Читать книгу Meerhabilitation - Oana Madalina Miròn - Страница 10
Оглавление7 Tessa
Nach der anstrengenden und schlaflosen Nacht wurde ich am nächsten Tag von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Warm und zärtlich streichelten sie meine Haut, das war definitiv die schönste Art aufzuwachen. Ich setzte mich noch in meinem Bett auf, streckte mich kurz und ließ meinen Kopf kreisen, um den verspannten Nacken zu lockern. Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich tagelang durchgemacht. Ich fühlte mich wie gerädert.
Nach langem Zögern hüpfte ich schließlich aus dem Bett, machte mir einen frisch gemahlenen Kaffee und setze mich an die Fensterbank, um die Aussicht zu genießen.
Der Ausblick aufs offene Meer ließ mich den Kampf der vergangenen Nacht allmählich vergessen. Das Wasser war ruhig, keine einzige Welle war zu sehen. Die endlose Weite glich einer unberührten, spiegelglatten Oberfläche. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern, bis der wiederkehrende Albtraum wieder verblassen würde. Das Absurde daran war, dass es keine eigentlichen Träume in dem Sinne waren, sondern einzelne Erinnerungen. Wahre Begebenheiten und Erlebnisse, die mich noch immer heimsuchten … Nacht für Nacht.
Mir ging es mittlerweile doch besser!? Viel besser, als ich es erwartet hatte. Meine geschundene Seele hatte wieder Frieden mit der Vergangenheit geschlossen, die meisten Wunden waren bereits verheilt. Trotzdem suchte mich mein Mann immer noch wie ein wildgewordener Dämon in meinen Träumen heim. Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Wahrscheinlich hatte mein Gehirn immer noch einiges zu verarbeiten.
Um kurz vor 13 Uhr war ich startklar. Ich hatte mich wie abgesprochen sportlich und gemütlich angezogen.
Ich trug meine graue Skinny-Jeans und einen dicken Pullover, befolgte jedoch brav die Zwiebeltechnik. Wenn ich was in Island bereits gelernt hatte, war, dass es hier kein schlechtes Wetter gab, nur schlechte Bekleidung.
Ich zwirbelte meine langen Haare zu einem lockeren Knoten zusammen, legte mir ein leichtes Make-up auf und streifte mir schließlich noch die Lederboots über. Der Frühling war bereits deutlich zu spüren, allerdings durfte man hier das Wetter nicht allzu sehr unterschätzen. Perfekt! Ich fühlte mich einfach nur wohl und freute mich sehr auf den Tag, den ich mit meinem Lebensretter verbringen durfte. Das war auch der erste Tag, den ich mit einem anderen, menschlichen Wesen verbringen durfte, seitdem ich in Island angekommen war. Endlich wieder kommunizieren, über Gott und die Welt reden, sich einfach austauschen.
Pünktlich, auf die Minute genau, klopfte es an der Tür. Ich machte auf und strahlte ihn an.
»Hi! Na, da freut sich aber wer, mich zu sehen. Du strahlst ja mit der Sonne um die Wette!«
Raik begrüßte mich herzlich und wir umarmten uns.
»Bist du fertig, können wir los?«, fragte er.
»Ja, fertig und ready for take off!«, scherzte ich.
»Na, komm schon, los geht’s! Wir haben heute viel vor«, sagte er und wir gingen gemeinsam zum Auto.
Wir stiegen ein und fuhren in seinem Jeep Wrangler die Küste entlang, mit dem niemals endenden Ozean immer an unserer Seite.
»Sag’s mir, wo fahren wir denn überhaupt hin?«, fragte ich aufgeregt nach. Ich hielt es vor lauter Neugierde keine fünf Minuten mehr aus.
»Kann ich dir nicht sagen, sonst wäre es ja keine Überraschung mehr, oder?«, neckte er mich liebevoll und schenkte mir sein schönstes Lächeln.
»Ich kann dir nur eines verraten. Wenn du den Ozean genauso liebst wie ich, dann wird es dir auf jeden Fall gefallen«, antwortete er.
»Ja, das tue ich. Mehr, als du es dir vorstellen kannst!«, antwortete ich und blickte Richtung Horizont.
»Als kleines Mädchen wollte ich immer eine Meerjungfrau sein. Ich legte mich damals still und heimlich stundenlang in die volle Badewanne und wartete geduldig ab, bis sich meine Beine zu einer Sirenenflosse verwandeln würden«, beichtete ich schmunzelnd.
»Das ging so lange gut, bis meine Mutter die monatliche Wasserrechnung zu Gesicht bekam. Ruhig erklärte sie mir, in einem sehr langen Mutter-Tochter-Gespräch, dass ich zwar nicht Arielle, aber so perfekt sei, wie ich tatsächlich war … und ich solle das tägliche Baden gefälligst sein lassen, ansonsten würden uns die Wasserkosten auffressen!«
Wir fingen gleichzeitig zu lachen an, dass mir die Tränen kamen.
»Na ja, die wunderschönen, roten Haare von Arielle hättest du schon mal!«, sagte er schließlich.
Sein Kompliment ließ mich kurz erröten, ich hatte schon lange keines mehr bekommen. Gut, dass er sich aufs Autofahren konzentrieren musste und meine knallroten Bäckchen nicht sehen konnte.
Kurze Zeit später bogen wir Richtung Hafen ein und ich konnte keine Sekunde länger ruhig sitzenbleiben. Ich rutschte ungeduldig auf dem Sitz hin und her, das entging auch Raik nicht. Er parkte ein und sah mich ebenso aufgeregt an.
»Komm, wir sind da!«, sagte er.
Wir stiegen aus dem Auto aus. Erst mal konnte ich nichts erkennen. Raik lotste mich gezielt zu den zahlreichen Booten, die im Hafen angelegt hatten und kaum erwarten konnten, wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Ruhig schaukelten sie im Takt der Wellen hin und her, als würden sie miteinander tanzen.
Dann endlich sah ich es!
Das riesige, blaue Boot mit dem Namen „Hvalur“ blitzte in voller Pracht unter den anderen Booten heraus! Hvalur war isländisch und hieß übersetzt „der Wal“. Die weiße, auf dem marineblauen Hintergrund der Aussichtsplattform aufgemalte Walflosse ließ mich vor Begeisterung aufquieken! Ich blickte Raik mit riesengroßen Kinderaugen an. Er lächelte mich an und ich strahlte mit der Sonne um die Wette. Ich hüpfte auf und ab wie ein Flummiball und umarmte ihn stürmisch. Er umarmte mich zärtlich zurück. Es fühlte sich gut an.
»Komm, du kleine Meerjungfrau, lass und die Wale anschauen!«
Er nahm freundschaftlich meine Hand und wir betraten das riesige Boot. Nach einer kurzen, aber informativen Begrüßung durch die Crew, bei der uns sowohl die geplante Ausflugsroute als auch die Benimmregeln an Bord erklärt wurden, bekamen wir unsere windabweisenden Ganzkörperoveralls. Uns wurde wärmstens empfohlen, diese anzuziehen, denn die Witterungsbedingungen konnten draußen ganz schön herausfordernd sein. Dankend zogen alle Passagiere die bequemen Overalls an und gingen anschließend hinauf aufs Oberdeck. Die Motoren wurden gestartet und langsam setzte sich das Boot in Bewegung. Leicht schaukelnd manövrierte uns der Kapitän gekonnt aus der Bucht heraus und wir nahmen Kurs aufs offene Meer.
»Bist du aufgeregt?«, fragte mich Raik.
»Ja, und wie! Wale sind mit Abstand meine absoluten Lieblingstiere! Ich hatte bisher noch die Möglichkeit, diese faszinierenden und sanften Riesen in Freiheit zu beobachten. Wie konntest du das nur wissen?«, antwortete ich.
»Ich wusste es nicht, habe einfach blind ins Schwarze getroffen. Ich hoffe nur inständig, wie sehen heute welche. Sooft es die Tierarztpraxis zulässt, versuche ich rauszufahren und abzuschalten. Ich hatte schon öfter das Glück, einige Prachtexemplare zu bewundern«
Gespannt, was noch alles passieren würde, lehnten wir uns an die Reiling.
Wir tuckerten gemütlich immer weiter hinaus und man konnte deutlich spüren, wie der Wind langsam auffrischte. Ich genoss den Wind, das hatte etwas Befreiendes. Die kühle Brise, der nicht endende Ozean und der türkisblaue Himmel, nirgendwo hätte ich lieber sein wollen. Ich zog mir die warme Kapuze über und war froh, so warm eingepackt gewesen zu sein. Raik und ich standen lange Zeit einfach nur nebeneinander und beobachteten die Wasseroberfläche. Es war sehr angenehm und gleichzeitig so vertraut, einfach mal zu schweigen und nur die Wellen zu beobachten. Die angenehme Stille, die sich sogar auf alle anwesenden Passagiere zu übertragen schien, war keineswegs peinlich. Hin und wieder wurden wir von unserem Guide, der an diesem Tag für unser Boot zuständig war, über die Lautsprecher mit den unterschiedlichen Arten der in Island vorkommenden Meeressäuger vertraut gemacht. Für mich war es natürlich nichts Neues, die Unterwasserwelt war mir mehr als bekannt. Meine zweite Heimat, sozusagen. Hier war ich Zuhause.
»Sieh mal, Raik, siehst du die Vogelschwärme, die sich dort drüben bilden und aufgeregt um diese ein bestimmte Stelle kreisen?«, fragte ich ihn und zeigte mit dem Finger Richtung Norden.
»Ja, genau dort drüben«, antwortete er.
»Das sind die ersten Anzeichen, wo sich Buckelwale befinden könnten. Da Buckelwale bis zu 15 Meter lang werden, sind sie auf filigrane Jagdtechniken angewiesen. Dabei vollführen sie komplexe Schwimmmanöver in aufwärts gerichteten Spiralbahnen und geben dabei Luftblasen von sich. So wird die Beute nicht nur zusammengetrieben, sondern durch das Luftblasennetz zusammengehalten.«
Ich war vollkommen in meinem Element. Raik hörte mir aufmerksam zu, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er diese Informationen schon öfter gehört hatte. Mein Enthusiasmus konnte mich allerdings nicht stoppen und ich erzählte angeregt weiter.
»Anschließend schwimmen sie von unten mit geöffnetem Maul durch den entstandenen Blasentunnel hindurch und verschlingen somit ihre Beute. Die Vögel profitieren natürlich auch davon und erfreuen sich am reichlich gedeckten Tisch. Das ist so faszinierend, findest du nicht?«, fragte ich ihn.
»Ja, in der Tat«, antwortete er.
Er sah mich an und lächelte.
Im nächsten Moment ertönte wieder eine Information aus den Lautsprechern und unser Guide erklärte den Passagieren genau dasselbe, was ich Raik eben erzählt hatte. Wir schauten uns ganz verdutzt an und prusteten beide gleichzeitig drauflos. Ich hatte schon so lange nicht mehr so herzhaft gelacht.
»Tja, da bist du ihm wohl zuvorgekommen, was?«, sagte er amüsiert.
»Erzähl mir mehr, Tessa …«
Die Art, wie er mich ansah, verriet mir, dass er tatsächlich mehr erfahren wollte.
»Hast du gewusst, dass Buckelwale einen enorm ausgeprägten Familiensinn haben? Eine Buckelwalfamilie bleibt ein Leben lang zusammen, spielt mit ihren Kälbern und sorgt füreinander. Sie folgen einem starken Gruppenanführer und hören niemals auf zu singen. Ihre Gesänge gehören zu den komplexesten Kommunikationsformen im gesamten Tierreich. Sie bestehen aus vielen Strophen, die sie stundenlang immer wieder wiederholen«, erzählte ich gedankenverloren.
Aus mir sprudelte es nur so heraus. Ich liebte es, mein Wissen zu teilen. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass er noch immer bei mir war. Er fixierte meine Lippen und verzog keine Miene. Ich spürte, wie sich mein Puls schlagartig beschleunigte.
»Woher weißt du das alles? Bist du etwa die Tochter von Jacques Cousteau?«, fragte er belustigt nach.
»Haha! Wäre ich nur allzu gern. Nein, ich bin nur Tessa, eine einfache Meeresbiologin. Das ist beziehungsweise „war“ mein Beruf, besser gesagt, meine Berufung. Studiert und gelebt habe ich in Wien, das ist in Österreich. Ich habe mein altes Leben hinter mir gelassen und lebe nun hier«
Ich lächelte ihn an und sah wieder in die Ferne. Meine Geste machte deutlich, dass dies fürs Erste genug Informationen gewesen sind. Er gab sich auch mit meiner Antwort zufrieden und wir blickten wieder gemeinsam in die Ferne. Seltsam, wie richtig er immer meine Gefühlswelt einschätzen konnte.
»Und das freut mich riesig, ansonsten wären wir uns niemals über den Weg gelaufen«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
Erstaunlich, er fand immer die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt. Eine außergewöhnliche Gabe, die nur wenigen Menschen zuteilwird.
Wir kreisten noch immer mit den Vogelschwärmen um die Wette, doch die Wale hatten keine Absicht, sich blicken zu lassen. Die Menschen an Bord waren sehr konzentriert und angespannt, es herrschte eine unglaubliche Stille. Jeder war am Beobachten und hoffte, etwas zu entdecken. Zwei, drei Weißschnauzendelfine konnte man in der Ferne springen sehen, doch die Superstars der Meere ließen noch auf sich warten.
Nach einer langen Pause unterbrach ich die Stille.
»Danke, Raik. Danke, dass du mich hierhergebracht hast. Genau das habe ich heute gebraucht. Nirgendwo würde ich lieber sein wollen.«
Ich blickte ihn dankbar an. Unsere Blicke begegneten sich. Alles fühlte sich so seltsam an, keineswegs unangenehm.
»Gern geschehen. Ich danke dir, dass du mir vertraut hast und ohne nachzufragen mitgekommen bist. Du bist heute meine Premiere! Ich war bisher immer nur alleine hier draußen«, fügte er hinzu.
Wow, was für eine Ehre, dachte ich mir. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie das nur sein konnte, denn vor mir stand ein Mann, der sicherlich keine Schwierigkeiten beim Flirten hatte. Hey, er war ein Wikinger, der wahrgewordene Traum jeder Frau. Ihn danach zu fragen, wäre mehr als taktlos gewesen. Diese Frage hob ich mir für das nächste Mal auf. Ob es überhaupt ein nächstes Mal geben würde?
»Und um deine Frage zu beantworten – nein«, sagte er.
»Nein?«, wiederholte ich verdutzt.
»Nein. Ich habe keine feste Freundin. Weder vergeben noch verheiratet noch geschieden«
Er ließ seine weißen Zähne wieder hervorblitzen und lächelte mich an. Oh Gott, mir wurde plötzlich ganz heiß und ich spürte wie meine Wangen wieder erröteten. Dieser Mann konnte nicht nur charmant und witzig sein, sondern auch noch Gedanken lesen! Ich überlegte mir schnell eine lässige Antwort, doch es war schier unmöglich, einer so schlagfertigen Aussage zu trotzen.
»Ähm, o. k. Gut zu wissen …«, stammelte ich hervor.
Wie peinlich war das denn?! Ich lief rot an und musste seinem Blick, der mich quasi gefangen hielt, schnellstens ausweichen.
Dann endlich geschah es!
Wie pünktlich auf die Minute bestellt und definitiv zum perfektesten Zeitpunkt, den man sich nur vorstellen konnte, tauchte ein Buckelwal aus dem tiefen Blau des Ozeans empor. Er sprang hoch, ragte fast vollständig aus dem Wasser, kippte wie in Zeitlupe zur Seite und klatschte mit einem donnernden Geräusch auf die Wasseroberfläche. So plötzlich, wie er aufgetaucht ist, hob der Wal seine Fluke und tauchte wieder in die Tiefe hinab. Das Boot schwankte wie verrückt hin und her! Die Gischt spritzte uns ins Gesicht, ich konnte das Salz auf meiner Zunge schmecken. Alle Passagiere hielten in diesem Moment die Luft an. Einige Sekunden später fingen die Leute an zu klatschen und die Euphorie war jedem ins Gesicht geschrieben. Was für ein Erlebnis!
»Wow! Raik, hast du das gesehen?«
Ich glühte förmlich vor Freude und strahlte ihn an.
»Ja, das war der pure Wahnsinn! Das nennt man wohl einen Glückstag!«, sagte er.
Er sah mich auf eine Art und Weise an, die ich nicht vollständig deuten konnte. Meinte er dieses atemberaubende Naturschauspiel, das wir zusammen erlebt hatten, oder die Tatsache, dass ich ihn begleiten durfte? Ich hoffte inständig, dass er sich nicht allzu viel erwartete, denn ich war noch nicht so weit. Ich mochte ihn sehr, doch für eine Beziehung war es definitiv zu früh. Ich schob den Gedanken schnell beiseite. Ich wollte mich voll und ganz diesem einzigartigen Glücksmoment hingeben.
Unsere Tour dauerte insgesamt viereinhalb Stunden. Die Zeit war nur so verflogen. Im Laufe des Nachmittags sahen wir noch einige schöne Exemplare. Zahlreiche Minkwale und Weißschnauzendelfine machten diesen Tag einfach unvergesslich. Die Nähe zu diesen majestätischen Giganten und das Gefühl der Freiheit in meinen Haaren ließen mich neue Energie schöpfen. Ich fühlte mich wie neugeboren und war einfach nur froh, endlich einen Freund gefunden zu haben. Es tat irrsinnig gut, wieder soziale Kontakte zu haben und sich austauschen zu können.
Nun konnte ich den nächsten Punkt auf meiner To-do-Liste abhacken.
Wale? Check!