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Erinnerungen an Ruth

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Robert Weber hatte gerade das Paket mit seinen Waren in den Arm genommen, als er im Supermarkt mit einer jungen Frau zusammenstieß.

"Passen Sie doch auf, Sie Tölpel!" fuhr ihn die füllige Blondine an.

"Entschuldigen Sie, Ma'am, aber..." Erst jetzt sah er die Frau genauer an. Und auch ihr schien es wie ihm zu gehen, als sie sich zu ihm umdrehte.

"Robert, Robert Weber?" sprach sie ihn an. Ihre blauen Augen musterten ihn fragend.

"Ja," bestätigte er. "Und Du bist doch Ruth Klein."

"Richtig!" Über ihr hübsches Gesicht huschte ein Lächeln. "Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie kommst Du denn hier her?"

"Nun, ich besuche gerade meine Mutter, und da sie mich darum bat, bin ich eben für sie einkaufen gegangen." erklärte Robert.

"Ja, Deine Mutter." Ruth wirkte nachdenklich. "Ich treffe sie manchmal in der Stadt oder beim Einkaufen. Wie sie mir erzählte, hast Du inzwischen geheiratet?"

"Ja, Mary-Jo. Sie ist gerade bei ihr."

"Aha, sie ist also auch da."

"Ja, sicherlich."

"Na ja, was soll's auch." Ruth zuckte mit den Schultern.

"Du hast Dich auch wieder verlobt?" interessierte es Robert.

"Ja, letzten Herbst." nickte sie.

"Kenn' ich ihn?" wollte er wissen.

"Ja, ich glaub' schon." vermutete Ruth. "Bernd Schneider heißt er."

"Was, der Lackaffe?" entfuhr es Robert.

"Ja, der Lackaffe!" schmollte sie.

"Wie kommst Du denn ausgerechnet an den?" wunderte er sich. "Ich dachte, Du kannst ihn nicht ausstehen?"

"Nun, er war eben da, als ich jemanden brauchte." entgegnete sie. "Und mit der Zeit haben wir uns immer besser kennengelernt und wissen nun, was wir voneinander halten und erwarten können."

"Und wann wollt Ihr heiraten?"

"Vielleicht nächstes Jahr. Wir werden sehen, wie es klappt."

"Ja, wahrscheinlich." stimmte er zu.

"Bist Du mit dem Wagen da?" erkundigte sie sich.

"Nein, ich bin zu Fuß. Soll ich Dich ein Stück begleiten?" schlug er vor.

"Wir haben doch sowieso den selben Weg." bemerkte sie. "Wart' nur, ich hol' eben mein Fahrrad."

Einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her.

"Und, wie gefällt's Dir dort drüben?" brach Ruth das Schweigen.

"Oh, ganz gut." versicherte er ihr.

"Sicher, sonst wärst Du bestimmt nicht zwei Jahre dort geblieben." stellte sie fest.

"Nun, ich hätte Dich ja mitgenommen, aber Du wolltest ja nicht." lenkte er ein.

"Nein, sicher nicht." wehrte sie ab. "Bei aller Liebe, aber das war mir doch zu unsicher."

"Zu unsicher? Wieso?"

"Weil ich da keinen kenne, - und weil ich mich da nicht wohlfühlen würde, - und..."

"Aber Du kennst es doch gar nicht." unterbrach er sie.

"Doch!"

"Woher denn?" interessierte Robert. "Du wolltest doch nicht einmal im Urlaub mit mir dort hin."

"Aber man liest doch davon und sieht davon im Fernsehen." erwiderte sie.

"Schon, aber das eigene Erleben und Kennenlernen ist viel wichtiger. Erst wenn Du selbst durch die Straßen gehst, die Menschen beobachtest und Dich mit ihnen unterhältst, die Luft einatmest, mit ihrem frischen Geruch von Meerwasser, und die Möwen über Dir kreischen, dann kannst Du Dir ein Urteil bilden." schwärmte er.

"Ja, Deine Träume." höhnte sie.

"Ja, meine Träume." antwortete er. "Aber für mich sind sie inzwischen Wirklichkeit geworden.

Sicher, anfangs war es nicht leicht, aber jetzt, wo ich dort lebe und ich die Menschen kenne und ein Teil von ihnen auch mich, lässt es sich aushalten."

"Und genießen." fügte sie an.

"Ja, und genießen." stimmte er zu.

"Sicher, sonst hättest Du wahrscheinlich keine von dort geheiratet."

"Was soll das denn heißen? Du wolltest mich doch nicht mehr, als ich Dir sagte, das ich fortgehe." erinnerte er sich.

"Du hättest mir ja etwas mehr Zeit geben können, anstatt mir die Pistole auf die Brust zu setzen." trug sie ihm nach.

"Was heißt denn: 'die Pistole auf die Brust setzen'?" widersprach er. "Ich habe Dir lediglich gesagt, dass Du Dich endlich entschließen sollst, ob Du lieber mit Deiner Mutter oder mit mir zusammenleben möchtest."

"So, aber dass Du lieber Deine Mutter besuchen wolltest , als mit mir einen Sonntag zu verbringen, davon sprichst Du nicht?" hielt sie ihm vor.

"Wer wollte denn nicht mit wem zusammen sein, bitte?" hakte er nach. "Du wolltest doch lieber zuhause sitzen und Einen auf Familie machen."

"Aha, jetzt bin ich's wieder gewesen." Ruth blieb abrupt stehen und sah Robert an.

"Ja, Du." grollte er. "Wer hat mir denn das Jahr davor ständig in den Ohren gelegen, dass er mich vermisst und nicht oft genug mit mir zusammen sein kann? Du doch wohl.

Und dann, als Du drei Wochen Urlaub hattest, und ich nur eine Woche zusammen mit Dir frei bekam? Da bist Du doch die erste Woche mit Deiner Mutter in den Urlaub gefahren, hast die zweite Woche damit verbracht, alles zu erledigen, was für die bevorstehende Silberhochzeit Deiner Eltern anfiel, wobei ich nur als Mitläufer ohne Meinung geduldet wurde, und fuhrst in der letzten Woche zu Deiner Tante, die Du schließlich anschlepptest, um uns das Wiedersehen auch noch zu vermasseln.

Nein, das verstehe ich nicht unter Liebe. Ich hab', weiß Gott, oft genug nachgegeben, hab' eingelenkt und zurückgesteckt. Oft genug hab' ich am Telefon gebettelt oder Dich angefleht, doch mal mit mir zusammenzusein, aber nein, Dir ging die Familie vor..."

"So, und Dir?“ fiel sie ihm ins Wort. "Du hast doch lieber vorm Fernseher gehockt oder geschlafen..."

"Ja, ich hatte nun mal so einen 'dämlichen' Beruf, wo man dann schläft, wenn andere noch oder schon wieder auf den Beinen stehen." erklärte er. "Aber Du hast oft genug einfach abgewinkt und gar nicht erst den Versuch gemacht, nachzusehen, ob ich noch oder schon wieder schlief."

"Und?" wollte sie wissen. "Du wärst ja doch nicht aufgestanden."

"Bist Du Dir da sicher?"

"Ja!"

"Na, ich weiß nicht?" schmunzelte er.

"Aber Du hättest auch in der Woche öfter vorbeikommen oder anrufen können." stellte sie fest.

"Der Weg von Dir zu mir war genau so weit, wie von mir zu Dir." antwortete er.

"Ich bin oft genug gekommen." wand Ruth ein.

"Es hat Dich keiner dazu gezwungen."

"Nein, das nicht, aber ich hätte Dich mal sehen mögen, wenn ich nicht gekommen wäre."

"Was soll das denn heißen?" wunderte er sich. "Und außerdem - hab' ich kurz vor Deinem Urlaub nicht öfter in der Woche angerufen? Sind wir da nicht mal zusammen Eis essen gegangen."

"Ja, einmal."

"Und, es hätte ja noch öfter werden können."

"Hätte! Ist es aber nicht." erkannte sie.

"Lag das an mir?"

"Wir sind gleich da." überging sie seine Frage. "War ganz gut, Dich mal wiederzusehen. Vielleicht trifft man sich ja mal irgendwo. Tschüß, und grüß' Deine Mutter."

"Tschüß, Ruth."

Sie gaben sich zum Abschied die Hände. Ruth schob ihr Fahrrad in den Garten.

"Ach, Ruth..."

"Ja." Sie wand sich noch einmal zu ihm um.

"Wie geht es eigentlich Deiner Mutter?" erkundigte er sich.

"Na ja, es geht." erklärte sie. "Den Schlaganfall hat sie jetzt weitgehend überstanden. Sie wird zwar für den Rest ihres Lebens halbseitig gelähmt bleiben, aber das werden wir schon schaffen. Bernd hilft mir ja, so gut er kann."

"Grüß' sie von mir." bat er.

"Werde ich machen." versprach Ruth.

Sie drehte sich um und ging zum Haus, während er die Straße in Richtung auf sein Elternhaus hinabschlenderte.

Robert dachte an Ruths Mutter. Soweit er sich erinnerte, war sie fast ständig krank gewesen und hatte Ruth dadurch an sich gebunden. Immer wieder kam es vor, dass sie durch eine Unpässlichkeit ein Rendezvous störte oder verhinderte. Und Ruth ging völlig auf ihre Mutter ein, ließ sich von ihr bevormunden, unterdrücken und ausnutzen. Oft genug stellte Ruth zu Gunsten ihrer Mutter ihre eigenen Wünsche zurück und merkte dabei nicht, wie sie sich dabei allmählich selbst zerstörte.

Er sah sie wieder vor sich: Ruth, das kleine, schutzbedürftige Töchterchen ihrer Mutter, das so naiv, so kindisch, so unreif war, und gleichzeitig Ruth, die junge, selbstbewusste Verlobte an seiner Seite, die so aggressiv, so fraulich, so aufgeschlossen schien, so, als ob sie aus ihrer Welt ausbrechen und sich eine Neue, Schönere und Freiere schaffen wollte.

Er hatte es gewagt und war aus dem Schutz seines Elternhauses, der ihn, wie die Eierschale ein Küken, umschlossen hatte, ausgebrochen, doch Ruth zerstieß ihre Schale nicht und ging nun, noch in ihrem Nest, daran zu Grunde. So tragisch es auch schien, doch der Schlaganfall von Ruths Mutter hatte das geschafft, wozu sie selbst mit all ihrer Kraft nicht im Stande gewesen war, nämlich Ruth für immer an sich zu binden.

'Vielleicht war es besser, dass wir nie ein Paar geworden sind', dachte Robert, während er die Haustür aufschloss. Mary-Jo, seine Frau, empfing ihn in der Diele, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

'Viel besser', schoss es ihm durch den Kopf.

Der ganz 'normale' Alltag

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