Читать книгу MANGOKNÖDEL - Nina Waitz - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеWilhelm war gerade in der Stuba, dem Wohnzimmer, und schaute mit seiner Mutter fern. Übermorgen sollte der große Tag sein, an dem er mit dem Bus nach Innsbruck und dann mit dem Zug nach München fahren und das erste Mal seinem großen Idol gegenübersitzen sollte. Er konnte an fast gar nichts mehr anderes denken. Draußen schneite es in dicken Flocken und er betete, dass die Straße talauswärts nicht wegen Lawinengefahr gesperrt sein würde. Plötzlich stand seine Mutter auf und stöhnte: „Irgendwie isch mir heit gar nit guat, Bua.” Sie schaute ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, drehte sich in Richtung Türe, wollte einen Schritt nach vorne machen und fiel vornüber auf den Boden. Wilhelm war zuerst wie erstarrt und erwartete, dass sie gleich wieder aufstehen würde. Er hatte seine Mutter noch nie richtig krank gesehen, er dachte zuerst sie sei nur gestolpert. Doch sie blieb regungslos liegen. Da schoss er aus seinem Fernsehsessel und beugte sich über sie. Er rief: „Muater, Muater, was ist mit dir?“ Keine Reaktion. Er schüttelte sie und tätschelte ihre Wangen - nichts, sie lag einfach nur da. Nun bekam es Wilhelm mit der Angst zu tun, er sah zwar, dass sie noch atmete, aber er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert war. Schnell zog er seine dicke Winterjacke an und lief im Schneegestöber zum Haus der „Demesen”, zu Martha, der Hebamme und Heilerin des Dorfes. Er stürmte zur Türe herein und schrie: „Martha, kimm schnell, die Muater....!“
Martha, durch den fast hysterischen Unterton in seiner Stimme alarmiert, sprang auf, zog sich schnell den Wintermantel über, schnappte sich ihre große schwarze Tasche und lief mit Wilhelm hinaus zum Nachbarhaus. Ida lag immer noch genauso am Boden, wie sie Wilhelm verlassen hatte. Martha beugte sich zu ihr hinunter, fasste ihr an den Hals, zog ihre Augenlieder nach oben, ließ sie wieder los, tastete nach ihrem Puls am Handgelenk, sah auf die Uhr, schaute auf und sagte hastig: „Da kann ich nichts machen, wir brauchen schnell einen Arzt.“ Die nächsten Stunden erlebte Wilhelm wie in Trance, er war irgendwie emotionslos, so als ob ihn das Ganze nichts angehen würde. Er stand nur da und sah zu, wie Martha in den Vorraum stürmte, den Telefonhörer abnahm und eine Nummer wählte. Er hörte sie in der Ferne irgendetwas sagen und verstand nur „Krankenwagen..................... Straße gesperrt...........“. Mittlerweile hatte sich das Unglück schon im Dorf herumgesprochen, und Josef kam hereingestürmt. Er redete schnell mit Martha und sagte dann laut: „Dann fahr ich mit ihr ins Krankenhaus, de Lena soll nur kemmen“. Schnell beugte er sich hinunter, nahm seine regungslose Schwester auf seine Arme und hob sie auf. Zu Wilhelm gewandt schrie er: „Mach mir die Türe vom Auto auf, Bua!“ Der Junge erwachte aus seiner Starre und lief vor seinem Tet zum Auto, öffnete die Türe zum Rücksitz und beobachtete, wie seine Mutter sanft dorthin gebettet wurde. Er konnte sie zwar atmen sehen, aber ansonsten schaute sie aus wie tot. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, nicht nur wegen der Kälte. Er war gerade dabei, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, als ihn Josef fragte: „Bua, des wird eine gefährliche Fahrt, die Straße ist wegen Lawinengefahr gsperrt, willst du wirklich mit?“ Ohne Nachzudenken und ohne ein Wort zu sagen, setzte sich Wilhelm demonstrativ hin und schnallte sich an. Josef nickte mit dem Kopf, ging schnell um das Auto herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Er startete den Wagen und fuhr langsam durch den schon hohen Schnee über die vereiste Brücke aus dem Dorf hinaus auf die Bundesstraße. Auch hier war schon seit Stunden kein Räumfahrzeug mehr gefahren und dementsprechend viel Schnee lag auf der Fahrbahn. Josef starrte konzentriert nach vorne und versuchte, die Straße auszumachen. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen, geschweige denn den richtigen Weg vor dem Auto. Aber Josef war diese Strecke schon so oft gefahren, er wusste genau, wo es langging. Und er wusste auch, dass er nicht zu sehr aufs Gas steigen durfte, so gerne er das auch tun wollte. Seine Schwester, die er über alles liebte, lag reglos hinter ihm und er spürte, dass die Zeit gegen ihn war. Der Schneefall wurde immer mehr, und Josef betete, dass sich die Lawine, die bei diesen Bedingungen meist vor St. Leonhard niederging, noch Zeit ließ. Er sah vor sich den geschlossenen Lawinenschranken. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen ignorierte, doch heute lag wirklich schon sehr viel Schnee auf dem Berg zu seiner rechten und er wusste, dass der Untergrund nicht der Beste war. Eigentlich konnte es nicht mehr lange dauern, bis sich eine weiße Wand ins Tal wälzte. Er wies Wilhelm an: „Schnell, steig aus und mach den Schranken auf! Wenn i durch bin, machst ihn wieder zu!“. Dieser tat flink wie ihm geheißen und kurze Zeit später fuhren sie durch den Lawinenstrich. Josefs Herz schlug ihm bis zum Hals, er starrte wie gebannt aus dem Fenster und versuchte, nicht von der Straße abzukommen. Er wusste es genau - einige 100 m rechts von ihm ragte eine Felswand empor und ein paar Meter links von ihm rauschte die Pitze. Beides keine verlockenden Ziele. So konzentrierte er sich und hantelte sich von Schneestange zu Schneestange, die in regelmäßigen Abständen plötzlich aus dem Schneegestöber erschienen. Gleichzeitig horchte er nach draußen, ob schon ein Grollen von oben zu hören war. Kurz schaute er zu Wilhelm hinüber, der wortlos und mit schneeweißem Gesicht nach vorne starrte. Natürlich wusste auch er von der Gefahr, in der sie sich befanden. Um die unheilvolle Stille zu durchbrechen und auch sich selbst Mut zu machen, sagte Josef: „Mir schaffen des, Bua, es werd alles wieder guat!“, und legte eine Hand auf das Knie seines Schützlings. Dieser starrte weiter nach draußen und nickte fast unmerklich. Josef nahm das Lenkrad wieder fest in beide Hände und richtete seinen Blick konzentriert nach vorne. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren und langsam tastete sich der Wagen vorwärts. Fast gleichzeitig erblickten beide die Kapelle von Weixmannstall – das Ende des Lawinenstrichs – und atmeten erleichtert auf. Die erste Gefahrenstelle lag hinter ihnen. Auch die Straßenverhältnisse besserten sich ein wenig, hier war wohl vor noch nicht allzu langer Zeit ein Schneepflug gefahren. Josef gab ein bisschen mehr Gas und sie kamen schneller voran. Nun lag der zweite und letzte Lawinenstrich vor ihnen. Reflexartig hielten beide die Luft an und lauschten nach draußen. Josef trat noch mehr aufs Gas, er wollte das so schnell wie möglich hinter sich bringen. Plötzlich hörten sie wirklich das gefürchtete Geräusch – ein tiefes, unheimliches Grollen ertönte vom Berg herab. Wilhelm hatte sich als Kind immer einen alten, mürrischen Berggeist vorgestellt, der gerade von jemandem im Mittagsschläfchen gestört wurde und nun seinen Unmut laut kundtat. Josef stieg aufs Gas und raste eigentlich viel zu schnell über die Schneefahrbahn. Plötzlich tauchte eine waagrechte Stange im Schneegestöber vor ihnen auf - der rettende Lawinenschranken! Dieser zeigte das Ende des Lawinenstrichs an. Josef war ein guter Winterfahrer und wusste, dass er zu schnell dran war, um ohne Schleudern vor dem Schranken ins Stehen zu kommen. Er stieg sanft auf die Bremse, der Wagen schlitterte ein wenig, er löste die Bremse kurz und wiederholte das so lange, bis sie still standen – und zu seiner Überraschung war das wirklich nur einige Zentimeter vor dem Schranken. Beide atmeten auf, doch Josef wusste, dass sie noch nicht in Sicherheit waren. Er rief Wilhelm zu: „Schnell, Bua, mach den Schranken auf!“ Dieser löste sich wieder aus seiner Starre, stieg aus, öffnete den Schranken, ließ das Auto durchfahren, schloss ihn wieder und setzte sich neben seinen Onkel. In diesem Moment wurde das Grollen lauter und lauter, beide drehten sich schnell um und konnten ein paar Meter hinter ihnen beobachten, wie die Lawine die Straße unter sich begrub und sich dann in den Fluss wälzte. Wahrscheinlich dachten beide gerade dasselbe – nur ein paar Minuten später und sie wären jetzt darunter begraben. Doch es war keine Zeit zum lange darüber Nachdenken, sie sahen die immer noch reglos daliegende Ida am Rücksitz und wussten, dass sie nur mehr wenig Zeit hatten. Josef gab wieder Gas. Ab nun schien auch der Wettergott auf ihrer Seite zu stehen und der Schneefall ließ nach. Auch die Schneeräumung hatte im vorderen Pitztal besser funktioniert und sie kamen zügig voran. Nach drei Stunden Fahrt – doppelt so lange wie unter normalen Umständen - kamen sie endlich im Krankenhaus in Zams an. Josef stürmte aus dem Auto in das Gebäude hinein und kam gleich wieder mit ein paar Schwestern und einer Trage heraus. Wilhelm sah, wie seine Mutter darauf gelegt wurde und mit allen anderen schnell im Inneren des Spitals verschwand.
Immer noch wie in Trance ging auch er langsam hinein. Sein Onkel erwartete ihn schon bei der Aufnahme und gemeinsam suchten sie einen freien Platz im Warteraum. „Des wird jetzt a Weile dauern, sie machen die ganzen Untersuchungen und dann wissen wir hoffentlich mehr“, sagte Josef mit gedämpfter Stimme. Wieder nickte Wilhelm kurz. „Dann wissen wir mehr“ – hallte es plötzlich in Wilhelms Gehirn wider und es kam ihm vor, als erwache er aus einem bösen Traum. Doch nach kurzem Überlegen realisierte er, dass er nicht geträumt hatte, sondern dass das alles wirklich geschehen war. Auf einmal brach er in Tränen aus. Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen und schluchzte laut. „Was ist mit ihr? Verlasst sie mi jetzt a so wie der Vater? Was soll jetzt werden?“. Josef nahm ihn in seine Arme und versuchte, ihn zu beruhigen: „Es wird sicher alles wieder gut, Bua, die Ärzte da können wahre Wunder vollbringen.“ Doch irgendetwas sagte Wilhelm, dass das nicht stimmte.