurückgeschleudert. Nela wusste, keinen Pfad, keine Hilfe.

„Ich kenne Euch nicht, Mensch“, erwiderte Balder dem Entführer, „gewiss habe ich nichts, was Euch zusteht.“ Flugs sah Nela zu dem Asen. Breitbeinig mit erhobenem Haupt stieß Balder erneut den Drauger von sich, der zuvor in die Wohnhöhle gestürzt war. Dieser flog hoch durch die Luft, schlug hart auf dem Felsboden auf. Schwankend rappelte er sich auf, schüttelte heftig seinen Kopf, um sich von der Benommenheit zu befreien, bevor er brüllend mit erhobenem Beil auf Balder zustürzte.

„Oh doch! Gebt mir die Walküre oder Ihr seid des Todes“, schrie der Entführer gereizt. Unstet fuhr er mit der Hand über seine Augen, währenddessen der angreifende Drauger zum wiederholten Male auf den harten Steinboden auftraf.

Balder nutzte die Zeit, betrachtete jeden, schätzte ihre Kräfte und Fertigkeiten ein. Es überraschte den Asen nicht, einen alten Widersacher unter ihnen zu entdecken.

„Mahr, was führt Euch mit Eurem Gesinde vor meine Wohnhöhle? Dazu noch bewaffnet“, sprach Balder den Dunkelalb an.

Sofort bemerkte Nela die schwarzen Augen, die dämonisch aus dem blutleeren Gesicht herausstachen. Mahr zeigte kein Anzeichen von Furcht oder Unsicherheit. Im Gegenteil er strahlte das größtmögliche Selbstbewusstsein aus, das ein Wesen besitzen konnte.

Zynisch antwortete er: „Beile gelten nicht als Waffen. Das müsstet Ihr doch wissen. Ihr verweilt doch bei uns schon seit langer Zeit.“

„Solange Ihr sie nur zum Holzspalten verwendet. Doch sehe ich hier nicht dieses überaus seltene Gut. Oder wollt ihr den Wurzelbaum dort drüben fällen?“

Schwerfällig erhob sich der verletzte Drauger. Blut lief über seine Schläfe, das er mit seiner Hand abwischte, ungläubig starrte er die rote Flüssigkeit an, bevor er Balder rachlüstern fokussierte.

Mahr lachte hämisch auf. „Macht Euch nicht zum Gespött, Ase. Das steht Euch nicht gut zu Gesicht.“ Kurz traf Mahrs eiskalter Blick Nela, sogleich spürte sie eine erdrückende Last auf ihrer Brust, die ihr das Atmen erschwerte. Es gab keinen Zweifel, Mahr war der lebendig gewordene Albtraum. „Ich spalte lieber Knochen als Äste.“

„Natürlich konntet Ihr Euch bei der Aussicht, Eurem Steckenpferd zu frönen, nicht zurückhalten, aber dennoch würde ich gerne wissen, bevor Ihr versucht, meine Knochen zu spalten, wieso Ihr diesem Mann Eure Dienste anbietet und ihn nicht zu Kleinholz verarbeitet habt?“, hakte Balder nach, während er gegen den angriffslustigen Drauger kämpfte.

„Dieser hier“, Mahr schlug Nelas Entführer auf den Rücken, „kennt einen geheimen Weg, der uns aus diesem vermaledeiten Verlies herausführt.“

Geschickt wich Balder den wütenden, unkontrollierten Hieben aus. Schließlich beendete der Ase den Kampf, indem er den Drauger abermals mit einem kraftvollen Schlag durch die Luft schleuderte. Diesmal traf er auf eine spitze Felskante, die seinen Schädel spaltete. Leblos blieb der Drauger liegen, was einen gellenden Zornesschrei eines anderen Draugers auslöste. Jedoch hielt er sich zurück, kam seinem Rachedurst nicht augenblicklich nach, überlegte, zögerte, wog seine Chancen ab.

„Viele behaupten, sie wüssten einen ...“, zweifelte Balder, doch Mahr unterbrach ihn respektlos. „Ich erkenne einen Lügner. Ich kann die Angst riechen, die sie verströmen, wenn sie die Unwahrheit sagen.“

„Mit welchem Recht beansprucht Ihr eine Walküre?“, wandte sich Balder grimmig an den Entführer.

„Das geht Euch nichts an“, brüllte der Entführer ihn gehetzt an. Seine Schultern krümmten sich leicht unter Balders stechendem Blick, dennoch sah er von seiner Forderung nicht ab. „Gebt sie mir und Ihr könnt unbeschadet Eurer Wege ziehen.“

„Wirklich? Ich bezweifel, dass Eure neuen Verbündeten das zuließen. Ich werde sie Euch keinesfalls übergeben“, zischte der Ase leise mit einem unterschwelligen Versprechen, dass er die Angreifer töten würde.

„Wie Ihr wollt“, schrie der Entführer mit hochrotem Gesicht und wedelte mit der Hand in der Luft. Sogleich setzte sich die mörderische Horde mit einem markerschütternden Schlachtruf in Bewegung, während Balder blitzschnell seinen Dolch aus dem Stiefel zog.

Gehetzt sah Nela sich in der kargen Höhle um. Die verfluchten Nornen ließen ihr nie Zeit, erwarteten stets von ihr das Wissen, Können und die Erfahrung, die sie noch nicht besaß.

„Wonach suchst du?“, entfuhr es Emma schrill. Berechtigte Panik stand in ihrem Gesicht geschrieben. Davon ließ Nela sich nicht beirren. Zwar war sie gerade wenige Wochen eine Alvarin, aber eines wusste sie genau: Nur ein kühler Kopf gepaart mit Kampfkunst und mit ausreichendem Respekt vor dem Gegner entschied in einem Kampf über Leben und Tod.

„Waffen“, erwiderte Nela dennoch hastig.

Sofort eilte Emma an eine Truhe, deren Deckel sie mit Wucht öffnete. Das Ächzen des Holzes, als es auf die Steinwand traf, vermischte sich mit dem geifernden Knurren des Werwolfs.

Einen Wimpernschlag später hielt Emma krampfhaft ein Kurzschwert in der Hand. Ihre Augen verrieten fortwährend ihre Angst vor den Angreifern, aber der entschlossene Zug um ihren Mund zeigte ihre Kampfbereitschaft. Mit Nachdruck reichte Nela ihrer Freundin ein zweites Schwert. „Für Balder.“ Verstehend nickte Emma.

Instinktiv griff die Walküre nach dem Bogen und Köcher mit Mistilapfeilen. Während sie sich den Köcher auf den Rücken schnallte, sahen sich die beiden Frauen entschlossen an. Auf dem Weg zum Ausgang spannte Nela den ersten Pfeil. Kurz hielt Emma inne, bevor sie die Tür aufriss. Rasch verschaffte Nela sich einen Überblick. Balder kämpfte überlegen gegen zwei rasende Drauger, ein dritter lag mit mehrfach gebrochenem Rückgrat, das den Körper in eine unnatürliche Lage brachte, unweit der Kämpfenden. Sein schmerzverzerrter Blick traf Nela, doch konnte sie in diesem Moment kein Mitgefühl für den Verletzten aufbringen. Denn sie wusste, dass dieser Drauger, sie ohne mit der Wimper zu zucken, töten oder weit Schlimmeres mit ihr anstellen würde. Während ihr Entführer mit verschränkten Armen einige Schritte entfernt den Kampf beobachtete, warteten drei weitere Drauger auf ihren Einsatz. Ungeduldig umkreisten sie mit ihren Beilen die Kämpfenden. Ein großer, hagerer Drauger, der des Wartens müde war, schlug mit seinem Beil unüberlegt zu. Jedoch trieb er nicht Balder die Schneide in den Leib, sondern seinem Mitstreiter. Sofort quoll Blut aus der Wunde, seine Adern auf der Stirn traten hervor, als er sich seinem Peiniger unbeirrt zuwandte. Mit einem gekonnten Hieb trennte er ihm seinen Schwertarm ab. Ein doloroser Schrei hallte durch die steinige Unterwelt, während der Körperteil leblos herabfiel, färbte das herausströmende Blut den felsigen Boden rot. Der Hagere sackte vor Schmerz auf seine Knie. Ohne Zögern vollendete der Drauger seine unverzügliche Rache, indem er ihn mit einem gezielten Hieb köpfte. Blut spritzte in sein mit Narben übersätes Gesicht. Doch störte er sich nicht daran, sogleich stürzte er sich wieder in den Kampf.

Am Rand des Geschehens stehend, wirkten der verwandelte Wolfsmann und der Dunkelalb Mahr fast unbeteiligt. Mit gefurchten Brauen beobachteten sie den Kampf. Kurz blickte Mahr auf das Dach der Wohnhöhle, Nela folgte unweigerlich seinem Blick. Auf dem gewölbten Felsen pirschte sich ein weiterer Dunkelalb heran. Seine Konzentration lag vollends auf Balder, der mit dem Rücken zu ihm stand. Der Angreifer verharrte am Rand des Felsens, bereit zum Sprung, hob er seine rechte Hand, in der sich ein Mistilapflock befand. Nela spannte die Sehne, peilte das Ziel an. Der Pfeil schnellte durch die Luft. Mit Wucht bohrte sich die Metallspitze in die Brust des Dunkelalbs. Im Moment seines Todes sah er Nela verwundert an, griff zum Pfeil. Seine Lippen formten noch die Worte „Verfluchte Walküre“, bevor er leblos vom Felsen vor die Wohnhöhle fiel.

Erstaunt nickte Balder ihr zu, bevor er dem korpulenten Drauger seinen Dolch ins Herz rammte. „Emma!“, rief der Ase fordernd. Sogleich warf die Elfe ihm das Schwert zu. Gekonnt fing er es am Heft auf, schwang es in einer fließenden Bewegung, während sich der beleibte Drauger torkelnd von dem Dolch zu befreien versuchte. Gerade, als er die Klinge aus seiner Brust zog, erwischte ihn das messerscharfe Schwert, das seinen Torso in zwei Hälften zerhieb.

„Lunela! Der Werwolf“, befahl Balder ihr unmissverständlich. Nela zielte auf den Werwolf, doch dieser war bereits gewarnt und wich dem ersten Pfeil geschickt aus. Der Pfeil klapperte über den unebenen Steinboden. Auch der nächste Pfeil erreichte nicht sein Ziel. Emma griff hingegen den Dunkelalb an, dessen bleiches Gesicht sich zu einer erfreuten Grimasse verzog, da er sich gewiss war, der Elfe mit Leichtigkeit ihre Knochen zu spalten.

Derweil ermüdete es den Werwolf, Nelas Pfeilhagel auszuweichen. Mit gefletschten Zähnen setzte er zum Sprung an. „Nein!“, schrie der Entführer. Doch der Zorn des Wolfsmanns war geschürt und nichts konnte ihn von seinem wutgetriebenen Angriff abbringen. Tief atmete Nela durch, bevor sie den nächsten Pfeil abschoss. Zu ihrem Leid streifte das Geschoss den Werwolf nur. Zwar hinterließ er eine Wunde an der rechten Flanke, aber den Wolfsmann brachte die Verletzung noch nicht einmal aus dem Tritt.

„Durchatmen, Ziel anvisieren und Schuss“, rief Balder ihr einen kühlen Befehl zu. Der zuversichtliche Ton ermutigte Nela nicht nur, sondern auch die ihr so bekannte Klangfarbe seiner Stimme. Sie glich Jaricks sehr.

Tief durchatmend, schloss Nela kurz ihre Augen, visierte den heranpreschenden Werwolf an und löste die rechte Hand von der Sehne. Surrend flog der Pfeil auf den verwandelten Wolfsmann zu.

Emma versetzte dem Dunkelalb eine klaffende Wunde am Bein. Zornesröte verlieh dem kalkweißen Gesicht Farbe. Unbeherrscht ließ er sein Schwert auf Emma hinabsausen, die den Angriff abfing, jedoch ging sie unter der Kraft des Hiebes in die Knie.

Ein Aufheulen ertönte, als der Pfeil sich in die Schulter des Werwolfs bohrte. Er strauchelte, gab Nela damit die Gelegenheit erneut auf ihn zu schießen. Doch die Alvarin erkannte die tödliche Gefahr, in der Emma schwebte, anstatt den Werwolf endgültig unschädlich zu machen, schoss sie auf Mahr. Das Beil streifte Emma am Arm, als der Dunkelalb rückwärts auf dem Boden aufschlug. Der tödliche Pfeil ragte aus seinem Hals, schwarzes Blut quoll langsam aus seinem Mund. Im Moment seines Todes erstarrten seine Augen zu Eiseskälte.

Hastig erhob Emma sich, die Wunde an ihrem Arm nicht beachtend, um Nela zu helfen. Der Werwolf hatte sich wieder gefangen und hielt humpelnd auf die Alvarin zu. Mit zitternden Fingern spannte Nela den nächsten Pfeil. Doch sie war zu langsam. Der Werwolf war schon zu nah, Emma rannte los.

Kein Geräusch konnte zu Nela durchdringen, hochkonzentriert spannte sie den Bogen. Der Werwolf riss seine Schnauze auf, bereit Nela mit seinen scharfen Fängen tödlich zu verletzten, sie in Stücke zu reißen. Entschlossen schoss die Walküre den Pfeil ab, hoffte inständig, dass das Geschoss den wütenden Angreifer noch aufhielt, denn Nela war keine Lysanin, sie würde die schweren Verletzungen und den giftigen Speichel des Wolfsmannes nicht überleben.

Der Pfeil sauste in den Rachen des Werwolfs, während sein Kopf mit Wucht von seinem Rumpf getrennt wurde. Blut spritzte Nela entgegen. Starr vor Ekel sah sie zu Balder, der sein Schwert wieder den Draugern entgegenschlug.

„Es sind nur noch drei Drauger“, wisperte Emma ihr zu, „Dein Entführer stellt keine große Gefahr dar. Er wird das Weite suchen, sobald Balder alle besiegt hat. Wir müssen ihn stellen. Komm!“, und zog Nela rasch mit sich, denn ihr Entführer wollte bereits die Flucht ergreifen.

„Halt! Oder ich schieße“, forderte Nela kalt. Abrupt blieb der Mann stehen. Seine Augen waren auf das Rudel Urhunde gerichtet, die sich schnell auf sie zu bewegten.

„Keine Mätzchen! Langsam mit den Händen nach oben, umdrehen!“, verlangte Emma ruhig, die wütenden Urhunde nicht beachtend. Doch Nela konnte die erneute Gefahr durch das angreifende Rudel, das aus dem Nichts aufgetaucht war, nicht ignorieren. Also richtete sie einen Pfeil auf die geifernde Meute.

„Nicht! Lasst die Waffen sofort fallen und kniet Euch demütig hin!“, herrschte Balder Emma und sie an, bevor auch er sich neben sie auf die Knie fallen ließ und die beiden Frauen mit sich zu Boden zog. Nelas Herz hämmerte in ihrer Brust, als die Urhunde sie erreichten. Noch immer hielt sie den Bogen in ihrer Hand. Ein Urhund knurrte sie drohend an, Geifer tropfte auf ihren Kopf, augenblicklich ließ sie die Waffe los, während ihr Entführer ein angsterfülltes Wimmern von sich gab. Auch er hockte auf dem Boden.

„Wir mussten uns verteidigen“, rechtfertigte sich Balder vor den Tieren. Wütend knurrte der Leithund des Rudels Balder an, schnappte drohend mit seiner Schnauze direkt vor seinem Gesicht zu. Die anderen Tiere fassten mit ihrem messerscharfen Gebiss nach den Waffen. In den größer werdenden Augen des Leithunds stach das Weiß hervor, die Nase kräuselte sich, zeigte die gefletschten Zähne, bevor die räudigen Urhunde verschwanden, die Waffen mitnehmend. Bebend verharrte Nela noch am Boden sitzend, als Balder sich ihrem Entführer zuwandte.

„Was wollt Ihr von Lunela Vanadis? Sprecht!“, befahl der Ase erzürnt. Ihr Entführer presste die Lippen aufeinander. „Es ist Eure Wahl. Entweder Ihr sprecht freiwillig oder ich werde die Wahrheit von Euch unter Schmerzen erfahren.“

„Ich fürchte den Schmerz nicht. Eher sterbe ich, bevor ich etwas verrate“, erwiderte er standhaft.

„Nun gut, wie Ihr wollt.“

„Wartet!“, Nela ergriff Balders Arm. Immer noch zitterte sie am ganzen Leib. „Ihr könnt ihn doch nicht foltern.“ Zwar wusste Nela, dass sie sich nicht mehr in der unwissenden Welt Midgard befand, aber dennoch meldete sich ihr Gewissen zu Wort. Kein Wesen durfte gefoltert werden, gleich, wessen Verbrechen es sich schuldig gemacht hatte.

Zuerst sah Balder sie nachdenklich an, dann streifte sein Blick Emma. „Gut. Ich gebe Euch beiden die Möglichkeit, sein Ansinnen auf Eure Art herauszufinden. Sollte es Euch nicht gelingen, werde ich mich seiner annehmen.“

Erleichtert atmete Nela durch. Der Kampf war vorüber, die Urhunde verschwunden, und ihr Entführer stellte vorerst keine Gefahr mehr für sie dar. Die schwindende Furcht und das versiegende Adrenalin ließen Nelas Kopfschmerzen zurückkehren. Während sie an ihre Stirn griff, um den einsetzenden Schwindel Einhalt zu gebieten, fesselte Balder den Gefangenen grob.

„Emma, Lunela, geht ins Haus. Jeden Augenblick können die Urhunde zurückkehren, um sich der Leichen und schwer Verletzten anzunehmen.“

Nela Vanadis

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