Читать книгу Nela Vanadis - Nina Lührs - Страница 7
ОглавлениеDie hungrigen Urhunde
Nela stand am Fenster, möglichst weit entfernt von ihrem Entführer. Am liebsten würde sie auch die Wahrheit aus ihm herausprügeln, aber das ließ ihr Gewissen nicht zu. Aber wie konnte sie ihn zum Sprechen bringen?
Ihr Schädelbrummen kehrte zurück, erschwerte ihr das Denken. Während sie ihre Schläfen massierte, schloss sie ihre Augen, konzentrierte sich auf den angenehmen Druck, den ihre Finger ihr bescherten. Schließlich ließ sie die Hände fahren, öffnete die Augen und seufzte erleichtert. Anstatt sich eine Strategie für das Verhör zu überlegen, wanderten ihre Gedanken fortwährend zu Jarick. Nicht zuletzt, weil das taube Gefühl an ihrer Hand sie wissen ließ, dass Jarick und sie nicht in derselben Welt verweilten. Schnellstmöglich musste sie einen Weg hinaus aus Hel finden. Groll gegen ihren Entführer wallte in ihr auf. Nur seinetwegen befand sie sich in der Unterwelt, war getrennt von Jarick und Tristan.
Im Augenwinkel bemerkte Nela eine Bewegung; lenkte sie von ihrer Wut ab. In den zerklüfteten Felsen tappte einer der Urhunde. Wachsam verfolgte Nela seinen Weg, der zielstrebig auf die Wohnhöhle zuhielt. Als er inmitten der Verletzten und Toten stehen blieb, hob er seinen Kopf. Sein Blick war direkt auf Nela gerichtet, ein warnendes Knurren drang aus seiner Kehle. Eine unmissverständliche Drohung, die Nela das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Langsam kamen weitere Urhunde hinzu, gesellten sich zu dem Ersten und wiederholten das beunruhigende Gebaren. Das Knurren schwoll an, hallte durch die Unterwelt, verdrängte jedes andere Geräusch, schwoll ohrenbetäubend laut an. Abrupt brach das Knurren ab, nur ein schauriges Echo verfing sich in den Felsen.
Die ausgehungerten Urhunde fletschten die Zähne, schnappten nacheinander, bevor sich der Alpha über die erste Leiche hermachte. Gezielt rammte er sein messerscharfes Gebiss in den Leichnam und riss ein großes Stück Fleisch heraus. Das Signal für die anderen, es dem Anführer gleichzutun.
Unfähig sich abzuwenden, beobachtete Nela den erschreckenden Anblick. Auch wenn die Toten in ihrem Leben böse Kreaturen gewesen waren, erschütterte es Nela dennoch, dass ihre Leichen einem Rudel Urhunde überlassen wurden. Warum kümmerte sich niemand um die Leichen, bewahrte sie vor diesem grausigen Ende? Die Vorstellung selbst nach dem Tod gefressen zu werden, rief in Nela eine uralte Beklemmung wach. Ein kalter Schauder fuhr ihren Rücken hinab.
„Nela?“, drang nur leise Emmas Stimme zu ihr durch. „Du musst dir das nicht ansehen.“
„Doch“, erwiderte Nela abweisend, ihren Blick fortwährend auf das grausame Fressen der Urhunde gerichtet. Zwei Urhunde rissen und zerrten an den Gliedmaßen des Dunkelalbs. Schließlich gaben die Sehnen und Muskeln nach, um sich von dem Torso zu lösen. Sie wollte sich abwenden, aber sie musste wissen und begreifen, wie grausam diese Welt war, in die sie unfreiwillig gelangte.
„Das ist grausam“, flüsterte Nela entsetzt, als ein Urhund mit seinen messerscharfen Reißzähnen den Bauch eines Leichnams aufriss, sogleich quollen die Gedärme heraus. Ekel kroch Nelas Kehle hinauf, während der Urhund sich hungrig über die Eingeweide hermachte. Die leblosen Augen des Draugers starrten gen Felshimmel, nahmen nicht mehr wahr, was seinem Körper angetan wurde.
„Es ist grausam“, Emma stockte, „Niemand füttert sie. Damit die Urhunde uns nicht jagen und fressen, sättigen sie sich an den Leichen. In dieser Zeit sind alle sicher vor einem Angriff.“
Der kalte Schauder verwandelte sich in ein Zucken, eiskalte Wellen ließen ihren Körper zittrig beben. „Warum?“, hauchte Nela. „Warum werden sie nicht gefüttert?“
„Um Angst und Schrecken zu verbreiten.“ Diesmal antwortete Balder. „Nur die Furcht vor den Urhunden hält die Bewohner in dieser Welt. Fügen sie sich, droht ihnen kaum Gefahr, widersetzen sie sich, ereilt sie ein grausiger Tod.“
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Das ist bestialisch“, entfuhr es Nela.
Ein gellender Schrei echote, als zwei Urhunde sich über den schwerverletzten Drauger hermachten, dessen Verletzungen ungewöhnlich langsam heilten.
„Wir müssen ihm helfen“, rief Nela entsetzt und wandte sich zur Tür.
Sanft hielt Balder sie auf. „Nein! Wir können nichts für ihn tun. Die Urhunde würden uns angreifen und töten. Hier herrscht nicht nur das Gesetz des Stärkeren, hier herrscht Hel. Es mag dir grausam erscheinen, den Drauger den Urhunden zu überlassen, aber wenn wir leben wollen, haben wir keine andere Wahl, als uns den hiesigen Gesetzen zu fügen.“
„Aber ...“, wollte Nela an seine Menschlichkeit appellieren.
„Hel ist eine grausame Welt“, bedauerte Balder. „Ich werde nicht zulassen, dass Ihr Euer Leben für einen Mörder riskiert. Jarick würde es mir niemals verzeihen, wenn ich seine Schülerin sterben ließe. In der Wohnhöhle sind wir sicher. Die Urhunde kommen niemals in die Höhlen.“
„Das sollte mich beruhigen, aber das tut es nicht“, erwiderte Nela zittrig. Die Drohung der Urhunde hallte immer leiser werdend durch die Unterwelt.
„Euch wird nichts geschehen“, versicherte Balder.
„Wie könnt Ihr Euch dessen so sicher sein?“, zweifelte die Alvarin.
„Vor Jahren gab ich Emma mein Wort, sie zu beschützen. Ihr geht es gut und lebt an diesem gefährlichen Ort in Sicherheit“, versuchte Balder Nelas Zweifel zu nehmen.
„Ihr kennt mich nicht. Warum solltet Ihr mich beschützen?“ Das Wort Schutz rief kein Gefühl der Sicherheit hervor. Zu grauenvoll spielte sich vor Nelas Augen das Fressen der Urhunde ab.
„Ihr gehört zur Sebjo meines Sohnes, folglich seid Ihr auch eine Lidam meiner Sebjo.“
Dunkel erinnerte Nela sich an Balders Worte, nachdem sie in dieser Wohnhöhle erwacht war. Dennoch brachte sie nur ein „Wieso?“, heraus, unfähig sich an die komplizierten Sebjozugehörigkeiten der Lysanen zu erinnern.
„Auch wenn mein Sohn sich von meiner Sebjo schon vor langer Zeit gelöst hat, bleibt er mein Sohn. Sobald er es nicht mehr vermag, sich um seine Lidam zu kümmern, fällt sie unter meinen Schutz“, erklärte Balder. Immer noch irritiert über Nelas Unwissen fügte er hinzu, „Ihr solltet mittlerweile mehr über unsere Gebräuche und Gesetze wissen, da Ihr die Schülerin meines Sohnes seid. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass Jarick Euch unwissend als seine Schülerin annahm. Zu schnell könntet Ihr Euch unwissentlich in Gefahr begeben.“
Ein boshaftes Lachen ertönte in der Wohnhöhle: ihr Entführer. Nelas Augen hefteten sich an den Gefesselten, der auf dem Boden an eine Wand gelehnt saß.
„Was gibt es zu lachen?“, fragte Balder eisig, doch er schwieg, gab keinen Laut mehr von sich.
„Ich wuchs als Unwissende in Midgard auf. Erst vor wenigen Monaten wurde ich eine Eingeweihte und erst seit einigen Wochen bin ich Jaricks Schülerin“, gab Nela ihm eine Erklärung, die jeder kannte. Keineswegs wollte Nela in der Gegenwart ihres Entführers mehr über sich preisgeben.
„Ich wusste, dass dein Vater es dir eines Tages erzählen würde, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du gleich Alvarin wirst“, entfuhr es Emma ungläubig.
„Er hat es mir nicht erzählt.“ Tränen brannten in Nelas Augen. Emma wusste nicht, was in Midgard an diesem warmen Sommertag geschehen war.
„Insa? Ich hätte nicht gedacht, dass ...“
„Nein“, unterbrach Nela ihre Schulfreundin und wandte sich ihr zu.
„Wer dann?“
„Mein Schicksalswächter“, brachte Nela nur heraus, wieder huschte ihr Blick zu ihrem Entführer. Balder bemerkte es, sodann griff er grob nach seinem Arm, zerrte ihn auf seine Beine. „Emma, öffne die Falltür zum Keller.“ Sofort reagierte die Elfe. Schnell zog sie an dem Ring, der die im Boden eingelassene dicke Steintür öffnete. Balder stieß ihren Entführer schroff die Treppe hinunter. Schließlich kam er zurück, verriegelte die Falltür. „Jetzt können wir ungestört reden.“
„Dann gab es bestimmt viel Ärger. Deine Eltern wollten unbedingt, dass du nichts erfährst. Ist dein Schicksalswächter einfach zu dir gekommen und hat dir die Wahrheit erzählt?“, zweifelte Emma. Neugierde schwang in ihrer Stimme mit. Ungeduldig schaute sie Nela an, die tief durchatmete, bevor sie eine Antwort gab. „Nein. Er hat mich gerettet und mir dann von der eingeweihten Welt erzählt.“
„Was ist passiert? Wie bist du in Gefahr geraten?“ Emma war ganz aufgeregt, und Sorge schwang in ihrer Stimme mit. Die Fürsorge einer engen Freundin.
„Während unseres alljährlichen Familienfestes stürmten abtrünnige Birger die Feier und ermordeten meine Familie.“ Immer noch spürte sie den Schmerz und die Trauer.
„Oh mein Gott“, entfuhr es Emma entsetzt. „Ich fasse es nicht, dass die Birger es wagten, inmitten der unwissenden Welt unseren Streit zu tragen.“
„Das erklärt aber noch nicht, warum Jarick Euch so schnell als seine Schülerin annahm“, wollte Balder den Grund wissen.
„Jarick und mein Schicksalswächter Tristan Paladin wollten eigentlich nur ein Tvenning-Bündnis bilden. Ich war damit beschäftigt, die Regeln des Ordens zu lernen und mich auf meine Aufgabe als Großpriorin vorzubereiten, als Odin und Freya verfügten, dass ich dem Bündnis beitreten muss. Ich wollte gar nicht Alvarin werden. Ich wollte erst einmal lernen, was es bedeutet, eine Walküre zu sein.“
„Odin! Das sieht ihm ähnlich, dass er sich über die Gesetze erhoben hat. Ein Lysane entscheidet, wer seine Schülerin wird“, regte Balder sich über seinen Vater auf.
„Ich weiß, aber er überzeugte Jarick ...“
„Er zwang ihn, passt es wohl besser“, erkannte Balder die Vorgehensweise seines Vaters.
Nela nickte.
„Ich habe kaum Erfahrung mit der Kenning einer Alvarin, aber wir sollten die Zeit, in der Ihr hier seid, nicht vergeuden. Jarick lernte seine Kampfkunst von mir. Ich werde Euch genauso wie Emma darin unterweisen.“
„Zuerst muss Nela sich ausruhen, und zwar eine ganze Weile. Sorry, Nela, aber du siehst furchtbar aus“, beharrte Emma. Nur ansatzweise konnte Nela sich vorstellen, wie desolat ihr Erscheinungsbild sein musste. Unweigerlich griff sie an ihre Schläfe, spürte dort den rauen Verband. „Ich habe wieder ein schreckliches Kopfdröhnen.“
„Gewiss hast du eine Gehirnerschütterung. Damit ist nicht zu spaßen“, stellte Emma fest, während sie Nela auf einen Stuhl zwang. „Du solltest nicht stehen.“
„Woher habt Ihr die Bisswunden?“, forschte Balder nach.
Es fiel Nela immer noch schwer, über die Ereignisse zu sprechen. „Ein frevlerischer Drauger namens Fido Tanner entführte mich und ...“
„Ich verstehe“, sagte Balder mitfühlend, als Nela stockte.
„Und nur wenig später wurde ich wieder entführt“, fügte Nela hinzu, während ihr Blick auf die Tür zum Keller fiel.
„Hängt das zusammen?“, fragte Balder nachdenklich.
„Ich weiß es nicht. Fido wollte sich an mir rächen, weil ich ihn vor seinem Ansu gedemütigt habe. Er ist tot. Ich weiß nicht, ob Theo Frankus hinter der erneuten Entführung steckt.“
„Theo Frankus?“
„Er ist der Draugerjarl in Midgard“, gab Emma dem Asen eine Erklärung.
„Emma, warum bist du hier?“, wollte Nela wissen. „Ich habe dich gesucht. Von heute auf morgen warst du verschwunden. Deine Eltern gaben mir nur die Auskunft, dass du vermisst wirst. Ich hoffte die ganze Zeit, die Polizei möge dich lebend finden.“
„Sie wussten, wo ich bin“, erwiderte Emma traurig. „Sie forderten diese harte Strafe, um ein Exempel zu statuieren.“
Verständlichlos starrte Nela die Elfe an. Sie konnte nicht fassen, dass Eltern ihr Kind freiwillig dieses Schicksal aufbürdeten. „Für was? Was hast du getan?“ Ganz gleich, gegen welche Gesetze Emma verstoßen hatte, konnte Nela keine Rechtfertigung finden, dass ihre eigenen Eltern sie nach Hel verbannten.
„Meine Eltern erfuhren durch einen anonymen Brief von meiner Liebesbeziehung zu Olf.“ Nela wusste, dass Emma und Olf sich ineinander verliebt hatten. Lange verleugneten sie ihre innige Zuneigung, bis sie schließlich ihren Gefühlen nachgaben und ein Paar wurden. Allerdings wussten nur die Freunde aus ihrer Clique von den beiden. Doch wer hatte sie verraten? Nela konnte es nicht glauben, dass einer ihrer Freunde die beiden denunziert hatte.
„Weil ihr euch geliebt habt, bist du nach Hel gekommen?“, stieß Nela verärgert aus. Das Schicksal ihrer Freundin erinnerte sie an ihr eigenes.
„Nela, Olf ist ein Wolfsmann. Es ist verboten, dass Elfen und Wolfsmänner sich verlieben.“ Tränen rannen Emma die Wangen hinunter. Sie liebte Olf immer noch. Und Nela war sich ziemlich sicher, dass Olf auch Emma liebte.
„Es geht Olf gut. Er studiert in Bremen“, ließ Nela sie wissen.
„Das wollte er immer, obwohl sein Vater dagegen war. Unsere alte Clique gibt es wohl nicht mehr“, bedauerte Emma. „Ich bin hier, Olf in Bremen, Malvin ist tot, du bist nun auch hier. Wo sind die anderen?“
„Nur Malvin und ich sind in Lüneburg geblieben. Alle anderen studieren in anderen Städten.“
„Es war klar, dass sie uns irgendwann alle auseinander bringen.“
„Sie?“
„Ja, die Großprioren der Orden. Sie sahen es gar nicht gerne, dass sich Walküren, Werwölfe, Berserker, Birger, Disen, Dunkelalben, Zwerge, Riesen und Elfen angefreundet hatten, dass wir eine Art Sebjo bildeten, die auf Vertrauen und Zuneigung basierte. Sie sahen in unserer Gemeinschaft eine Gefährdung für das geltende Gesellschaftssystem.“
„Du bist eine Elfe, Olf ein Wolfsmann, Malvin ein Walkür und ich eine Walküre. Wer unserer restlichen Freunde ist was?“, fragte Nela verblüfft.
„Rena ist eine Dise, Alva eine Dunkelalbin, Meitje ist eine Zwergin, Bjarne ein Berserker, Leon ein Birger und Ole ein Riese.“
„Interessant“, äußerte Balder sich dazu. „Zehn, davon fünf Mädchen und fünf Jungs aus verfeindeten Orden.“
„Ole ist ein Jötunn?!“, entfuhr es Nela überrascht. „Das kann nicht sein. Er ist viel zu klein.“
„Sobald Riesen nach Midgard kommen, können sie der menschlichen Körpergröße anpassen“, erklärte Emma.
„Nicht nur du und Olf wart ein Liebespaar. Ich war überrascht, als nach deinem Verschwinden, sie sich von heute auf morgen trennten.“
„Verständlich“, murmelte Emma.
„Mit wem wart Ihr liiert, Lunela?“, hakte Balder neugierig nach.
„Mit niemandem aus unserem Freundeskreis.“
„Gab es keinen Vertreter der Lysanen?“, wollte Balder neugierig wissen.
„Nein. In Midgard leben vor allem Drauger, deshalb war es sehr unwahrscheinlich, einen Lysanen als Kind kennen zu lernen. Wir besuchten alle den gleichen Kindergarten und freundeten uns an.“
„Welchen Zweck verfolgen die Nornen?“, dachte Balder laut nach.
„Vielleicht ein erster Schritt, damit wir friedlich zusammenleben“, mutmaßte Emma.
„Mag sein, aber eure ungewöhnliche Sebjo wurde zerschlagen.“
„Nein“, war Nela sich sicher. „Auch wenn wir nicht mehr am selben Ort leben und uns regelmäßig sehen, besteht unsere Freundschaft fortwährend. Ansonsten hätte Olf mir in Bremen nicht geholfen und um seinen Freund Malvin getrauert.“