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2.5.2 Statistische Kriminalprognose

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Die statistische Prognose ist eine wissenschaftliche Methode, bei der Erkenntnisse aus Untersuchungen zur Rückfälligkeit die Grundlage zur Einschätzung bilden.37

Statistische Prognoseverfahren zielen darauf ab, solche personen- oder auch tatbezogenen Merkmale zu erkennen und zusammenzustellen, welche im Rahmen von Rückfallstudien erwiesen haben, dass sie eine besonders hohe Rückfälligkeit beim Täter bewirken. Hierbei wird davon ausgegangen, dass sich diese Merkmale grundsätzlich dazu eignen, zukünftige Rückfälle bei Personengruppen zu prognostizieren, welche vergleichbare Merkmale aufweisen. Zu den Vorteilen von statistischen Verfahren lässt sich sagen, dass sie sich nach einem streng regelgeleiteten Vorgehen richten. Hierdurch wird das Risiko von menschlichen Urteilsfehlern sehr stark minimiert. Allerdings haben auch statistische Methoden ihre Nachteile. Denn für sich genommen sagen sie noch nichts über die individuell zu prognostizierende Person aus. Sie treffen lediglich eine statistische Aussage über das Durchschnittsverhalten eines mehr oder weniger stark eingegrenzten Personenkreises. Sie ermöglichen jedoch eine methodisch elegantere Herangehensweise.38 Die statistischen Prognosemethoden fußen auf einer empirisch-statistischen Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit, welche auf den Rückfallstudien der spezifischen Straftätergruppen aufbauen. Hierbei werden die Unterschiede von Aspekten und Merkmalen bei rückfälligen Personen und nicht rückfälligen Personen untersucht. Weiterhin wird berechnet, welche Merkmale auf einen Rückfall in die Straffälligkeit hindeuten. Alle Merkmale werden auf einer Prognosetafel aufgelistet und daraus ein Prognosescore erstellt. Dieser setzt sich aus Negativ- und Positivmerkmalen zusammen. Die Werte, die mit der zu beurteilenden Person verglichen werden, basieren auf der durchschnittlichen Rückfallquote der Personen aus dem gleichen Deliktsfeld.39

Statistische Prognosen können in drei Varianten unterschieden werden. Sie können als

• einfaches Punkteverfahren

• Punktwertverfahren oder

• strukturiertes Punktewertverfahren

vorliegen.40

Das einfache Punkteverfahren basiert auf der Annahme, dass jedes Merkmal den gleichen Wert hat. Somit erhält jedes Merkmal einen Punkt. Die Anzahl der vorliegenden Merkmale wird addiert.

Bei dem Punktwertverfahren werden Merkmale, die eine höhere Bedeutung für eine Rückfallwahrscheinlichkeit haben, höher bewertet. Somit werden die Merkmale verschieden gewichtet.41 So wurde beispielsweise nach den Forschungen des Ehepaars Glueck42 den sozialen Faktoren eine höhere Bedeutung zugemessen. Dabei wurden die Erziehung durch den Vater, die Aufsicht durch die Mutter, die Zuneigung des Vaters, die Zuneigung der Mutter und der Zusammenhalt in der Familie als soziale Faktoren besonders berücksichtigt.43

Frühprognosetafel der Gluecks (Unraveling Juvenile Delinquency, 3. Aufl. Cambridge/Mass., S. 261 f.)



Das strukturierte Punktewertverfahren, als Alternativvariante, beruht auf Prognosetafeln, die die Wechselbeziehungen der Prognosefaktoren untereinander höher bewerten als die einzelnen Kriterien an sich. Das bedeutet, dass die Faktoren nicht bloß miteinander addiert werden, sondern dass sie nach der Stärke des Zusammenhangs mit dem jeweiligen Erfolgskriterium hintereinander gesetzt werden.44 So entstehen typenartige Merkmalskombinationen mit unterschiedlichem Rückfallrisiko. Die typologische Täterbeurteilung ist ein Element dieser Prognose.45 Um eine konkrete Rückfallprognose zu erstellen, sollten mehrere Prognosetafeln kombiniert werden, um einen genaueren Wert zu erlangen.46

Des Weiteren ist die Methode eine Fortentwicklung in Bezug auf alternative Prognoseverfahren, die es auch nicht speziell ausgebildeten Personen, also auch Polizeibeamten, ermöglicht, Prognosegutachten, die ausschließlich durch psychologisch und psychiatrisch geschulte Sachverständige erstellt werden, zu verstehen und nachzuvollziehen. So kann eine genauere Beurteilung der Wahrscheinlichkeit über die zukünftige Delinquenz einer Person, beispielsweise im Prozess bei der Urteilsverkündung, gewährleistet werden.47

Empirisch-statistische Studien über die sozialen und persönlichen Ursachen von Rückfälligkeit stellen die Grundlage der Risikokriterien dar. Diese betonen, welche Einzelpunkte bei der Prognoseerstellung von hoher Bedeutung sind, sodass eine umfassende Betrachtung aller Aspekte gewährleistet ist. Für diverse Zielgruppen wurde eine Vielzahl von empirisch validierten und standardisierten Prognoseinstrumenten ausgearbeitet.


Quelle: Nedopil, Prognosen in der Forensischen Psychiatrie, Lengerich 2005, S. 111

In Kanada beispielsweise wird das HCR-2048 für die Prognose des weiteren Agierens von Personen verwendet, welche aufgrund von gewalttätigem Verhalten strafrechtlich in Erscheinung getreten sind und bei welchen eine psychische Erkrankung oder eine Persönlichkeitsstörung vermutet wird. Das Instrument beinhaltet insgesamt 20 Kriterien. Die sogenannten „H-items“ beziehen sich auf die Vorgeschichte, die „C-items“ beschäftigen sich mit dem akuten Störungsbild und die „R-items“ prophezeien die künftig zu erwartenden äußeren Einflüsse. Die Formulierung der Prognose erfolgt in Wahrscheinlichkeitsaussagen. Es soll verdeutlicht werden, ob ein niedriges, mittleres oder hohes Risiko für eine Rückfallwahrscheinlichkeit vorliegt. Darüber hinaus ist ausdrücklich zu benennen, für welchen Zeitraum die Prognose valide ist und welche Umstände das Risiko in dem genannten Zeitraum beeinflussen können.49

In Deutschland ist vor allem die von Norbert Nedopil50 entwickelte Kriterienliste „Integrierte Liste der Risikovariablen“ geläufig und bekannt. Das HCR-20 ist dort integriert. Viele der Instrumente beziehen sich auf die Ausprägung und die Art der möglicherweise festzustellenden Persönlichkeitsstörung bei dem Probanden. Diese kann mittels einer weiteren Kriterienliste, der Psychopathy Checklist Revised (PCL-R), ermittelt werden.51

Die integrierte Liste der Risikofaktoren nach Nedopil ist in fünf Stufen oder auch Abschnitte eingeteilt. Abschnitt A beschäftigt sich mit dem Ausgangsdelikt. Darunter werden unter anderem die allgemeine statistische Rückfallwahrscheinlichkeit, die Bedeutung situativer Faktoren für das Delikt und ein Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung gefasst. Abschnitt B beinhaltet anamnestische Daten, die „H-items“. Diese sind beispielsweise das Alter bei der ersten Gewalttat, Stabilität von Partnerbeziehungen und in Arbeitsverhältnissen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch und frühere Verstöße gegen Bewährungsauflagen. Die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung, die „C-items“, ist Gegenstand des Abschnitts C. Hier werden die Krankheitseinsicht und Therapiemotivation, die pro- und antisoziale Lebenseinstellung und emotionale Stabilität untersucht. Die „R-items“ befinden sich im Abschnitt D, der den sozialen Empfangsraum beschreibt. Die Arbeit, Unterkunft, soziale Beziehungen, Verfügbarkeit von Opfern und Stressoren beeinflussen das Rückfallrisiko. Als letztes wird im Abschnitt E der PCL-R Wert, mittels der genannten Kriterienliste Psychopathy Checklist Revised, ermittelt.52

„Integrierte Liste der Risikovariablen (ILRV)“ 53

A Ausgangsdelikt

• statistische Rückfallwahrscheinlichkeit

• Bedeutung situativer Faktoren für das Delikt

• Einfluss einer vorübergehenden Krankheit

• Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung

• Erkennbarkeit kriminogener oder sexuell devianter Motivation

B Anamnestische Daten

• (H1) frühere Gewaltanwendung

• (H2) Alter bei 1. Gewalttat

• (H3) Stabilität von Partnerbeziehungen

• (H4) Stabilität in Arbeitsverhältnissen

• (H5) Alkohol-/Drogenmissbrauch

• (H6) psychische Störung

• (H8) frühe Anpassungsstörungen

• (H9) Persönlichkeitsstörung

• (H10) frühere Verstöße gegen Bewährungsauflagen

C Postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung (klinische Variablen)

• Krankheitseinsicht und Therapiemotivation

• selbstkritischer Umgang mit bisheriger Delinquenz

• Besserung psychopathologischer Auffälligkeiten

• (C2) pro-/antisoziale Lebenseinstellung

• (C4) emotionale Stabilität

• Entwicklung von Coping-Mechanismen

• Widerstand gegen Folgeschäden durch Institutionalisierung

D Sozialer Empfangsraum (Risikovariablen)

• Arbeit

• Unterkunft

• soziale Beziehungen mit Kontrollfunktionen

• offizielle Kontrollmöglichkeiten

• Konfliktbereiche, die rückfallgefährdende Situationen wahrscheinlich machen

• Verfügbarkeit von Opfern

• (R2) Zugangsmöglichkeit zu Risiken

• (R4) Compliance

• (RS) Stressoren

PVL-R-Wert

Die Items des HCR-20 von Webster und Eaves (1995 [1867]) wurden, sofern diese besser operationalisiert und klarer waren, direkt übernommen.

Diese Merkmale sind durch Klammern und eine zweite Zuordnungsbezeichnung gekennzeichnet.

Die Operationalisierung der Merkmale und der Codierungsbogen für Wissenschaftliche Auswertungen finden sich bei Nedopil (2005a [1213]).

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