Читать книгу Meerhabilitation - Oana Madalina Miròn - Страница 6

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3 Raik

Da es wieder zu schneien begann, machten Magnus und ich uns hastig auf den Weg nach Hause. So einen unvorhergesehenen Zwischenfall konnten wir uns nicht noch einmal leisten. Magnus’ Adrenalinspiegel ließ ihn wortwörtlich fünf Zentimeter über dem Boden schweben und ich spürte meine Finger vor lauter Kälte fast nicht mehr. Hätte ich doch meine Fäustlinge mitgenommen. Wer konnte schon ahnen, dass ich heute noch in den Genuss kommen würde, einen riesigen Berg Schnee mit meinen bloßen Händen wegzuschaufeln? Der kurze Spaziergang mit Magnus entpuppte sich definitiv als Highlight der Woche, der mir noch lange im Gedächtnis bleiben würde.

Ich war noch richtig benommen. Als ich den Zwischenfall gedanklich nochmal durchging, war ich einfach nur erleichtert, dass niemandem etwas zugestoßen war. Weder Magnus noch … Wie hieß sie noch mal?

»Tessa«, flüsterte ich leise vor mich hin.

Was für eine Naturgewalt! Sie fiel aus dem Auto direkt auf mich drauf. Wie ein wild gewordener Feuerball flammten Ihr Haare auf, fielen auf mein Gesicht und liebkosten mich. Ich hatte ihren Duft immer noch in meiner Nase. Ihre kühlen, graublauen Augen hatten sich in Sekundenschnelle in mein Innerstes gebohrt. Was für ein heftiges Erlebnis, das ich schon seit Langem nicht mehr erleben durfte.

Was war passiert? Wie konnte diese zarte Schönheit mir in die Arme fallen, um sich dann doch wieder in Luft auflösen? Ich hätte mir wortwörtlich in den Hintern beißen können, dass ich nicht daran gedacht hatte, sie auf einen Kaffee einzuladen. Tee war nicht so meins.

Die letzten vier Jahre Singledasein hatten mich nicht wirklich zum Casanova gemacht. Klar, mir fehlte es an nichts, und ich hatte in der letzten Zeit auch einige kurze Bekanntschaften gemacht, doch irgendwann hatte ich enttäuscht feststellen müssen, dass ich genau „die eine Frau“, die ich vergeblich suchte, noch immer nicht getroffen hatte. Die Tierarztpraxis lief mehr als zufriedenstellend, die Patienten gingen ein und aus, doch die Zweisamkeit fehlte mir allmählich. Nicht nur das Körperliche, mehr das miteinander Lachen, Fernsehabende auf der Couch mit einer Tüte Chips, das gemeinsam Einschlafen und wieder Aufwachen. Ich vermisste die menschliche Wärme.

Ich hätte Tessa noch ein wenig aufhalten sollen, sie um ihre Nummer fragen. Stattdessen stand ich nur da und schaute zu, wie sie davonfuhr. Ich stand einfach nur da und ließ sie davonfahren. Tschüss, und auf Wiedersehen! Ich hätte mich dafür ohrfeigen können! Der irre Gedanke, sie eventuell doch noch von Magnus aufspüren zu lassen, ließ mich plötzlich auflachen. Es war zwar ein guter Schnüffler, doch das klang schon ein wenig krankhaft. Ich wollte doch nicht als Stalker abgestempelt werden.

»Magnus, dein Herrchen dreht jetzt völlig durch. Komm, gehen wir rein, es wird richtig ungemütlich hier draußen«, sagte ich zu Magnus und sperrte die Ordinationstür auf.

Magnus lief sofort hinein, schüttelte sich kräftig durch, machte sich über die Stufen auf zum oberen Wohnbereich. Es war sehr praktisch, die Tierarztpraxis und meine Wohnung in einem Haus zu haben, das ersparte mir schließlich den täglichen Arbeitsweg.

Im Wohnzimmer angekommen, schenkte ich mir einen Schluck Brennivin ein, um mich ein wenig aufzuwärmen. Genau das brauchte ich jetzt. Magnus machte es sich vor dem Kamin gemütlich und fing sofort an zu schnarchen. Harter Tag für ihn. Hund müsste man sein!

Ich ging nachdenklich zur Fensterfront, die mir einen unglaublichen und atemberaubenden Blick auf den gesamten Horizont freigab. Genau deswegen wollte ich an dieser Stelle keine Wand, die mir die Sicht nach draußen verdeckte. Nur Glas. Riesiges, dreifachverglastes Sicherheitsglas, das einem Schaufenster ähnelte. Meine Seele brauchte Raum, musste sich frei entfalten können. Ich blickte nach draußen und ließ meine Gedanken schweifen. Unendliche Weite.

Da war er, der unbändige und gleichzeitig wunderschöne Ozean, der schon damals meinen Vorfahren das Zittern beibrachte und Respekt einflößte. Trotzdem lernten sie schnell, die Natur zu ihrer Verbündeten zu machen. Sehr oft fühlte ich diese Verbundenheit zu meinen Ahnen. Ich liebte es sehr hier zu sein und fühlte mich gesegnet, in diesem wunderschönen Land leben zu dürfen. Ja, ich war ein stolzer Isländer, der tief verwurzelt war. Manche Menschen hatten eine derartige Verbundenheit nicht, bei mir war es anders und dafür war ich dankbar.

Ein Sturm kam auf. Die tiefschwarzen Wolken verschmolzen mit den tosenden Wellen. Der Horizont war fast nicht mehr zu erkennen und die klaren Linien schienen miteinander zu verschmelzen. Alles schäumte und wütete, wie ein wildgewordener Dämon, der seiner Laune freien Lauf ließ. Manchmal spiegelte das Meer mein Innerstes wider. Ich erkannte mich oft darin, und auch wenn es lächerlich klang, das Wasser zu beobachten war meine Medizin. Auf diese Art und Weise konnte ich am besten abschalten und meine Gedanken neu ordnen. Nichts war für mich beruhigender als das. Die Natur war von Anfang an ein heiler Ort gewesen, so rein und aufrichtig. So rein.

Ich nahm noch einen kräftigen Schluck und spürte, wie der Schnaps eine warme Spur beim Schlucken hinterließ.

Was für ein Tag!

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