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Gesucht: eine neue Zeitkultur

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Wir aus dem Arbeitsprozess Ausgegliederte verfügen über eine der wertvollsten Ressourcen, die Hans Magnus Enzensberger einmal als „das wichtigste aller Luxusgüter“ bezeichnet hat: die ZEIT.

Wir haben Zeit. Nicht alle Zeit der Welt, aber im Vergleich zu früheren Generationen steht uns ein großzügig bemessenes Zeitkonto zur Verfügung. Unsere Kinder und Enkelkinder dürfen sich auf ein noch längeres Leben einstellen. Ich habe absichtlich das Wort „dürfen“ gewählt, denn diese verlängerte Lebensdauer ist ein in der menschlichen Evolution einmaliges Geschenk. Der emeritierte Soziologe Peter Gross bezeichnet das Wachstum der Lebenserwartung als „die größte zivilisatorische Errungenschaft der letzten Jahrhunderte.“ Es liegt ausschließlich an uns, mit welcher Einstellung wir dieses Geschenk annehmen. Werfen wir es in den Restmüllcontainer, lassen wir die Kostbarkeit im hintersten Eck einer Lade verschwinden, oder freuen wir uns über dieses neue Glück, das uns zu Teil wird, genießen wir die Farben und den Duft unseres Lebensherbstes?

Zunächst gilt es, den neuen zeitlosen Raum zu erkunden. Haben wir nicht früher immer geklagt, keine Zeit zu haben, um Freunde zu treffen, Bücher zu lesen, Wanderungen zu machen, eine Sprache zu lernen? Jetzt steht uns diese Zeit zur Verfügung, und die Frage ist, wie gehen wir mit dieser von uns selbstbestimmten Zeit um? Schlagen wir sie tot, rennen wir ihr hinterher, nutzen wir sie, drehen wir sie zurück, verlieren wir sie, sind wir ihr voraus, gewinnen wir sie, halten wir sie an, nehmen wir sie, gehen wir mit ihr, hinken wir ihr hinterher, halten wir Schritt mit ihr, verschwenden wir sie, brauchen wir sie? Die wenigsten von uns können auf Erfahrungen zurückgreifen, ein Zeitkontingent nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Kindergarten, Schule, Lehre, Masterstudium, Job, alles zeitlich durchreglementiert, so dass kaum Raum bleibt, Atem zu holen. Jahrzehntelang waren wir gewohnt, die Gesetzmäßigkeiten einer Arbeitskultur befolgen zu müssen, in der Leistung nach den im Büro oder in der Fabrik verbrachten Stunden gemessen wurde, in der die meisten von uns in einen Acht-Stunden-Tag eingepresst waren, ohne viel mitreden zu können, wann sie welche Arbeiten zu erledigen hatten. Selbstbestimmte Zeit am Arbeitsplatz ist ja reiner Luxus. Nach der Pensionierung finden wir uns in einer Lebensphase mit neuer Zeitkultur wieder, die eine ungewohnte Fülle an Freiräumen bietet. Wir stehen vor der einzigartigen Situation, nicht nur über selbstbestimmte Zeit zu verfügen, sondern diese Zeit mit selbstbestimmten Wünschen, Träumen, Aktivitäten gestalten zu können – vorausgesetzt wir sind halbwegs gesund, müssen nicht einen chronisch kranken Angehörigen pflegen und bekommen eine Pension, die eine Realisierung von Wünschen möglich macht. Ist doch wunderbar, oder? Warum sind dann nicht alle über 60-Jährigen, einschließlich mir, von Glück durchtränkte Geschöpfe, frage ich mich, und mir fällt dazu eine Szene ein, die ich in Südindien beim Besuch eines Elefantendorfes mit der Kamera aufgenommen habe. Ich sehe einen jungen Elefanten, der mit dem rechten Bein an einem Pflock angebunden ist, vor ihm ein paar Äste mit grünen Blättern, hinter ihm ein nackter Baumstamm. Der kleine Elefant bewegt sich unruhig etwas nach rechts, steigt mit einem Bein über den Baumstamm, kommt aber nicht weit, wendet sich zur Mitte, dann wieder nach links. Mehr als maximal ein Meter Bewegungsfreiheit nach vorne ist nicht drinnen. Und dann wieder nach rechts, ein Schritt vor, ein Schritt zurück. Weben nennt sich diese Verhaltensstörung von Elefanten in Gefangenschaft, ein Bewegungsmuster, bei dem der Kleine rhythmisch mit dem Körper schaukelt und den Rüssel hin und her schwingt. Von außen gesehen ein jämmerliches Dasein inmitten eines grünen Baumparadieses. Aus der Perspektive des jungen Elefanten gehört das Angebundensein zum Bestandteil seines Lebens, er kennt nichts anderes.

Ich frage mich, sind wir, gefangen in unserem Arbeits- und Leistungs-Zeitkorsett, dem Elefanten nicht sehr ähnlich? Ist zu erwarten, dass der Elefant im Alter begierig in die Wildnis aufbrechen und große Distanzen zurücklegen wird? Wohl kaum. Wahrscheinlich wird er weiterhin seinen nun imaginären Halbkreis einhalten, weil er immer noch die Fesseln spürt, auch wenn sie nur mehr immateriell vorhanden sind. Wie sieht es mit uns aus, die wir nun im vollen Besitz der Goldwährung Zeit und Herrscher im Königreich Zeitautonomie sind? Einige von uns gleiten langsam aber beständig in den Kokon ,Zeit totschlagen‘, entpuppen sich keineswegs als bemerkenswerte Schmetterlinge, liefern auch keine Seide sondern sitzen täglich stundenlang vor dem Fernsehgerät. Andere leben, wie es so schön heißt, in den Tag hinein, könnten als Protagonist in Lessings „Lob der Faulheit“ auftreten, wieder andere gestalten ihren Alltag ausschließlich nach ihren eigenen, individuellen Bedürfnissen, wie etwa Martin, 68.

Der ehemalige Filialleiter macht seit seiner Pensionierung vor drei Jahren jeden Freitag Eintragungen in seinen Terminkalender, um die kommende Woche zu strukturieren: zweimal Mittagessen mit Freunden, einmal Fitnesscenter, ein Bridge-Nachmittag, ein Abend im Kasino, die restliche Zeit wird mit der ebenfalls pensionierten Partnerin verbracht, die er vor Kurzem kennengelernt hat. Vorgesehen sind weiters pro Jahr zwei Wochen Skifahren, zwei Wochen Wandern und drei Städtereisen. Im Gegensatz zu Alleinlebenden, die den zeitlosen Raum in völliger Autonomie einteilen können, sehen sich Paare vor die Aufgabe gestellt, zwei oft unterschiedliche Rhythmen und Interessen langfristig zu koordinieren.

Ein Beispiel dafür sind meine Freunde Katharina und Bernhard. Beide lieben gutes Essen und Restaurantbesuche. Katharina ist zusätzlich noch an Konzerten, Theater, Lesungen interessiert. Sie hat es sich längst abgewöhnt, Bernhard mitzunehmen, denn Theaterfestivals, Ausstellungen, Vernissagen sind nicht sein Bereich. Dafür erwartet er Katharina zu Hause mit einer Gastro-Spezialität. Zu reden und zu diskutieren gibt es viel, und dann bleibt ja noch die Freude am Körper des Anderen. Wir Älteren lernen zu akzeptieren, dass der Partner, die Partnerin andere Interessen haben darf als wir, und wir machen daraus keinen Beziehungskrieg, denn wir spüren, dass unsere gemeinsame Zeit zu kostbar für Machtkämpfe und Interessenkonflikte ist. Das Einzige was zählt ist, dass der Andere existiert, und gemeinsam kann es ein schöner Abend werden. Natürlich auch nicht immer. Das unterscheidet uns dann nicht so elementar von jüngeren Beziehungen.

Es geht nun nicht darum, die unterschiedlichen Lebensentwürfe zu bewerten und zu beurteilen. Es zeigt sich nur, dass diejenigen unter uns, die das Genussmodell vorziehen, keinerlei Anlass zur Klage haben. Für sie steht alles bereit, immer vorausgesetzt, ihre Pension ist ausreichend: Es gibt Pensionistenclubs, Seniorenrabatte für Theater und Kino, speziell konzipierte Reiseangebote, sie können lebenslang einfach spazieren gehen, nachmittägliche Kaffee- und Kuchensessions abhalten, Heurigenabende verbringen, Wellness-Hotels aufsuchen, Kreuzfahrten unternehmen. Noch funktioniert dieses Modell. Die Frage ist: Kann das Freizeit-Paradies eine Vision für die Zukunft sein? Möchte ich zwanzig, dreißig Jahre auf diese Art und Weise verbringen? Wir dürfen nicht vergessen, unser aller Lebenserwartung steigt. Wir werden nicht nur immer älter, wir werden gesünder älter als die Generationen vor uns. Derzeit gilt 40 als das neue 30,73 als das neue 65, und 80 ist noch lange nicht 80. Ein Kind, das heute auf die Welt kommt, hat die Chance, älter als hundert Jahre zu werden, vorausgesetzt sein Lebensweg wird nicht durch einen tödlichen Unfall oder eine schwere Krankheit vorzeitig beendet.

Ich glaube, wir brauchen als Ergänzung zu den drei klassischen „L“: Laufen, Lieben, Lachen, die drei „A“: Aufgaben, Altersbilder und Alternativen.

Bald alt? Na und!

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