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Leb wohl, Heimat

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Hanni stand am Fenster und sah hinunter auf die Straße. Das erste Mal seit Langem nahm sie sich die Zeit, die Siedlung genauer anzusehen. Das erste und zugleich letzte Mal. Denn morgen würde Hanni sie verlassen. Für immer? Wer wusste das genau. Das lag nicht in Hannis Hand. Das war Sache einer unmenschlichen Politik.

Hanni setzte sich an den Wohnzimmertisch. Um diesen Tisch hatte sich jahrelang ihr Leben abgespielt. Hier, diese Wohnung, war ihr und ihrem Mann kurz nach der Hochzeit zugeteilt worden. Hier hatte sie ihre beiden Söhne geboren. Hier waren ihre Kinder aufgewachsen. Und hier starb ihr Mann nach langer schwerer Krankheit.

Hanni erinnerte sich an die vielen schönen Jahre, die sie zusammen mit ihm verbracht hatte. Nächstes Jahr hätten sie ihre Silberhochzeit gefeiert, doch der Tod kannte keine Gnade. Nicht einmal diese kleine Freude gönnte er ihnen beiden. Wenigstens starb ihr Mann mit einem Lächeln auf den Lippen, während sie sich ausmalten, wie alles ablaufen würde. Sogar ihre Schwester Doris aus dem Westen hatte sich für die Feier angesagt gehabt. Aber leider verloren sie den Wettlauf mit der Zeit, und nun war Hanni allein.

Obwohl ihre Söhne sie tatkräftig unterstützten, wollte es ihr nicht mehr gelingen, ihr Leben ohne ihren Mann ins Gleichgewicht zu bringen.

Und dann kam die Einladung von ihrer Schwester. Plötzlich war es Hanni klar. Sie wollte weg! Weg von hier, wo ihr Leben so voller Erinnerungen war. Erinnerungen an die erste Liebe, die Verlobung, die Hochzeit, die Geburten ihrer Kinder, deren Kinder- und Jugendzeit, die ersten Freundinnen der Söhne, deren Hochzeiten, die ersten Enkel, die Krankheit ihres Mannes und sein Tod. Freud und Leid in ständigem Wechsel, wobei jedoch die schönen Stunden schwerer wogen. Schade, das sie nun vorbei waren.

Hanni knipste das Licht im Wohnzimmer aus und ging ins Schlafzimmer. Vor dem Bett stand ihr Gepäck. Zwei Koffer und eine Reisetasche waren alles, was ihr von 24 Jahren Ehe blieben. Mehr hätte sie auch nicht mitnehmen können, ohne aufzufallen. Allein das dicke Paket Dokumente auf dem Boden der Reisetasche bereitete ihr Angst. Was wäre, wenn man sie an der Grenze kontrollieren würde, wenn sie ihre Sachen auspacken müsste?

Hanni starrte an die Zimmerdecke, an die das Licht der Straßenlaterne die Schatten der Bäume warf. Sie fuhr mit der flachen Hand über das Laken des leeren Bettes neben ihr. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ach, Hans, wenn Du noch da wärst. Nie vorher wäre sie auf den Gedanken gekommen, alles hier zu verlassen. Aber so allein kam ihr alles grau und kalt vor. Wie schön hatte es doch da ihre Schwester im Westen.

'Komm, komm!' hallte es in die Leere hinein, die der Tod ihres Mannes in Hanni zurückgelassen hatte. Wie ein unaufhörliches Rufen durchdrang es alle Gedanken, die Hanni durch den Kopf gingen.

Und erst, als sie am nächsten Morgen neben ihrem Sohn im Auto saß, wurde es langsam schwächer. Aber jetzt war es zu spät, um die Reise abzublasen. Man erwartete sie im Westen, und Hanni war fest entschlossen zu gehen.

Frank, ihr Sohn, weinte, als er sich von ihr verabschiedete. Ein letztes Mal nahm sie ihn in den Arm.

"Mach's gut, Mutti." flüsterte er.

Sie gab ihm einen herzlichen Kuss auf die Wange. "Leb wohl, Frank."

Langsam rollte der Zug aus dem Bahnhof von Ilmenau. Hinter ihr blieb ihre Heimatstadt zurück, dann der gesamte Thüringer Wald.

Der Beamte an der Grenze kontrollierte freundlich aber genau ihre Papiere. Hannis Herz schlug bis hinauf in den Hals und das Luftholen fiel ihr schwer. Eigentlich hätte der Grenzer es klopfen hören müssen, so dröhnte es in ihren Ohren.

Dann setzte der Zug sich wieder in Bewegung und durchquerte die sichtbare Barriere, die die beiden deutschen Staaten trennt. Eine Zentnerlast fiel von Hanni ab, und sie atmete tief durch.

Gott sei Dank, endlich im Westen, endlich geschafft!

Der ganz 'normale' Alltag

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