Читать книгу MANGOKNÖDEL - Nina Waitz - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеWilhelm steht am offenen Grab seiner Mutter und starrt hinunter auf den Sarg, der schon bald mit Schnee bedeckt sein wird. Er ringt mit sich selbst, er fühlt sich schuldig, denn er kann keine Trauer empfinden. Alles, was er in sich spürt, ist Befreiung, es fühlt sich an, als würde er fliegen, als wäre eine große Last von ihm genommen worden. Er kann es kaum erwarten, sich in sein neues Leben zu stürzen, mag es allen anderen auch noch so verrückt und unvernünftig vorkommen.
Er schaut sich um auf dem kleinen Friedhof in St. Leonhard. Hier ist das Pitztal, seine Heimat, besonders eng und dunkel. Drei Monate im Jahr schafft es die Sonne nicht, mit ihren wärmenden Strahlen zwischen den steilen Felswänden hervorzukommen. Dementsprechend kalt und lange sind die Winter. Wilhelm erschaudert ob der eisigen Kälte um ihn herum und auch in seinem Inneren. Sein Blick fällt auf die umliegenden Gräber. Sie sehen alle gleich aus. Ausnahmslos bestehen sie aus einem kleinen, mit grauen Ziegeln eingefassten Blumenbeet, dahinter befindet sich der Grabstein aus grauem Granit mit Inschrift – natürlich alle in der gleichen verschnörkelten Schriftart – und darauf steht ein schwarzes, schmiedeeisernes Kreuz. Aus der Reihe tanzen wird auch hier nicht gerne gesehen.
Alle Nachnamen auf den Grabsteinen sind Wilhelm ein Begriff, viele der Verstorbenen hat er selbst gekannt, von fast allen kennt er jemanden aus der Familie. Das Gemeindegebiet hat zwar eine Fläche von ungefähr 200 km2, jedoch besteht der Großteil aus steilem Gebirge und Felsen. Deshalb ist die Einwohnerzahl auch nicht besonders groß, in den drei Dörfern und unzähligen kleinen Weilern leben gerade mal 1400 Menschen. Und man kennt sich in St. Leonhard, schon seit Generationen. „Zuagroaste“ - Leute, deren Stammbaum nicht vorwiegend im Pitztal herangewachsen ist – gab es immer schon wenige. Das karge, enge Tal mit den langen, kalten Wintern und schwierigsten Arbeits- und Lebensbedingungen war nie sehr attraktiv für Zuwanderer. Deshalb blieb man unter sich im hintersten Pitztal.
Wilhelm wurde im Weiler „Neurur“ geboren, zu dieser Zeit, 1958, standen dort 8 Häuser, jetzt sind es sage und schreibe 23. Jedes dieser 8 Häuser war ein sogenannter „Hof“, ein Bauernhof einer Bauernfamilie, die seit Generationen hier in ärmsten Verhältnissen lebte und unter härtesten Bedingungen auf den steilen Wiesen ihre Felder bestellte und damit versuchte, sich und ihre Tiere durch die harten Winter zu bringen. Neben der Landwirtschaft konnte man damals ein wenig Geld im Fremdenverkehr dazuverdienen.
Auch Wilhelms Vater, Roman Neururer, dem Hofnamen nach „Zischgn-Roman“ genannt, war wie viele seiner Nachbarn Bauer und zusätzlich Berg- und Schiführer. Wenn er mit den „Fremden“, den Touristen, am Berg war, musste Wilhelms Mutter den Hof alleine bewältigen. Im Sommer die steile Wiese mähen und das Heu in den Stadel bringen, sobald es einmal nicht regnete, und im Winter den Stall und die Tiere versorgen. Mit dem kleinen Nebenerwerb vom Vater schlugen sie sich verhältnismäßig gut durchs Leben und konnten sich sogar den Luxus eines Fernsehapparats leisten, als der Empfang auch im hintersten Tal endlich möglich war, zwar noch mit Rauschen und natürlich schwarz/weiß, aber die „Zischgns“ fühlten sich in einem neuen Zeitalter angekommen.
Dann, am 2. März 1964 änderte sich alles – Wilhelm erinnert sich noch genau an diesen Tag, obwohl er erst 6 Jahre alt war. Er saß vor dem Fernseher, draußen schneite es wieder einmal wie wild. Doch in der Stube war es wohlig warm, der Kachelofen glühte beinahe. Plötzlich klopfte es, hämmerte es an die Türe – „Hartls Katie“, die Nachbarin mit der Poststelle und dem einzigen Telefon im Ort stand aufgelöst im Schneegestöber und stammelte zu seiner Mutter: „A Lena am Taschachferner“ – eine Lawine. Wilhelm wusste genau, was das war, schon als kleiner Junge. Im Pitztal wuchs man mit dieser in jedem Winter drohenden Gefahr auf. Jedes Jahr wurde die Bundesstraße durch die Schneemassen verlegt, und man war abgeschnitten vom Rest der Welt. Einmal ging sogar knapp neben ihrem Haus eine Lawine vorbei, Wilhelm spürte die gewaltige und machtvolle Druckwelle und hörte das unheimliche Rauschen schon Minuten, bevor er den Schnee ins Tal kommen sah. Dann starrte er wie gebannt aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die irgendwie träge aber doch blitzschnelle weiße Masse ins Tal wälzte. Beinahe jedes Jahr starb jemand aus dem Bekanntenkreis in den Schneemassen – vor allem beim Tourengehen mit Touristen. Wilhelm hatte immer schon große Angst vor den „Lenen“.
An jenem Tag musste er nun zusehen, wie die Augen seiner Mutter immer glasiger wurden, wie die ersten Tropfen aus ihren Augenwinkeln hervortraten und über ihre Wangen liefen, gefolgt von einem nie enden wollenden Schwall an Tränen. Ein fremder, fast unmenschlicher Schrei drang aus ihrem Mund, Wilhelm hatte plötzlich schreckliche Angst und ahnte, dass es nie mehr so sein würde wie zuvor.
Und so war es auch - von nun an gab es nur mehr ihn und seine Mutter – und den Hof. Die Nachbarn und Verwandten im Weiler halfen so gut es ging, aber jeder hatte alle Hände voll damit zu tun, die eigene Familie durchzubringen, sodass die meiste Arbeit doch bei Mutter und Sohn hängenblieb. Schon mit 7 Jahren stand Wilhelm im steilen Feld, mähte mit der viel zu großen Sense, rechte zusammen und hängte kleine Grashäufchen um die „Huanzen“, Holzgestelle, an denen das frisch gemähte Gras aufgehängt wurde, damit es schneller trocknete und nicht verfaulte. Dann jedes Jahr das bange Hoffen auf gutes Wetter, Dauerregen könnte die gesamte Heuernte verfaulen und unbrauchbar werden lassen.
Die Mutter musste lernen, mit dem ungeliebten Traktor umzugehen, doch schon bald übernahm das auch Wilhelm. Das getrocknete Gras musste als Heu in den Stadel gebracht werden, um das Vieh, das in den Sommermonaten auf der Alm „Urlaub“ machte, durch den langen Winter zu bringen. Sie hatten meist um die zehn Kühe und vier Schweine.
Im Winter war dann die meiste Arbeit im Stall zu erledigen. Die Tiere mussten gefüttert, die Kühe zweimal täglich gemolken und der Stall gereinigt werden. Der Mist kam auf den Misthaufen, um im Frühjahr als Dünger verwendet werden zu können.
Wilhelm mochte den Winter, die Arbeit mit den Tieren und die Weiterverarbeitung der Milch immer lieber als die harte, anstrengende Feldarbeit. Er konnte es immer gut mit dem Vieh, seine Mutter meinte immer: „Wenn du in den Stall kommst, lacht auch noch der Hintern der Kühe“. Er verstand es, sie sanft zu melken und niemals kam es vor, dass eine Kuh ausschlug oder seinen Milcheimer umwarf, wie es doch des Öfteren seiner Mutter passierte. Er liebte das Geräusch, wenn die Milch frisch von der Zitze in den Eimer spritzte und ihm der Duft der weißen, warmen Flüssigkeit in die Nase stieg.
Am liebsten aber half er immer seiner Mutter beim Weiterverarbeiten der Milch, drehte an der „Fuga“ – der Zentrifuge - und beobachtete, wie aus einem Röhrchen die Magermilch und aus dem anderen süßer Rahm floss. Manchmal durfte er sogar seinen Finger in die wertvolle cremige Flüssigkeit eintauchen und davon kosten. Er wird nie diese Momente vergessen, wie er seinen Finger genussvoll in den Mund steckte und den Rahm abschleckte – und wie ihn seine Mutter dabei mit einem zärtlichen und liebevollen Lächeln beobachtete. Damals spürte er zum ersten Mal, dass Essen und Kochen ihn glücklich machten. Wenn er seiner Mutter helfen durfte, fühlte er sich endlich wieder geborgen, denn nur noch selten konnte er ihre Zuneigung spüren.
Seit dem Tag, an dem „Hartls- Katie“ in der Tür gestanden hatte, und dieser fast unmenschliche Aufschrei aus dem Mund der Mutter herausplatzte, schien es so, als wäre sie versteinert, oder zumindest ihr Herz. Nur selten berührte sie Wilhelm, es gab keine zärtlichen, herzlichen Worte mehr für ihren Sohn, und dieser begann sich schuldig zu fühlen für den Tod seines Vaters. Anders konnte er sich die Verwandlung seiner einst liebevollen Mutter nicht erklären. Einmal, es musste ungefähr drei Wochen nach dem verhängnisvollen Tag des Todes seines Vaters gewesen sein, fragte Wilhelm seinen „Tet“, seinen geliebten Paten und Onkel Josef: „Tet, warum isch die Muater auf einmal so anders, hat sie mi nimmer lieb?“. Josef schaute den siebenjährigen Buben mitleidsvoll an und sagte nur: „Lass ihr Zeit, Bua, sie hat grad das zweite Mal ihren Halt im Leben verloren.“ Wilhelm wusste damals noch nicht wirklich viel mit diesen Worten anzufangen und die Zeit verging, aber es änderte sich nichts am Verhalten seiner Mutter.
Erst Jahre später konnte Wilhelm langsam die Kälte seiner Mutter nachvollziehen, nachdem ihm sein „Tet“ die Geschichte seiner Eltern erzählt hatte...