Читать книгу Nela Vanadis - Nina Lührs - Страница 9

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Auf der Suche

Wie vom Erdboden verschluckt, dachte Jarick, als er sich abermals das Lager ansah. Der alte Gaul war noch vor dem maroden Karren gespannt. Die Truhe, in der der Entführer Nela versteckt hatte, stand direkt daneben. Nelas Kleidungsstücke lagen verstreut um und über der Holzkiste. Neben dem mittlerweile erloschenen Lagerfeuer lag eine Leinendecke. Jarick kniete sich daneben, nahm das Tuch, dabei stieg Nelas schwacher Geruch in seine Nase. Jedoch mischte sich ihr unverwechselbarer Vergissmeinnichtduft mit dem Dunst der Angst. Wütend umschloss er das Stück Leinen mit seiner Hand. Der Entführer würde dafür büßen.

Sie konnte fliehen, nur wohin? Jarick folgte die immer schwächer werdende Fährte, die seine Minamia hinterlassen hatte und sich mit der des Entführers, eines Menschen, überlagerte. Natürlich war er seinem Opfer hinterhergeeilt. Doch die Fährte brach plötzlich hinter dem Gesträuch vor einem großen Felsen ab. Es gab keine Spur, keine Fährte, keinen Hinweis, wohin sie verschwunden waren. Hier musste sich ein natürliches Schicksalstor befinden, denn Nela befand sich nicht mehr in Asgard. Nur wo? Wo versteckte sich dieses verfluchte Tor?

Akribisch betrachtete der Lysane den Felsen, suchte nach einer Spalte, die ein geheimes, unentdecktes Schicksalstor bilden könnte. Doch die Spalten im Felsen waren zu schmal, als dass ein Mensch hindurchpasste. Nichts. Kein Durchgang und keine Energie der Fäden, die einen Reisenden von einer Welt zur anderen zogen. Zu seinem Ärger hatte er sich nicht eingehend mit diesen verborgenen Toren beschäftigt. Er wusste nur, dass es sie gab. Das war in diesem Moment nicht sehr hilfreich. „Verflucht!“, machte er seiner Angst um Nela Luft, indem er mit der Faust auf den Stein schlug. Durch die Wucht seines Schlages lösten sich kleine Brocken und wirbelten durch die Luft.

„Sie lebt“, versicherte Tristan. „Ich weiß, dass sie lebt. Das Schicksalsband verrät es mir.“

„Ja, sie lebt.“ Auch Jarick spürte, dass seine Minamia am Leben war. Das Band zwischen ihnen wurde nicht durchtrennt, wie es geschah, wenn jemand starb, der seine lebenslange Arwa trug. Das war ein sehr gutes Zeichen, bewahrte ihn davor, dem Rachedurst zu erliegen. Auch sein lysanisches Ich wusste, dass er Ruhe bewahren musste, um seine Nela zu finden. Solange sie lebte, würde er nach ihr suchen. Das hatte oberste Priorität. Falls sie jedoch starb, bei dem Gedanken wurde ihm schwer ums Herz, würde er seine ganzen Bemühungen darauf verwenden, ihre Mörder zu finden und sie qualvoll zur Strecke zu bringen. Konsterniert kehrten Tristan und Jarick zum Lager zurück.

„Hier werden wir keine Antworten finden. Vielleicht gibt es einen Hinweis in ihrer Kemenate. Etwas, das wir vorhin in der Eile übersahen“, sah Tristan sich bedauernd um.

„Möglich. Allerdings können wir nur von einer Person erfahren, in welche Welt Nela verschwunden ist“, wusste Jarick.

„Wer könnte das wissen?“

„Heimdal. Er ist der Herr der Schicksaltore. Er weiß alles über sie. Er erfährt wann und wo jemand durch ein Tor geht und auch wohin.“

„Also werden wir nach Asenheim aufbrechen, sobald wir ihre Kemenate untersucht haben.“ Sein Meister nickte nur zustimmend. „Wer könnte Nela entführen wollen?“

„Armin Falk, Ansgar Ferdinand, Theo Frankus?“, nannte Jarick die Namen, die ihm spontan einfielen.

„Was ist mit Runas Familie?“

„Unwahrscheinlich. Aber trotzdem denkbar.“ Jarick stockte und drehte sich um. Jemand näherte sich. Rasch erkannte er die Aura. Gersimi! Was hatte sie hier verloren?

‚Kein Wort‘, wies Jarick seinen Schüler mental an.

Beunruhigt schaute dieser seinen Meister an. ‚Wer kommt?‘

‚Gersimi‘, stieß Jarick gereizt aus. Wenn sie auf der Suche nach ihm war, um sich für ihr Benehmen zu entschuldigen oder um ihn mit ihren Schmeicheleien gütig zu stimmen, war das nun der denkbar ungünstigste Moment. Beim besten Willen besaß er momentan nicht die innere Ruhe, um sich mit der Vanin auseinanderzusetzen. Das war unnötige Zeitverschwendung.

Schließlich tauchte die Vanin hoch zu Pferd auf der Lichtung auf. Ein verärgerter Schatten huschte über ihr Gesicht, bevor sie Jarick ein freundliches Lächeln schenkte. „Jarick“, sprach sie ihn vertraut an, „ich hörte von Lunelas Verschwinden. Ich möchte dir bei der Suche helfen.“

„Möchtet Ihr das“, zweifelte Jarick kühl. Denn Gersimi tat nichts ohne Grund, ohne eine Gegenleistung. Was versprach sie sich davon?

„Ja“, blickte sie sich im Lager um. „Sie müssen überstürzt aufgebrochen sein.“

„So scheint es. Nur weshalb?“, betrachtete Jarick die Vanin wachsam.

„Vermutlich hat dieser Nichtsnutz dich gespürt“, mutmaßte Gersimi.

Jarick runzelte seine Stirn. „Wer?“

„Till, natürlich!“, entfuhr es ihr erbost. „Von Anfang an macht er nur Ärger. Jetzt wagt er es auch noch, dich zu schmähen, indem er dir deine Schülerin vorenthält.“

„Wieso sollte Till meine Schülerin entführen?“, entfuhr es Jarick ungehalten.

„Entführung? Das glaubst du? Jarick, öffne deine Augen. Die beiden sind durchgebrannt.“

„Durchgebrannt?“ Irritiert sah Jarick zu der Vanin.

„Jeder weiß es, nur der Meister nicht“, entfuhr es ihr belustigt. „Die Liebe zwischen Lunela und Till ist ein beliebtes Gesprächsthema auf Glitlindi.“

„Nein. Lunela weiß, dass sie über solche Angelegenheiten mit mir sprechen kann. Sie ist nicht durchgebrannt.“

„Jarick, ich verstehe, dass du nicht einsehen möchtest, dass du zum Narren gehalten wurdest. Aber Till weilte nicht mehr auf der Burg, als ich dort eintraf. Gewiss hat er sie dazu überredet, ihr eingeredet, es gäbe keine andere Möglichkeit.“ Ihm entging nicht, dass Gersimi sich immer wieder verstohlen umsah.

„Erwartet Ihr jemanden?“, forschte Jarick nach.

Zwar lächelte Gersimi, aber Jarick spürte einen Hauch Unsicherheit. „Nein, Till wird nicht so dumm sein, hierher mit ihr zurückzukehren, wenn wir hier sind.“

„Ihr solltet zur Burg zurückkehren“, forderte Jarick kühl.

„Gewiss“, stimmte Gersimi ihm ohne Widerworte zu, sogleich wendete sie ihr Pferd. Argwöhnisch sah Jarick ihr hinterher, verharrte, wartete, bis die Vanin hinter den mächtigen Laubbäumen verschwand.

‚Tristan, sammle hier alles ein und bringe es zur Burg‘, wies Jarick ihn an. Noch befand die Vanin sich in Hörweite.

‚Was hast du vor?‘

‚Ich folge Gersimi.‘

‚Weshalb?‘, fragte Tristan seinen Meister mental.

‚Ihr Verhalten war sonderbar.‘

Als Gersimi außer Reichweite war, konzentrierte Jarick sich, nutzte seine angeborenen Fähigkeiten, um seine lysanische Identität zu verbergen. Zurück blieb die Aura eines Menschen.

„Was?“, stieß Tristan überrascht aus, als er die Veränderung seines Meisters wahrnahm. Kein Ase, kein Vane und kein Drauger konnten die Aura eines Menschen annehmen. Doch Jarick gelang es. Wie war das möglich?

„Ich bin besonders, Tristan. Du bist mein Schüler und mein Freund. Ich vertraue dir“, forderte Jarick das Versprechen seines Schülers ein.

„Natürlich!“

„So kann ich Gersimi unbemerkt folgen. Sie wird mich nicht weiter beachten.“

„Sobald ich in der Burg bin, werde ich Nelas Kemenate nach Spuren durchsuchen.“ Jarick stimmte dem Vorhaben seines Schülers zu, bevor er sich auf Samru schwang.

Mit genügend Abstand folgte er der Vanin, die weiter Richtung Nordosten ritt anstatt zur Burg. Immer wieder führte sie ihr Pferd weiter in den Wald hinein, kehrte um und suchte erneut an einer anderen Stelle. Es war offensichtlich, dass sie die Umgebung nach Nela und Till durchkämmte. Jedoch wusste Jarick, dass sie weder Nela noch Till, der sich mit Bado im Dorf aufhielt, finden würde. Was versprach Gersimi sich? Warum suchte sie nach Nela? Denn Jarick kaufte ihr die Sorge um ihre Verwandte nicht ab. Gersimi besaß kein Mitgefühl, sie war durch und durch eine Egoistin. Sie sorgte sich nur um ihr eignes Wohl und scherrte sich nicht um das Schicksal anderer, ausgenommen es brachte ihr einen Vorteil ein.

Plötzlich änderte sie die Richtung, kam direkt auf ihn zu. Schnell trieb Jarick Samru tiefer in den Wald hinein. Natürlich registrierte sie ihn nicht, obwohl sie wissen musste, dass sich ein Mensch in ihrer Nähe befand und zufällig dieselben Wege einschlug. Jarick hätte diese Person längst gestellt, um zu erfahren, warum diese ihm folgte. Doch Gersimi war keine Kriegerin, besaß nicht den Instinkt, dass selbst ein einfacher Mensch sie ausspionieren könnte.

Als Gersimi ihn passiert hatte, nahm er die Verfolgung wieder auf. Es wunderte ihn nicht, dass sie zum Lager zurückkehrte, das mittlerweile nur noch aus den Überresten des Lagerfeuers bestand.

„Verdammt!“, hörte Jarick die Vanin fluchen. „Wohin sind sie?“

Im halsbrecherischen Galopp schlug sie den Weg zur Burg ein. Während Gersimi die Festung durch das große Tor betrat, gelangte Jarick durch einen Geheimgang ins Innere. Fortwährend menschlich getarnt, beobachtete und belauschte er die Vanin aus einer dunklen Nische.

„Ansa“, sprach der Hausmeier Walter Meinhold die Vanin respektvoll an, „Ihr ...“

„Ist der Burgherr schon zurückgekehrt?“, unterbrach sie ihn barsch.

Walter stutzte überrascht, denn er kannte Gersimis herrische, unhöfliche Seite nicht. „Nein. Mein Ansu kümmert sich um Alvarenangelegenheiten.“

„Ist Till Vegard zurückgekehrt?“

„Ja, zusammen mit Bado Behrens von den Berserkern.“

„Wo ist er?“, forderte Gersimi ungehalten.

„In der Halle“, ließ Meinhold sie wissen. Unhöflich ließ sie ihn stehen und betrat das Gemäuer.

Jarick ließ seine Tarnung fallen und begab sich zu Nelas Kemenate, in der Tristan sich mit Hedda unterhielt. Die Magd wirkte mitgenommen.

„Gibt es einen Hinweis?“

„Nein“, antwortete Tristan niedergeschlagen. „Hedda war schon bewusstlos, als Nela entführt wurde.“

„Es tut mir so leid“, weinte Hedda demütig.

„Dich trifft keine Schuld, Hedda“, beruhigte er die Magd. Jarick wusste, dass Nela es ihm nicht verzeihen würde, wenn er ihre Magd für etwas verantwortlich machte, wofür sie nichts konnte.

Jarick sah sich in der Kemenate um. Der Frühstückstisch war nicht angerührt worden, alles befand sich noch an dem Platz, als Nela entführt wurde. Ihr Bogen lag auf der Waffentruhe anstatt in ihr. Der Kleiderschrank war geöffnet, Gewänder fehlten, die sich nun in der Truhe befanden, die Tristan aus dem Wald mitgebracht und neben die Tür gestellt hatte. Nelas geliebte Ledertasche mit dem Schwanenmuster lag auf ihrem Bett. Nachdenklich zeichnete er mit seiner Hand das Muster nach. Diese Tasche bedeutete ihr so viel. Nirgends ging sie ohne sie hin. Jetzt hatte sie nichts bei sich, bis auf die Gewandung, die sie an ihrem Leib trug.

„Welche Gewandung trug Nela diesen Morgen?“, fragte Jarick besorgt.

„Ihr Alvarengewand“, antwortete Hedda.

Verwundert wandte er sich der Magd zu. „Weshalb?“

Hedda zuckte mit den Schultern. „Fräulein Nela trägt gerne Hosen. Vielleicht entschied sie sich an diesem Morgen deshalb gegen ein Kleid.“

„Tristan, pack Nelas Gewänder ein. Wir brechen in einer Stunde nach Asenheim auf“, wies Jarick ihn an. Er griff nach Nelas Tasche, bevor er die Kemenate verließ.

Auf dem Gang zu seinem Gemach traf er auf Till, Bado und Gersimi. „Sag, dass du sie gefunden hast!“, entfuhr es Till besorgt.

„Nein.“

„Wir werden Euch bei der Suche helfen“, versprach Till ihm.

„Tu nicht so scheinheilig, Till! Wo hast du sie versteckt?“, herrschte Gersimi den Drauger ungehalten an.

„Wie bitte?“, entfuhr es Till verwirrt. „Weshalb sollte ich Lunela verstecken?“

„Du liebst sie, willst sie nicht teilen, ihr ihre Bestimmung und ihr Geburtsrecht vorenthalten, weil du nur ein nichtsnutziger Drauger bist“, hielt Gersimi ihm vor.

„Nein!“, entfuhr es dem Drauger inbrünstig.

„Natürlich gibst du es nicht zu. Immerhin weißt du, dass niemand Forseti schmähen sollte“, erwiderte Gersimi kalt.

„Jarick, ich habe mit Lunelas Verschwinden nichts zu tun“, versetzte Till.

‚Ich weiß‘, ließ Jarick seinen Freund mental wissen. ‚Aus irgendeinem Grund ist Gersimi allerdings davon überzeugt, ihr beide wäret durchgebrannt. Ich werde sie in dem Glauben lassen.‘

„Ich breche noch in dieser Stunde nach Asenheim auf“, beschloss Jarick kühl.

„Asenheim?“, verstand Gersimi nicht, „wir müssen die Gegend durchkämmen.“

„Nein, Nela wird ein Schicksalstor aufsuchen, um nach Midgard zurückzukehren. Nicht wahr, Till?“, schenkte Jarick seine angebliche Zustimmung zu Gersimis Mutmaßungen. Stumm nickte sein Freund, spielte mit.

„Ich werde Euch begleiten“, bot die Vanin ihre Hilfe an. Ihre Augen funkelten vor Hochspannung.

„Nein“, befahl Jarick abweisend. „Lunela ist meine Schülerin. Es handelt sich um eine Alvaren- und Sebjoangelegenheit.“

Zu Jaricks Überraschung fügte sie sich gehorsam.

„Till, Ihr werdet mich allerdings begleiten“, forderte Jarick zornig.

„Gewiss, Forseti“, neigte Till ehrfurchtsvoll sein Haupt.

Nela Vanadis

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