Читать книгу Meerhabilitation - Oana Madalina Miròn - Страница 9

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6 Tessa

Nachdem ich am nächsten Morgen aus dem Einkaufszentrum wieder Zuhause angekommen war, bekam ich an der Haustür die herzlichste und feuchteste Begrüßung, die man sich nur vorstellen kann. Magnus sprang mich förmlich an und seine Zunge ließ keinen Quadratzentimeter meines Gesichtes unerforscht. Ich kniete mich zu ihm und ließ mich nach Lust und Laune abschmusen. Das tat so gut! Ich kicherte drauflos und meine Ermutigung ließ Magnus so richtig durchdrehen. Es spornte ihn richtig an, weiterzumachen. Wir kugelten am Boden herum, bis ich schließlich atemlos die weiße Fahne schwenken musste.

Nachdem ich ihn zum Erleichtern rausgelassen hatte, kochte ich mir noch einen heißen Tee und nahm mit meiner neuen Errungenschaft auf meiner Couch Platz. Magnus legte sich unaufgefordert zu meinen Füßen dazu und machte es sich gemütlich.

»So, mein Großer, jetzt werden wir mal deinen Herrchen suchen«, sagte ich leise vor mich hin.

Als hätte der Hund mich verstanden, hob Magnus plötzlich seinen Kopf und stoß einen leichten Seufzer hervor.

»Keine Angst, wir kriegen das schon hin«, beruhigte ich ihn.

Ich nahm das nigelnagelneue, schneeweiße Sony-Tablet aus der Verpackung heraus, richtete es kurz ein, und schon konnte die Suche losgehen. Ich war mir bewusst, dass dieser Schritt ein großes Risiko mit sich brachte, denn jede unnötige Verbindung nach draußen stellte eine enorme Gefahr für mich dar. Aber diesen Gedanken schob ich schnell beiseite, denn nun hatte ich Wichtigeres zu tun. Ich musste diesen armen Kerl, den ich eigentlich gar nicht mehr so richtig hergeben wollte, seinem Herrchen wieder zurückbringen …

Warum wurde mir bei diesem Gedanken nur plötzlich so heiß? Wer freute sich nun mehr, Herrn Doktor wiederzusehen? Magnus oder ich?

»Meine Güte Tessa, werd doch bitte endlich erwachsen…«, sprach ich mit mir selbst.

Mit einem breiten Grinser durchsuchte ich eifrig die Homepages aller Veterinärmediziner in der näheren Umgebung.

»Volltreffer! «

Da war er. Dr. Raik Sigurdsson.

Ich sah mir das Profilfoto ganz genau an und zoomte bis auf 300 % ran. Jetzt durfte ich ihn endlich hemmungslos anstarren, ohne dabei rot zu werden oder in Versuchung zu geraten, mich nochmals mit vollem Körpereinsatz auf ihn zu werfen. Meine Wangen erröteten trotzdem bei so viel Männlichkeit und ich klickte schnell wieder weg.

»Haha, also Magnus, eines haben wir auf jeden Fall gemeinsam! Wir scheinen denselben Typ Mann zu mögen«, scherzte ich und kraulte ihm genüsslich die Ohren.

Jetzt, wo ich das Bild vor mir hatte, ließ ich den Vorfall vor einigen Wochen nochmals Revue passieren. Meine Unbeholfenheit oder besser gesagt meine Tollpatschigkeit im Vergleich zu seiner unglaublichen Tapferkeit spielten definitiv nicht in der gleichen Liga. Er war so anders als die anderen. Obwohl wir uns nur flüchtig kannten, gab er mir ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit. Ich war süchtig danach.

Da ich noch kein Handy besaß, tippte ich das E-Mail-Symbol an und begann zu schreiben. Ich wählte meine Worte sehr sorgfältig aus, denn dieses Mal wollte ich einen guten Eindruck hinterlassen.

Einen wunderschönen guten Morgen, Dr. Sigurdsson. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob du dich noch an mich erinnern kannst. Hier ist Tessa, wir hatten vor einigen Wochen eine turbulente Schneebekanntschaft, nachdem dein Hund meinen Weg gekreuzt hat …

Der Grund, warum ich dir schreibe, ist, dass ich hier auf meiner Couch jemandem die Ohren kraule, der eigentlich zu dir gehört. Schwarz, ungefähr 35 Kilogramm schwer und einen endlos großen Appetit … Magnus ist mir gestern am Strand (erneut!) in die Arme gelaufen! Ich denke, du wirst dich über meine Nachricht freuen, denn du vermisst ihn sicherlich schon schrecklich …

Ich schrieb die E-Mail fertig, fügte noch die Adresse meiner schmucken Unterkunft an und schickte die Nachricht ab. Keine fünf Minuten später erklang bereits die Benachrichtigung, dass ich eine neue E-Mail erhalten hatte.

Raik hatte sich bereits auf den Weg gemacht.

Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Bereits am Klopfen konnte ich intuitiv erkennen, dass er es war.

»Hallo Tessa, schön dich wiederzusehen!«, strahlte er mich aufgeregt an. Er sah fantastisch aus! Nicht nur, dass sein Äußeres bei mir punktete, nein, auch seine Art und sein Charakter waren so erfrischend und angenehm, dass ich mich erst mal kurz sammeln musste, bevor ich ihn eintreten ließ.

»Hi, komm doch rein. Du wirst schon sehnsüchtig erwartet«, antwortete ich und ließ ihn herein.

Wie ein plötzlicher Wirbelsturm kam Magnus schon um die Ecke gelaufen und sprang sein Herrchen an. Dieses herzzerreißende Wiedersehen ließ mir eine minutenlange Gänsehaut zurück. Raik kniete am Boden und hielt ihn einfach nur fest im Arm, während sich Magnus vor lauter Winseln und Zittern gar nicht mehr einkriegen konnte. Dieses Bild würde ich mir womöglich für immer einprägen. Erstaunlich, welch große Gefühle zwischen Tieren und Menschen entstehen konnten. Nur die Menschen waren anscheinend nicht in der Lage, sich immer gegenseitigen Respekt und bedingungslose Liebe entgegenzubringen.

»Danke! Wie kann ich dir nur danken, Tessa? Ich war krank vor Sorge und habe letzte Nacht kein Auge zugemacht«, sprudelte es nur so aus ihm heraus.

»Weißt du, er ist meine Familie …«, fügte er hinzu. Ich nickte verständnisvoll.

Ich konnte deutlich erkennen, dass seine Augen stark gerötet waren, konnte aber es nicht genau sagen, ob es durch den Schlafentzug oder die Wiedersehensfreude bedingt war.

»Gern geschehen, ich bin einfach nur froh, dass ich ihn gefunden habe und ihm nichts passiert ist. Magnus hat anscheinend gute Stalker-Qualitäten! Schön langsam fühle ich mich allerdings von ihm verfolgt«, scherzte ich und wir fingen beide an zu lachen.

»Ja, erstaunlich! Anscheinend kann er dich gut riechen!«, gab er amüsiert zurück.

Seine strahlend weißen Zähne machten dieses ohnehin schon umwerfende Lachen einfach perfekt. Er strahlte eine unheimliche Ruhe und Sicherheit auf mich aus, ein Gefühl, dass ich schon lange nicht mehr gespürt hatte. Bitte lieber Gott, lass ihn einfach nie wieder aus meiner Tür hinausgehen …

»Ich würde mich wirklich gerne bei dir revanchieren, und dieses Mal akzeptiere ich keine Widerrede«, sagte er schließlich.

»Ich würde dich sehr gerne zum Essen einladen. Ich hoffe du nimmst meine Einladung an. Du kannst dir auch gerne das Lokal aussuchen«

Er sah mich mit seinen stahlblauen Augen an und wartete gespannt auf meine Antwort. Ich hätte schwören können, dass er auch ein wenig nervös war.

Oh Mann! Wie hätte ich einer derart charmanten Einladung nur widerstehen können? Lieber hätte ich mir die rechte Hand abgehackt, als ihn noch mal gehen zu lassen.

»Sehr gerne würde ich deine Einladung annehmen Raik, allerdings bin ich erst seit einigen Wochen hier in Island. Ich bin vor Kurzem hierhergezogen. Ich könnte dir kein einziges Restaurant in Reykjavik empfehlen«, gab ich schließlich zu und war selbst über plötzliche Ehrlichkeit erstaunt.

»Wirklich? Ich dachte mir schon, einen sympathischen Akzent rausgehört zu haben. Ich denke, für genügend Gesprächsstoff ist somit gesorgt«, antwortete er schmunzelnd.

»Also gut, wenn das so ist, habe ich eine bessere Idee. Ich würde dich fürs erste Treffen dann kurz entführen und dir „meine kleine Insel“ zeigen. Ich möchte dich sehr gerne überraschen. Vertraust du mir?«, sagte er. Seine Augen fingen an zu leuchten.

Er hatte die Ausstrahlung eines Jungen, der gerade die Geschenke unterm Weihnachtsbaum entdeckte. Ich wusste, dass ich mir selbst einen kleinen Ruck geben musste. Wenn ich mich der Welt wieder öffnen wollte, dann war das jetzt die beste Gelegenheit dazu.

»Also gut. Ich lasse mich überraschen«, sagte ich schließlich.

»Spitze! Ich hole dich morgen pünktlich um 13 Uhr ab. Freizeitbekleidung und gemütliche Schuhe anziehen, das Abendkleid wirst du definitiv nicht brauchen«, gab er zurück.

»Dann bis morgen! Und danke Tessa, dass du ihn mir zurückgebracht hast. Er ist mein bester Freund, weißt du?«

Er umarmte mich kurz zum Abschied und ging dann.

Zurück im Wohnzimmer wunderte ich mich über meine neu gewonnene Spontanität. Ich wollte doch untertauchen, keinen Kontakt zu der Außenwelt pflegen, doch plötzlich fühlte es sich doch so was von richtig an. Ich spürte einen Hauch von Aufregung, gepaart mit Vorfreude und Neugierde in mir aufkeimen. Der Heilungsprozess hatte schon einiges bewirkt. Ich hatte noch einen langen Weg vor mir, das war mir bewusst, doch manche Wunden begannen schon langsam zu heilen. Ein paar kleinere Narben waren bereits verblasst, physisch sowie auch psychisch.

Ich ging zum Kleiderschrank, legte mir einige Anziehsachen für den nächsten Tag heraus und konnte ehrlich gesagt den kommenden Tag kaum erwarten. Ja, ich freute mich. Ich hatte dieses Gefühl sehr vermisst. Einfach den Tag mit einem netten und sympathischen Menschen verbringen.

Ich mochte ihn. Ich mochte Raik sehr, allerdings erst mal als einen Freund. Ich hoffte, dass er das genauso sah. Was, wenn nicht?! Was, wenn er sich von diesem Treffen mehr erhoffte? Wenn er glaubte, dass ich mehr von ihm wollte?

Langsam bekam ich Zweifel. War das der richtige Zeitpunkt, um neue Freundschaften zu schließen? Überstürzte ich gerade etwas?

Am Abend ging ich im Geiste die letzten Stunden unserer Begegnung nochmal durch. Ich hoffte inständig, dass er das morgige Treffen genauso locker sah, wie ich es tat.

Ich schlief sehr unruhig ein, wälzte mich im Bett hin und her. Ich fand keinen Frieden in jener Nacht.

***

[ Die Tür fiel leise ins Schloss. Im Haus war es dunkel, anscheinend schlief Hannes schon. Ich hätte ihm eine SMS schicken sollen, dass es bei mir ein wenig länger dauern würde, hatte mich aber dagegen entschieden, da ich ihn nicht beunruhigen wollte. Ich zog im Vorraum meine High Heels aus und ging leise ins Wohnzimmer. Da ich ihn nicht aufwecken wollte, beschloss ich spontan, es mir auf der Couch gemütlich zu machen.

Plötzlich ging die Tischlampe an. Ich schreckte kurz auf, sah aber, dass es Hannes war. Er saß in der Ecke in seinem Lieblingsohrensessel aus dunkelbraunem Vintageleder, hatte die Beine übereinandergeschlagen und schwenkte genüsslich seinen Whiskeyglas.

»Hannes, du bist noch auf? Du hast mich erschreckt!«, sagte ich leicht irritiert. Oh Mann, bitte keine endlos lange Diskussion wieder, dafür war ich schon zu müde.

»Schön, dass du endlich wieder Zuhause bist«, erwiderte er in einem ruhigen, monotonen Tonfall.

Diese skurrile Szene wirkte auf mich irgendwie bedrohlich. Spannung lag in der Luft. Ich fühlte mich unwohl.

»Ja, tut mir wirklich leid. Ich wollte dir noch Bescheid geben, dass es bei uns ein wenig länger dauern würde. Mel hatte heute Geburtstag und hat uns Mädels nach der Arbeit auf einen Drink eingeladen«, antwortete ich so freundlich ich konnte, um die Situation ein wenig zu deeskalieren.

Ich versuchte es wenigstens.

»Ja, das hättest du definitiv tun sollen«, antwortete er.

Er sah mich ausdruckslos an, blinzelte nicht einmal. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, musste mich plötzlich kurz schütteln. Was passierte hier? Instinktiv blickte ich weg und machte einen kleinen Schritt zurück. Der Selbstschutz setzte ein. Warum fühlte ich mich plötzlich so schlecht? So schuldig? Die Situation schien zu eskalieren, jedenfalls fühlte es ich so an.

Im selben Moment stand er auf, packte mich am Pferdeschwanz und riss meinen Kopf ruckartig zurück, sodass ich ihm in die Augen blicken musste! Ich atmete scharf ein. Der Schmerz durchflutete meine Kopfhaut.

»Tessa, Tessa … Wie oft soll ich es dir noch erklären, wie du dich zu benehmen hast? Und komm schon, sieh dich nur an? Wie siehst du nur aus?«

Sein zorniger Blick durchbohrte meinen. Er drang in meine verletzliche Seele ein, immer tiefer und drängte sie in die Ecke. Ich fühlte mich geistig vergewaltigt, fing innerlich an zu schreien. Schreie, die niemand hören konnte, nur ich! Ich versuchte mich nicht zu bewegen oder irgendeine Reaktion zu zeigen, um ihn noch wütender zu machen.

»Hannes, bitte nicht … Du tust mir weh«, flehte ich ihn an.

»Anscheinend kapierst du es nicht anders!«, schrie er mich an und verstärkte seinen eisernen Griff.

»Du wagst es, mich warten zu lassen, kommst irgendwann nach Hause und siehst aus wie eine Hure?!«, brüllte er mich an.

Ich spürte winzig kleine Spucketropfen, die auf meine Haut niederprasselten.

»Hannes, bitte …«, hauchte ich.

»Was?! Was, Tessa? Du glaubst mir etwa nicht?«

Im selben Moment packte er mich bei den Schultern, stieß mich vor zum großen Wandspiegel und hielt meinen Kopf fest, sodass ich mein Spiegelbild ansehen musste.

»Schau dich doch an! Geschminkt wie eine Hure! Gekleidet wie eine Nutte!«

Er schüttelte so heftig meinen Kopf hin und her, dass mir schwindelig wurde. Plötzlich fasste er mir mit der gesamten Hand ins Gesicht und fing an, meinen roten Lippenstift quer über die gesamte Wange zu verschmieren. Ich schloss meine Augen und hielt die Luft an. Ich konnte mich nicht bewegen, besser gesagt, durfte mich nicht bewegen.

»So sieht nicht die Frau eines erfolgreichen Landespolizeidirektors aus! Nein, nicht so! Und wenn ich sage, du sollst nach der Arbeit sofort nach Hause kommen, dann ist das keine Bitte, sondern eine Aufforderung! Hast du das verstanden?!«, schrie er mich von der Seite an, sodass mein linkes Ohr schrill zu pfeifen begann.

Instinktiv antwortete ich schnell.

»Ja, Hannes. Ich habe verstanden. Es tut mir leid.«

Ich spürte, wie meine Knie ganz langsam zu zittern begannen. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich konnte nicht dagegen ankämpfen, das war mein natürlicher Schutzmechanismus.

Er kam von hinten ganz nah an mich heran und schmiegte sich mit seinem Kopf zärtlich an meinen Hals an.

»Das würde ich dir für die Zukunft auf jeden Fall raten. Nun sei eine artige Ehefrau und kehr die Scherben auf. Schließlich ist das dein Werk.«

Welche Scherben, dachte ich?

Mit einem kräftigen Stoß prallte mein zierlicher Körper gegen den Spiegel.

»Wham!«

Mein Kopf knallte mit voller Wucht dagegen. Der Spiegel zersprang in tausend Scherben. Meine Knie ließen im Schock aus und ich ging zu Boden. Ich spürte, wie sich die einzelnen Scherben in meine Haut bohrten. Mein Gehirn begann gegen meine Schädeldecke zu hämmern, als wollte es ausbrechen. Der Überlebensinstinkt setzte wieder ein und ermahnte mich nicht zu bewegen, ihn nicht unnötig zu reizen.

Er drehte sich weg und ging Richtung Bad.

»Melde dich ab morgen krank! Solange der blaue Fleck von deiner Stirn nicht verblasst ist, bleibst du zu Hause! Und schmink dich endlich ab, du siehst aus wie Joker!«, rief er mir noch hinterher und knallte die Tür hinter sich zu.

Ich blieb noch eine Weile ruhig sitzen. Ich wagte nicht einmal zu weinen, sondern verweilte in der gleichen Position einige Minuten lang. Der Kopf pulsierte im Rhythmus meines Herzschlages. Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren ließ die Umgebungsgeräusche der Stadt verstummen. Ich nahm eine Scherbe in die Hand und sah hinein. Wie recht er nur hatte, das Hämatom an der rechten Stirn war bereits deutlich zu erkennen und die Schwellung war vor allem gut zu spüren.

Er hatte es wieder getan.

Mein Mann hatte mich wieder verletzt.]

***

Ich stieß einen kurzen Schrei aus und wachte schweißgebadet auf. Dann richtete ich mich kerzengerade im Bett auf und blickte starr vor mich hin. Meine Atmung ging schnell. Ich griff mir an meine pochende Brust und konzentrierte mich darauf, mich wieder zu beruhigen. Eine Panikattacke war das Letzte, was ich jetzt brauchte.

Die Albträume hatten wieder begonnen.

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