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FREI! UNENDLICH FREI? Pension: Sackgasse, Freizeitparadies, Neubeginn

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Es geschah beim Anflug auf Bali. Von Windböen geschüttelt, schlingerte das Flugzeug auf und ab. Die Flugbegleiter-Crew verteilte die üblichen Einreiseformulare. An sich keine große Sache. Ich hatte in der Vergangenheit schon hunderte dieser Zettel ausgefüllt. Name, Geburtsdatum, Nationalität, Beruf, Reisezweck. Als ich zur Spalte Profession kam, zögerte ich, denn ich war seit Kurzem in Pension. Aber 'Pensionistin' schreiben ging nicht, denn Pensionist ist kein Beruf, sondern ein Zustand. Ich, deren Leben jahrzehntelang weitgehend von der Arbeit geprägt war, konnte keinen Beruf mehr vorweisen. Kurz überlegte ich, doch noch Journalistin anzugeben, aber in der nächsten Zeile müsste ich meinen Arbeitgeber hinschreiben. Menschen, die in Pension sind, egal ob Lehrerin, Dachdecker, Laborleiterin, Content Manager, können keine Arbeitgeber nennen. Von den Turbulenzen bei der Landung habe ich nahezu nichts mitbekommen, weil mir zum ersten Mal seit meiner Pensionierung vor acht Monaten radikal bewusst wurde, dass ich nicht nur auf Bali sondern im Niemandsland des Ruhestandes gelandet war. Wieder zu Hause erwartete mich im Postfach der Ausweis, der meine neue Identität bestätigte. Ich war also jetzt eine gesetzlich anerkannte Pensionistin. Im Nachbarland würde man Rentnerin zu mir sagen, ein ebenso dumpfes, niederdrückendes Wort, mit dem einzigen Unterschied, dass Rentner ein Palindrom ist. Natürlich hatte ich einiges über Ältere gelesen, die aufs Abstellgleis geschoben werden, im Nichtstun-Nirwana enden oder vom Pensionsschock getroffen werden. Aber Lesen und Erleben sind unterschiedliche Erfahrungskonzepte, wie schon eine Anekdote über einen buddhistischen Meister erzählt: „Er las viel über die Sterne und wurde Astronom. Er las viel über Geschichte und wurde Lehrer. Er las viel über das Schwimmen und ertrank.“ Ich begann also, die Menschheit aus meinem neuen Blickwinkel zu betrachten. Wie ergeht es meinesgleichen, wie erleben 60-, 65-, 75-Jährige ihr Rentner-Dasein? Ich habe eine Immobilienhändlerin getroffen, die ihren Job voller Lust und Leidenschaft bis zum 80. Lebensjahr ausübte, einen Rechtsanwalt, der sich höchst widerwillig mit 67 von seiner Kanzlei trennte, eine Sekretärin, die einfach nur froh war, den immer rasanteren Arbeitsbedingungen entkommen zu sein, eine Biologin, die in der Pension Menschen im Taxi durch die Stadt fährt, eine Beamtin, die sich transzendentaler Meditation und Aromatherapie zuwandte, einen Manager, der zum Alkoholiker wurde, eine Schmuckkünstlerin, die auch noch mit 80 in ihrem Atelier steht und Metall bearbeitet. Aber es waren speziell drei Menschen, die mir mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen die Bandbreite eines Daseins nach einem abgeschlossenen Arbeitsleben bewusst machten.

Jan ist einer davon. Der 66-jährige Pole konnte seinen letzten Arbeitstag nicht erwarten. Über 30 Jahre lang ist er in die Grube eingefahren, und es waren die letzten beiden Jahre vor der Pensionierung, die ihm körperlich schwer zu schaffen machten, erzählt mir seine Schwester Elzbieta, die in Wien verheiratet ist und eine Reinigungsfirma betreibt. Jan meldete sich mehrmals krank, aber dadurch schob sich sein Pensionsantritt immer wieder aufs Neue hinaus, denn im Kohlebergwerk galt als Regel, dass jeder Krankenstand eingearbeitet werden musste und hinten angehängt wurde. Nicht nur einmal ging Jan mit schwerer Bronchitis und Fieber zur Arbeit, wusste er doch, dass seine Krankheit ihn noch weiter vom ersehnten Pensionsantritt entfernen würde. Dann war es endlich soweit, und Jan gab ein Fest für ein paar seiner Kumpels und seine Verwandten.

In den ersten Monaten genügte es ihm, ohne Helm und Grubenlampe unter freiem Himmel hin und her zu gehen und sich bei Regen nackt in den Garten zu stellen, damit „der Kohlendreck raus kann.“ Danach wurde er unruhig, wusste nichts mit sich anzufangen, litt unter gesundheitlichen Rückfällen und war häufig beim Arzt. Es dauerte einige Zeit, bis er zu einem neuen Lebensrhythmus fand. Er hilft nun seiner Frau bei schweren Gartenarbeiten, spielt mit ehemaligen Kollegen Karten, bessert Schäden am Haus aus, übernimmt kleine Handwerksarbeiten.

Heinz kenne ich schon lange. Der heute 72-Jährige war als freiberuflicher Industriedesigner immer selbstständig gewesen. Mal gab es Aufträge, dann war wieder Flaute. Ein ewiges Auf und Ab ohne die Sicherheit eines monatlichen Einkommens, dafür aber mit freier Zeit- und Arbeitseinteilung. Als Heinz älter wurde, blieben die Aufträge mehr und mehr aus, bis er letztendlich keine Angebote mehr schreiben musste. Der Pensionsantritt bedeutete für ihn Entspannung, denn seither kommt regelmäßig jeden Monat Geld aufs Konto, auch wenn es nur eine magere gesetzliche Mindestrente ist, aber zum Glück liegt die Wohnungsmiete im unteren Bereich. An Heinz’ Lebensentwurf hat sich vor und nach der Pensionierung nicht allzu viel geändert. Er knabbert weiterhin sein Erspartes an, hält Ausschau nach Sonderangeboten, ist ausreichend beschäftigt, Gemüse und Obst als Vorräte anzulegen und die eigenen Kleidungsstücke zu reparieren. Das hat er von seiner Frau gelernt, die vor zehn Jahren gestorben ist. Theater, Konzert, Essen gehen oder Zeitungsabonnements stehen nicht am Programm. Nachrichten entnimmt er dem Internet oder den TV-Informations-Sendungen. Das Ausleihen von DVDs lässt ihn vergessen, dass er vor zehn, fünfzehn Jahren regelmäßig ins Kino gegangen ist. Eine Leidenschaft gönnt sich Heinz, die er sich durch zusätzliche Sparmaßnahmen und kleine Zusatzjobs finanziert, wie Hunde und Wohnungen betreuen. Einmal im Jahr ist er mit seinem fürs Campen eingerichteten uralten Kombi fünf Wochen in Frankreich unterwegs.

Martha, 61, lernte ich bei einem Seminar über die „Potenziale des Alters“ kennen. Sie erzählte mir, sie habe sich für einen „Golden Handshake“ entschieden. Von Seiten der Personalabteilung wurde ihr mit 58 nahegelegt, in Pension zu gehen, nicht weil die Gesundheitsmanagerin schlechte Ergebnisse lieferte, sondern weil Einsparungen gefragt waren und ältere Arbeitnehmer als Erste auf der Liste standen. Martha, die sich selbst als umtriebig beschreibt, entwarf sofort Zukunftspläne. Sie wollte nicht untätig herumsitzen, musste sich aber ein paar Monate später eingestehen, dass sie es sich leichter vorgestellt hatte, ihr Können und Wissen als Privatperson und nicht mehr als Vertreterin einer angesehenen Organisation anzubringen.

Für die einen ist die Pensionierung der große, heiß ersehnte Jackpot, für die anderen der Fall ins Nichts. Jeder von uns wird sich vorstellen können, dass Jan froh ist, der Kohlengrube halbwegs heil entronnen zu sein. Bei Heinz gibt es kein wirklich dra matisches Vorher-Nachher-Gefälle. Anders bei Martha. Aufgewachsen in einer Zeit und einem Umfeld, wo für Frauen nur Kinder, Küche, Kirche vorgesehen waren, bedeutete der Job für sie finanzielle Unabhängigkeit, war ein Symbol für Selbstständigkeit und gab ihr die Genugtuung, es als Frau in eine höhere Position geschafft zu haben, auch wenn sie dafür doppelt so viel wie ihre Kollegen arbeiten musste. Sie erlebt die erste Zeit der Pensionierung als ambivalente Periode, wie die meisten unserer Altersgruppe mit einem zwar anstrengenden aber qualifizierten Job. Plötzlich kein Termindruck, keine langatmigen Sitzungen, keine zeitfressende Mailkorrespondenz. Sie kann tun und lassen, was ihr gefällt, um zehn Uhr Tennis spielen, nachmittags Freunde treffen, ins Museum gehen, zur Tulpenblüte nach Holland fahren. Nach etwa einem Jahr zeigt der Honeymoon Risse. Marthas Interesse an Sport, Kultur und Reisen weicht einer latenten Unzufriedenheit und Übellaunigkeit.

Oft durchleiden Arbeitsbesessene in den ersten Urlaubswochen ähnliche Krisen. Sie verkraften den Entzug ihrer Droge nicht, werden gereizt und missmutig. Trotz Postkartenlandschaft mit Sonne, Palmen, Strand, Meer, trotz köstlicher Speisen fehlt ihnen ihre heimliche Geliebte, die Arbeit. Workaholics können sich in der Sicherheit wiegen, nach der Zeit des Entzugs, also nach dem Urlaub, wieder ungehinderten Zugang zur Droge zu bekommen.

Diese Perspektive bleibt Martha verwehrt. Ihr neuer Stress heißt Unterforderung. Sie muss zugeben, dass ihr langweilig ist, es irritiert sie, dass niemand nach ihr verlangt, niemand einen Rat oder einen Tipp braucht. Alle scheinen ausgezeichnet ohne sie zurecht zu kommen. Sie, die früher eine hohe Position im Spitalsmanagement hatte, erlebt nun, was Machtlosigkeit und Ohnmacht bedeuten. Sie fühle sich, erklärte sie uns im Verlauf der Tagung, wie eine Patientin, die vom Krankenzimmer aus die Geschäftigkeit und Zielstrebigkeit der anderen auf der Straße beobachte. Noch vor Kurzem habe sie selbst zu den anderen gehört. Jetzt sei sie im Out, am Abstellgleis. Ihr vorgesehener Nachfolger, der ihren Abgang nicht erwarten konnte, hatte schon Monate vor ihrer Pension wichtige Informationen und Kontakte an sich gerissen und danach ihre vertrauten Mitarbeiterinnen in eine andere Abteilung versetzen lassen. An sie gerichtete Briefe wurden ihr nicht nachgeschickt. Was Martha besonders hart traf: Am Tag nach der Pensionierung war ihre berufliche Mail-Adresse gelöscht worden, als hätte sie nie existiert. Gedanken, die Martha nicht mehr losließen, kennen viele von uns: Ich habe keinen Wert. Ich gehe niemandem ab. Wenn ein Stein ins Wasser fällt, zeigen sich kurz Kreise auf der Wasseroberfläche, der Stein sinkt zu Boden, danach ist die Wasseroberfläche glatt und unberührt wie zuvor. Der Stein bin ich.

Diese subjektiven Empfindungen sind keineswegs Fantasiegespinste. Denn wer erst einmal aus dem beruflichen Umfeld weg ist, der zählt tatsächlich in der Regel nicht mehr. Experten empfehlen daher, ein bis zwei Jahre (manche sprechen sogar von fünf bis zehn Jahren) vor dem Ablaufdatum im Arbeitsleben Vorsorge zu treffen, sich außerhalb des beruflichen Umfeldes ein soziales Netz aufzubauen und Interessen zu stärken, die sich später im Freizeit-Paradies ausbauen lassen. Denn irgendwann ist die Wohnung neu ausgemalt, das Eigenheim renoviert, sind alle Bücher vom Nachttisch ausgelesen, wurden sämtliche Bekannte und Freunde besucht und die ,Wollte ich immer schon‘-Wanderungen und Reisen sind unternommen. Allmählich schleichen sich bei vielen von uns Unruhe und Missmut in das entpflichtete Leben ein, und der Satz „Das kann doch nicht alles gewesen sein“ wird zu einem konstanten Hintergrundgeräusch. Wir sagen uns: „Ich muss mir irgendetwas suchen, denn nur so in den Tag hinein zu leben, bekommt mir gar nicht, das ist so unbefriedigend.“ Aber womit anfangen, was tun, welchen Weg einschlagen?

Der Schweizer Ethnologe Mario Erdheim bezeichnete die Adoleszenz als unruhige Phase des Übergangs, mit der Chance, die Vergangenheit zu hinterfragen und neue Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Eine Lebensphase also, in der ein radikaler Bedeutungswandel vollzogen wird, in der Arbeit, Beziehungen, Sexualität mit neuen Bedeutungen belegt werden müssen. Ist nicht der Übergang in den sogenannten Ruhestand eine ebenso bedeutende, unruhige Phase, in der wir die Chance bekommen, uns und unser Leben neu zu definieren? Nicht im Sinne eines hormonellen Ausnahmezustandes, sondern in der Reifung der eigenen Persönlichkeit. Nachdem wir aus all dem herausgefallen sind, was uns teilweise kaputt gemacht hat – Konkurrenz, Hierarchie, Konsum, durchstrukturierter Alltag, Geschwindigkeitswettbewerb – könnten wir da nicht neue Wege suchen und finden, die nicht nur individuell lustvoll und interessant sind, sondern auch Wegweiser-Funktion für andere Generationen haben? Wenn gesellschaftliche Zwänge schwinden, öffnen sich andere Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten. Bei vielen von uns kristallisieren sich gerade in dieser Periode Lebensfragen heraus, die sich auch Jüngere stellen, mit dem einzigen Unterschied, dass sich im Prozess des Alterns diese Lebensfragen radikaler zuspitzen: Was möchte ich wirklich? Wie kann ich meine Erfahrungen und mein Potenzial nutzen? Was könnte ich Sinnvolles tun? Wie kann ich mein persönliches Wachstum weiterentwickeln? Wodurch kann ich Freude in mein Leben bringen?

Berechtigte Fragen, denn immerhin haben wir Älteren gut 20,30 Jahre vor uns, die es zu gestalten, zu leben und nicht bloß zu verleben gilt. Bisher ging man davon aus, wie lange jemand gelebt hat. Neue Konzepte sprechen von der verbleibenden Lebenszeit, der Lebenserwartung, also wie lange jemand noch leben kann. Diesen „Entwurf in die Zukunft“ anzudenken, wie die Schweizer Psychotherapeutin und Autorin Verena Kast es nennt, ist für unser Selbstwertgefühl von großer Bedeutung. Denn eines ist sicher: Auch wir Alten haben – bis wir sterben – eine Zukunft, und die wird in Zukunft immer länger dauern. Lasst uns also in dieser verbleibenden Zeit zu Expertinnen und Experten von Lebensentwürfen mit Zukunftscharakter werden. Erforschen wir Wege zu einem neuen, selbstbestimmten, tätigen Leben in voller Zeitautonomie, geprägt durch Selbstmotivation – abseits von Erwerbsarbeit.

Bald alt? Na und!

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