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Die weißen Dornen

Ein traumhafter Nachmittag in den Sommerferien.

„Schneller“, rief die zehnjährige Emma ihren Freunden zu, als sie durch den Laubwald rannten.

„Diesmal findet Olf uns nicht“, war Nela sich sicher. Während Nela mit Emma zusammenlief, rannten die anderen sieben in verschiedene Richtungen.

Kein Windzug, selbst im schattigen Wald war es heiß. Durch hohen Farn liefen die Mädchen immer tiefer in den Wald hinein. Plötzlich krähte ein Fasan, flog aufgeschreckt einige Meter und verschwand wieder im Farn. Erschrocken blieben die Mädchen stehen, packten sich, lachten und ließen sich in den Farn fallen.

Beide lauschten. Vogelgezwitscher. Ein Specht klopfte direkt über ihnen an die Baumrinde.

„Guck mal! Dort oben ist ein Specht“, zeigte Emma auf den rot-schwarz gefiederten Vogel.

„Der muss doch ständig Kopfschmerzen haben, so wie er gegen den Stamm hämmert“, dachte Nela laut nach.

Plötzlich hielt der Specht inne und flog davon. Emma griff nach Nelas Arm. „Komm! Wir müssen weiter.“ Die Mädchen durchquerten schnell den Farn, bis sie ...

„Wow!“, stieß Emma aus und blieb stehen.

Nela betrachtete das Gebüsch, das ihre Freundin in den Bann gezogen hatte. „Weißdorn! Hier kommen wir nicht weiter. Die Dornen werden uns verletzen.“

Emma reagierte nicht auf Nelas Warnung, sondern ging auf den Weißdorn zu. „Hier werden wir uns verstecken!“

„Nein, das ist kein gutes Versteck“, widersprach Nela, suchte vergeblich nach einem besseren Unterschlupf.

Mittlerweile musste Olf mit dem Zählen fertig sein und sich auf die Suche nach seinen Freunden machen. Nela beneidete Olf um sein Suchtalent. Stets entdeckte er viel zu rasch seine Freunde in den besten Verstecken.

Ehrfürchtig betrachtete Emma den Weißdorn, berührte vorsichtig die Blätter und Zweige. „Das Heim der Elfen“, wisperte sie, bevor sie sich hinkniete und in das Dickicht hineinkrabbelte.

Nela schüttelte über die Unvernunft ihrer Freundin den Kopf. Eindeutig las Emma zu viele Märchen, träumte sich in diese fantastischen Welten. Auch Nela liebte die Fabelwesen, las gerne Märchen und dachte sich mit ihren Freunden eigene Geschichten aus, in denen Riesen, Zwerge, Elfen, Hexen, Wölfe und Naturgeister vorkamen.

„Nela“, rief Emma begeistert, als ihr Kopf aus dem Gebüsch herausragte, „ich habe etwas Tolles entdeckt! Komm mit! Das musst du sehen.“ Nela zögerte. „Der Weißdorn wird dir nichts tun. Nimm meine Hand!“

Nela kniete sich hin, ergriff Emmas Hand und folgte ihr. Es erstaunte Nela, dass der Zugang groß genug war, dass sie sicher durch die Dornen gelangten.

Es war umständlich, beim Krabbeln Emmas Hand zu halten, deshalb wollte Nela sie lösen, doch ihre Freundin ließ es nicht zu. „Wir haben es gleich geschafft!“

„Emma, lass los!“, wehrte Nela sich gegen den festen Griff, vermied es, zu nah an die stacheligen Zweige zu gelangen. Doch Emma hielt dagegen und beförderte damit ihre Hand gegen die Dornen. „Au!“, schrie Nela, als ein Dorn sie stach. Der Stich an ihrem Finger blutete, als sie sich ihre Hand ansah.

„Emma, was sollte das?“ Vorwurfsvoll sah sie ihre Freundin an.

„Nur ein kleiner Pikser. Das ist nicht schlimm!“, rechtfertigte Emma sich. „Komm!“

Das Piksen an ihrem Finger war vergessen, als sie sah, was sich im Innern des Weißdornenbusches verbarg: eine verzauberte Weißdornhöhle. Die Zweige und Blätter ließen nur sehr wenig Licht hindurch, tauchten die Laube in ein märchenhaftes Schimmern. Am Boden wuchsen verschiedene Moose und Pilze. Erstaunt betrachtete Nela die leuchtenden Pilze. Dieser zauberhafte Platz schien direkt aus einem Märchen zu entspringen. „Feen“, hauchte sie ehrfürchtig, „hier müssen Feen leben.“

„Nicht Feen“, korrigierte Emma, „Elfen.“

In einem Kreis angeordnet, lagen Findlinge, genau die richtige Größe, um sich darauf zu setzen. Nela zählte sie. „Zehn!“, rief sie begeistert. „Zehn Plätze!“

„Nela, Emma! Wo seid ihr?“, rief Olf nach ihnen.

„Olf findet uns nicht“, flüsterte Nela begeistert.

„Wir sind hier! Hinter dem Weißdorn!“, antwortete Emma laut.

„Emma, nicht“, war Nela enttäuscht.

Verwundert sah Nela ihre Freundin an, als ihre Freunde weiter nach ihnen riefen, aber nicht auf Emmas Ruf reagierten.

„Warte hier!“ Emma kroch durch den Ausgang.

„Da bist du ja. Wo ist Nela?“, hörte sie die anderen sagen.

„In unserer Elfenhöhle“, antwortete Emma. „Doch ihr könnt nur hinein, wenn ich euch führe.“

„Was soll denn der Quatsch, Emma“, erwiderte Malvin.

„Versuche es nur ohne mich, Malvin. Der Weißdorn wird dich nicht hindurchlassen“, forderte Emma ihn heraus.

„Malvin, spiel mit. Das wird bestimmt Spaß machen“, überredete Olf seinen besten Freund.

„Gut! Dann spielen wir jetzt das blöde Mädchenspiel“, gab Malvin nach und ergriff Emmas Hand.

Kurz darauf erschien Emma mit Malvin. „Ich habe mich gestochen“, stieß er verärgert aus, als er die Laube betrat. Auch er vergaß seine kleine Wunde, als er sich staunend umsah.

„Ist das nicht unglaublich?“, fragte Nela ihren Cousin begeistert. Malvin konnte nur zustimmend nicken.

Nach und nach brachte Emma all ihre Freunde in die Weißdornlaube.

„Das wird unser geheimes Versteck“, schlug Bjarne euphorisch vor. „Niemand wird uns hier finden!“

„Es gibt zehn Steine, also zehn Sitzplätze“, bemerkte Nela.

„Wir sollten das Schicksal entscheiden lassen, wer welchen Platz bekommt“, schlug Meitje vor.

„Und wie?“, fragte Ole.

„Jeder stellt sich in die Mitte, schließt die Augen und dreht sich mehrmals im Kreis. Vor welchem Stein du stehen bleibst, das ist dann deiner“, erklärte Rena.

„Das wird nicht klappen“, gab Malvin zu bedenken. „Was ist, wenn wir alle auf denselben Stein zeigen?“

„Lass es uns versuchen“, ignorierte Alva den Einwand. Sie stellte sich in den Mittelpunkt des Steinkreises, senkte ihre Lider und drehte sich schnell um sich selbst. Als sie stehen blieb, öffnete sie die Augen und ging mit einem Lächeln zu ihrem Stein. „Der Nächste“, forderte sie ihre Freunde auf. Nach und nach fanden alle ihren Platz. Zu Nelas Erstaunen zeigte nicht einer der Freunde auf denselben Findling. So ganz wollte Nela nicht daran glauben, dass wirklich das Schicksal ihre Sitzplätze aussuchte. Nachdenklich schaute sie in die Runde, begann zu ihrer Linken: Olf, Emma, Leon, Rena, Ole, Meitje, Malvin, Alva und Bjarne.

„Wir sind alle Freunde, haben ein geheimes Versteck, dann brauchen wir auch einen Namen für unseren Kreis“, meinte Olf.

„Wie wäre es mit: Die weißen Dornen?“, schlug Emma vor.

Alle stimmten begeistert zu.

„Dann brauchen wir auch einen Schwur“, gab Olf zu bedenken.

„Alle Dornen für eine und eine für alle“, sprudelte es aus Nela heraus.

„Ach nö. Wir sind doch keine Musketiere“, fand Ole den Vorschlag nicht gut. „Wir brauchen einen Schwur, der diesem Ort würdig ist.“ Eine nachdenkliche Stille senkte sich über die zehn Freunde.

„Wir sind die weißen Dornen, das bewirkten die Nornen.

Wir halten diesen Ort geheim, denn es ist unser Heim.

Wir sind eins, deshalb schützen wir uns.

Niemand kann uns entzweien, solange wir in den neun Welten verweilen“, trug Leon seinen Schwur vor.

„Das ist gut“, entfuhr es Bjarne begeistert.

„Neun Welten? Wie kommst du denn darauf? Es gibt nur eine Welt“, runzelte Nela ihre Stirn.

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung! Es klingt gut.“

„Warum nicht zehn? Wir sind zehn“, wollte Malvin wissen.

„Es gibt keine zehn Welten“, sagte Ole kopfschüttelnd.

„Es gibt auch keine neun“, hielt Malvin dagegen.

„Aber in der Welt der Elfen, Riesen, Zwerge, Hexen, Wölfe und Naturgeister gibt es sie“, erklärte Emma. „Dies ist unsere Elfenwelt.“

Nela sah sich um. Dieser Ort stammte wirklich aus einer anderen Welt. Er war einfach zu fantastisch.

„Lasst uns schwören“, sprang Olf von seinem Platz auf. Alle begaben sich in die Mitte, griffen mit der rechten Hand nach dem rechten Handgelenk des linken Nachbarn und mit der linken Hand das linke Handgelenk des rechten Nachbarn, sodass ein verknüpftes Band entstand. Gemeinsam sprachen sie feierlich den Schwur. Eine leichte Brise erfüllte die Weißdornhöhle, es wurde ganz still und für einen kurzen Moment stockdunkel, als sie ihren Eid beendeten.

***

Fünfzehn Jahre später.

Das Zwielicht der untergehenden Herbstsonne tauchte den Laubwald in einen magischen Orangeton. Leise raschelten die farbenfrohen Blätter im seichten Wind, fielen vereinzelnd auf den grün-gelblichen Farn. Sechs Gestalten näherten sich wachsam einem Weißdorngebüsch. Immer wieder sahen sie sich um, vergewisserten sich, dass niemand sah, wie sie in die Weißdornhöhle verschwanden.

Im Schatten des Weißdorns verbarg sich eine junge Frau, deren schwarzes Haar und Kleidung sie gänzlich unsichtbar machte. Sie verharrte, traute sich noch nicht, ihren Platz einzunehmen.

Olf kam zielstrebig aus dem Dornengebüsch und setzte sich auf seinen Platz, dessen Nachbarsteine an diesem Abend verwaist bleiben würden. Weder Nela noch Emma befanden sich derzeit in Midgard.

„Alva“, bat er die Dunkelalbin sich auf ihren Platz zu begeben. Geschmeidig ließ sie sich auf ihren Stein nieder.

„Warum hast du uns gerufen?“, fragte Leon ungeduldig.

„Es ist schon lange her, dass wir uns hier getroffen haben“, erwiderte Olf energisch.

„Nie wieder werden wir alle hier sein“, entfuhr es Alva verbittert. „Und daran ist deine Sebjo schuld!“ Mit tiefschwarzen Augen funkelte die Dunkelalbin Leon hasserfüllt an.

„Malvin hat uns verlassen“, mischte Olf sich beschwichtigend ein. Nie hätte er gedacht, dass ihm einmal die Rolle des Schlichters zukommen würde. „Wir alle trauern um ihn, auch Leon. Du kannst ihn nicht für die Taten anderer verantwortlich machen.“ Eingehend betrachtete Olf die Dunkelalbin. Bevor Malvin ermordet wurde, trug sie farbenfrohe Kleidung, besaß eine unbändige Lebensfreude, doch nun glich sie einem ernsten Schatten.

Leon räusperte sich. „Mein Orden ist unschuldig, was das Massaker der Familie Vanadis betrifft. Eine Gruppe Abtrünniger hat sich einem gewissen A.F. angeschlossen. Mein Vater sucht nach ihm, denn er will ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er im Namen der Birger mordete.“

„Warum hast du Nela nicht eingeladen? Sie gehört zu uns“, ergriff Rena das Wort. Die blonde Dise sah den Wolfsmann eindringlich an.

„Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht, wie. Sie lebt jetzt in Asgard.“

„Asgard!? Sie wurde also nach dem Massaker eingeweiht“, stellte Bjarne fest.

„Ja, das wurde sie. Soweit ich weiß, wurde sie von ihrem Schicksalswächter Tristan Paladin gerettet und auch von ihm über die eingeweihte Welt aufgeklärt“, ließ Olf die anderen wissen.

„Weiß sie auch, wer wir sind? Weiß sie, dass sie eine Lidam einer sehr besonderen Sebjo ist?“, wollte Meitje wissen.

„Nein, ich denke nicht“, gab Olf widerwillig zu. „Ich konnte es ihr nicht sagen, als ich sie in Bremen traf. Sie floh vor Elhazen.“

„Vor ihren eigenen Leuten?“, entfuhr es Ole fassungslos.

„Ich habe euch um dieses Treffen gebeten, weil ein Mitglied unserer Sebjo in Gefahr schwebt: Nela. Dieser A.F. ist noch nicht gefasst. Er wird weiterhin versuchen, Nela zu töten. Zudem hat Nela Probleme in ihrem eigenen Orden. Ihr wisst alle, dass sie die rechtmäßige Großpriorin der Walküren und Walkür ist. Doch dieses Amt bekleidet dieser Ansgar Ferdinand. Übrigens, sein Sohn verfolgte Nela in Bremen. Er ist ein sehr unangenehmer Zeitgenosse. Zu gerne hätte ich ihm die Kehle herausgerissen.

Vor Jahren brachen wir unseren Eid, als wir nichts unternehmen konnten, um Emma vor der Verbannung zu bewahren. Wir dürfen unsere Sebjo nicht wieder verraten. Wir müssen Nela helfen.“

Eine nachdenkliche Stille senkte sich über die Freunde. Leise flüsterten sie die Worte ihres Schwurs, den sie sich als Kinder gaben. Eine leichte Brise wirbelte bunte Weißdornblätter auf.

„Wen hat sie an ihrer Seite?“, fragte Bjarne.

„Ihren Schicksalswächter Tristan Paladin, den Drauger Till Vegard und einen Asen namens Jarick Richter.“

„Der fehlende Orden“, murmelte Rena ehrfürchtig.

„Niemand kann Malvin ersetzen“, entfuhr es Alva ungehalten.

„Das wird auch niemand“, versetzte Olf ruhig.

„Wer geht nach Asgard?“, wollte Meitje wissen.

„Immer die Person, die so ...“

„Ole, bitte! Dies ist ein ernstes Gespräch“, wies Meitje den Jötunn zurecht.

„Olf, du solltest gehen“, schlug Leon vor.

„Ich bin ein Wolfsmann! Ich werde niemals zu Nela vorgelassen.“

„Vielleicht sprichst du zuerst mit Tristan Paladins Familie. Möglicherweise können sie Kontakt zu ihm und Nela aufnehmen“, erwog Rena eine Möglichkeit.

„Wir anderen werden uns umhören. Irgendjemand muss etwas über diesen A.F. wissen. In vier Wochen treffen wir uns wieder“, beschloss Bjarne, bevor er sich von seinem Platz erhob.

Alle anderen taten es ihm gleich. Im Chor verabschiedeten sie sich, wie sie es an diesem Ort immer getan hatten: „Wir sind die weißen Dornen, dass bewirkten die Nornen. Wir halten diesen Ort geheim, denn es ist unser Heim. Wir sind eins, deshalb schützen wir uns. Niemand kann uns entzweien, solange wir in den neun Welten verweilen.“

Nela Vanadis

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