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Arbeitszeit ist Lebenszeit

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An der Arbeitswelt zeigt sich die Ambivalenz der Gesellschaft gegenüber uns Älteren besonders deutlich. Wir über 50-Jährige gelten als zu teuer und nicht lernfähig.

Zugegeben, es gibt vereinzelte Betriebe, deren Leitung erkannt hat, dass es wirtschaftlich ganz einfach dumm ist, die Erfahrung von älteren Führungskräften und Fachleuten zu verlieren. Sie bieten pensionierten Mitarbeitern eine zweite Karriere als Senior-Experten gegen ein Beratungshonorar an. Aber warum nur so wenige?

Ja, Organisationen wie ASEP, Austrian Senior Expert Pool, wurden gegründet, damit Ältere Wissen und Erfahrungen an jüngere UnternehmerInnen weitergeben, diese beraten und coachen im Sinne von Generativität, das heißt an die kommenden Generationen denken und etwas „zurückzahlen.“ Aber warum bilden sich Initiativen dieser Art nur für Projekte in Industrie, Wirtschaft und öffentlichem Dienst?

Warum gibt es ein Johann-Gottfried-Herder-Programm nur für emeritierte WissenschafterInnen, die bei einer Gastprofessur im Ausland sogar Partnerin oder Partner mitnehmen können, und nicht etwas Ähnliches für andere Berufsgruppen? Zugegeben, es existieren vereinzelte Unternehmen mit Weiterbildungsund Gesundheitsprogrammen für ältere Arbeitnehmer, weil man Expertenwissen nicht vorzeitig – durch Frühpension oder innere Kündigung – verlieren möchte. Aber warum nur so wenige?

Zugegeben, es finden sich Personalfachleute und Führungskräfte, die bewusst auf die Erfahrung und das Können von uns Älteren setzen und nicht weiterhin an tranigen Vorurteilen festhalten wie abnehmende Belastbarkeit im Alter, höhere Krankheitsanfälligkeit, Skepsis vor Neuem. Aber warum nur so wenige?

Ja es gibt sogar Betriebe, die vorwiegend Ältere beschäftigen. Viele sind es nicht. Als Paradefall gilt die bekannte Firma „Vita Needle“ in Boston, USA. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind 70,80,90 Jahre alt, denn es gehört zur Firmenpolitik, die Präzisionsnadeln für Industrie und medizinische Anwendungen von Älteren fertigen und verpacken zu lassen.

Die Zusammenarbeit begann in den späten Achtzigern, als das Familienunternehmen Schwierigkeiten hatte, Arbeitnehmer zu finden, also probierte es die Firmenleitung mit Älteren. Diese suchten einen Nebenverdienst oder wollten der häuslichen Langeweile entkommen. Inzwischen läuft die Zusammenarbeit zur beiderseitigen vollsten Zufriedenheit. Die Vita Needle-Mitarbeiter kommen gerne, sind hoch motiviert, haben freie Wahl bei Arbeitszeit und Arbeitsstunden, und Chef Frederik Hartmann erfreut sich an einem Umsatzplus von hundert Prozent in fünf Jahren.

Auch „Veterankraft“ hat seit seiner Gründung 2010 seine Umsätze angeblich verzehnfacht. Das schwedische Unternehmen vermittelt Gelegenheitsjobs für Pensionistinnen und Pensionisten, die sich eine freiwillige Rückkehr aus der Pension in eine Arbeit wünschen, nicht nur weil die Pension zu niedrig ist, sondern weil die Leute „irgendetwas tun wollen und Lust auf Abwechslung haben“ wird Firmengründer Tomas Eriksson im Oktober 2013 in der Berliner Zeitung zitiert: „Das sind Leute, die ein langes Berufsleben hinter sich haben, und dann kommen sie nach Hause, und niemand ruft sie mehr an.“ Der Wunsch, etwas zu tun, tritt bei den meisten drei bis vier Jahre nach der Pensionierung auf, hat man bei Veterankraft beobachtet.

Dies soll kein Plädoyer sein, so lange arbeiten zu müssen bis wir halbtot vom Bürosessel, der Werkbank oder vom Montageband fallen, aber eine Anregung, unsere Vorstellungen vom Leben und der Arbeit grundsätzlich zu überdenken. Dazu gehört die Dualität Arbeit und Freizeit. Arbeit ist grundsätzlich Hölle, Freizeit ist grundsätzlich Paradies. Das Leben besteht daraus, ab Montag zu warten, dass das Wochenende kommt, das Jahr über auf den Urlaub zu hoffen und die Zeit der Pensionierung herbeizuflehen. Keine Frage, dass es genügend langweilige, anstrengende, uninteressante und noch dazu schlecht bezahlte Jobs gibt, die nicht viel mehr Möglichkeiten und Freiheiten bieten, als auf ein Leben nach der Arbeit zu warten. Großer Zeitdruck, Überbeanspruchung, schwere Lasten, Lärm, Staub, Hitze, Kälte, Unfallgefahren, das alles sind Faktoren am Arbeitsplatz, die krank machen und verständlicherweise dazu beitragen, dass der Job als Last und die Freizeit als Lust empfunden wird. Aber müssen wir darin Orientierungspunkte für die Zukunft sehen? Ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe, die Mitarbeiter nicht wie Zitronen auspressen, wurden bereits konzipiert und vereinzelt realisiert. Internationale Studien belegen, dass 60 Prozent der Befragten angeben, sie würden in der Firmenhierarchie eine Stufe hinuntersteigen, um etwas Sinnvolles zu machen. Status, Ansehen, Karriere sind nicht mehr die Lockmittel, jetzt muss die Work-Life-Balance passen und der Job soll mit den Fähigkeiten und Interessen übereinstimmen.

Gut so, aber reicht diese Einstellung für die Zukunft? Ist nicht zusätzlich ein genereller Aufstand gegen die verordnete Zeitdisziplin angesagt? Sollten wir nicht endlich das herkömmliche 3-Phasen-Modell Ausbildung-Arbeit-Ruhestand grundsätzlich hinterfragen, das in seiner Rigidität überholt ist? Die nachfolgenden Generationen werden es uns danken, wenn ihre Arbeitsbiographien nicht mehr so eintönig verlaufen wie die von uns jetzigen Älteren. Warum nicht mehr Zwischenräume, die wir zum Lernen, zum Nachdenken, zum Erholen nutzen, um danach wieder in denselben oder einen anderen Job hineinzugehen, allerdings mit jederzeit möglichem Einblick in unser Pensionskonto? Was die nach uns Kommenden brauchen, sind mehr Sabbaticals, mehr Experimente mit Zeitausgleich und Zeitguthaben, Modelle von Bildungsurlauben und sonstigen Auszeiten, die auch für jene realisierbar sind, die ihre Sozialversicherungsbeiträge nicht ein Jahr lang vom Sparkonto abbuchen können. Wir brauchen mehr Freiräume, ohne dass deswegen das System der sozialen Sicherheit, die große Errungenschaft des Sozialstaates, in Frage gestellt wird. Es muss doch möglich sein, dass jemand, der länger arbeiten will und kann, auch nach dem gesetzlich verordneten Pensionsalter in seinem oder einem anderen Job aktiv bleibt. Genauso muss es möglich sein, dass Menschen mit einem harten, körperlich fordernden Job einige Zeit früher gehen, ohne mit finanziellem Verlust bestraft zu werden. Warum entwerfen wir nicht Modelle eines flexiblen Pensionsantrittsalters, nicht in Form einer Jahreszahl, sondern in Form von Zeitspannen und Zeitwertkonten? Warum nicht den Renteneintritt als schrittweisen Prozess gestalten? Worauf warten wir?

Vor Kurzem traf ich einen alten Freund wieder, und im Verlauf unseres Gespräches sagte Rudolf, 76, den bemerkenswerten Satz: „Für mich ist Arbeitszeit Lebenszeit, ist Teil meines Seins als Künstler, als Mensch.“ Rudolf, der, wie es im Ausstellungskatalog heißt „sein ganzes Leben der Kunst gewidmet hat“, denkt nicht ans Aufhören, im Gegenteil, die Arbeit an seinen Materialbildern, an Siebdruck, Malerei und Objekt-Kunst wird für ihn immer intensiver und befriedigender.

Arbeitszeit ist Lebenszeit, und Lebenszeit ist Arbeitszeit im Sinne einer frei gewählten, selbstbestimmten, sinnstiftenden Tätigkeit – wäre das nicht eine wunderbare Vision für die kommenden Generationen?

Bald alt? Na und!

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