Читать книгу Meerhabilitation - Oana Madalina Miròn - Страница 4
Оглавление1 Tessa
»Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit unserem Landeanflug auf Reykjavik. Wir ersuchen Sie, sich hinzusetzen und wieder anzuschnallen. Bitte schalten Sie Ihre elektronischen Geräte aus, bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position und klappen Sie das Tischchen hoch. Wir werden in Kürze landen. Vielen Dank!«
Die Stimme der Stewardess ließ mich augenblicklich hochfahren. Ich hatte fast den gesamten Flug verschlafen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so müde gewesen war. Müde und ausgelaugt. Gefühllos. Regungslos. Fast schon betäubt. Ich spürte tief in meinem Inneren eine endlose Leere, gepaart mit unendlicher Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Ich hatte diesen gewagten Schritt gehen müssen. Meine Flucht war unausweichlich gewesen. Es war fast schon unglaublich, wie ich es doch letztendlich geschafft hatte, zu entkommen. Ich hatte mich einfach in Luft aufgelöst, keine Spuren hinterlassen. Nichts.
Nun saß ich in der Icelandair Boeing 767 und schaute nachdenklich beim Fenster hinaus. Island, das magische Land meiner Träume. Dieses bezaubernde Land übte auf mich eine unglaubliche Anziehungskraft aus. Tief in meinem Inneren hatte ich schon immer gewusst, dass ich eines Tages hierherziehen würde, deswegen fing ich schon vor etlichen Jahren an, die Landessprache zu erlernen. Ich war nun einigermaßen gut vorbereitet. Kein leichtes Unterfangen, denn Isländisch zu lernen war alles andere als einfach, doch mittlerweile konnte ich mich schon fließend unterhalten.
Nun war es so weit. Ich hatte den Schlussstrich ziehen müssen. Einen Neuanfang wagen. Für mich gab es kein Zurück mehr. Warum hatten nur so viele Menschen Angst, von vorne zu beginnen und alles Erlebte hinter sich zu lassen? Es konnte doch funktionieren, oder etwa nicht? Einfach die Sachen packen und los! Tja, manchmal war das leichter gesagt, als getan. Ich konnte verstehen, dass nicht jeder Mensch den Mut aufbringen konnte, diesen Schritt zu gehen.
In meinem Fall war es allerdings anders. Die verzwickte Lage, in der ich mich befand, hatte mir in den letzten Jahren das Leben nicht gerade leicht gemacht. Ich wollte mich schon viel früher in Luft auflösen, aber das ging nicht. Es war mir einfach nicht möglich gewesen. Das Böse hielt mich gefangen. Es hatte mich so fest in umklammert, dass ich zu ersticken drohte. Ich wunderte mich immer noch, wie lange ich es überhaupt ausgehalten hatte und wie stark ich eigentlich gewesen war.
Die Ohren fielen mir zu und ich merkte den sanften Druckanstieg, als die Maschine mit dem Sinkflug begann. Ich erhaschte einen Blick nach draußen. Die weite, eisige und verschneite Landschaft erstreckte sich in ihrer vollen Pracht vor meinen Augen und huschte wie ein weißer Schatten vorbei. Es war tiefster Winter. Alles weiß. Es schien, als würde die gesamte Insel im Winterschlaf sein. So still und leise. So friedlich.
Da es jetzt kein Zurück mehr gab, lehnte ich mich in meinem Sitz zurück, kuschelte mich fest hinein und versuchte, alles Geschehene wieder aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich hatte den Reset-Knopf gedrückt. Das war meine allerletzte Chance, wieder auf die Beine zu kommen, mich gänzlich aufzurichten. Ganz von vorne anzufangen.
Wer war ich nun eigentlich? Tessa, eine schöne und starke, lebensfrohe junge Frau, doch warum hatte ich es nur so weit kommen lassen? Das Böse hatte sich ganz langsam und unbemerkt in mein Leben geschlichen. Stück für Stück hatte es die Oberhand gewonnen, und bevor ich es merken konnte, war es letztendlich zu spät.
Ich sah beim Fenster raus und erblickte darin mein Spiegelbild. Ich sah mich an und begann mein Äußeres zu durchforsten. Ich hatte mich schon lange nicht mehr richtig im Spiegel angesehen.
Generell gesehen hatte ich mich nicht allzu sehr verändert. Niemand konnte es mir ansehen, dass ich bereits 33 Jahre alt war. Die ersten 30 Jahre musste ich nicht ungeschehen machen, nur die letzten drei. Diese waren die Hölle gewesen. Sanft legte ich meine Hand auf das angelaufene Kabinenfenster und berührte mein Spiegelbild. Große, graublaue Augen blickten mich neugierig an, umrandet von endlos langen Wimpern. Meine Haut war immer noch makellos, einige Sommersprossen, aber kaum eine Falte zu erkennen. Lachfältchen konnte ich nicht viele entdecken, da ich in den letzten Jahren nicht allzu viel zu lachen hatte. Nur die Glabella, die Zornesfalte zwischen meinen Augenbrauen hatte sich ein wenig vertieft. Darüber konnte ich jedoch schmunzelnd hinwegsehen. Ich mochte kleine Schönheitsfehler, sie sind das Salz in der Suppe.
Ich untersuchte weiter mein Gesicht. Wunderschöne volle Lippen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, öfter geküsst zu werden. Viel zu selten war dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Meine langen, leicht gewellten, kupferroten Haare vervollständigten das Spiegelbild. Ich war eine wahre Schönheit. Zart und schön wie eine wilde Blume, die gerade noch rechtzeitig vor dem Verwelken gerettet werden konnte. Ich mochte, was ich sah; die Liebe zu mir selbst war bis zum heutigen Tag ungebrochen. Ich hatte mich selbst nie aufgegeben, das war für mich keine Option gewesen.
Eine Sportskanone war ich nie gewesen, hatte allerdings in den letzten Jahren eine Vorliebe fürs Joggen entwickelt. Das war auch mein einziger Trost und gleichzeitig ein Ventil, mit meinem Schicksal klarzukommen. Jede Schweißperle stand für eine vergossene Träne. Jeder Laufschritt war ein Hoffnungsschimmer, der mir Kraft gab weiterzumachen, um zu überleben. Kraft zu schöpfen und den Fluchtplan in meinem Kopf wieder und wieder durchzugehen, sodass letztendlich nichts mehr schiefgehen konnte. Die täglichen Laufrunden durch den kleinen verträumten Wald hinter unserem Haus waren meine Heilung gewesen. Damit konnte ich es zwar nicht ungeschehen, jedoch ein wenig erträglicher machen. Ich hatte Gott sei Dank auch noch die Gene meiner Mutter. Ich konnte essen, was ich wollte und war trotzdem gut in Form. Jede andere Frau würde mich für diese Aussage hassen, doch ich konnte nichts dafür. Entweder erbt man die Gene oder nicht, so einfach war das.
Mit einem heftigen Ruck setzte das Flugzeug auf. Touchdown.
»Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind soeben in Reykjavik gelandet!«, ertönte es aus den Lautsprechern.
»Wir hoffen, Ihnen hat der Flug mit der Icelandair Boeing 767 gefallen und Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt bei uns an Bord. Bitte bleiben Sie noch so lange angeschnallt sitzen, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Island und würden uns freuen, Sie bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen. Vielen Dank und auf Wiedersehen!«
Die hübschen Stewardessen machten sich rasch an die Arbeit, die Passagiere zu verabschieden. Ich konnte es kaum erwarten, aus dem Flugzeug auszusteigen. Alles begann zu wuseln, die Fluggäste kramten herum und jeder wollte als Erster Richtung Ausgang. Ich brauchte dringend Frischluft.
»Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch«, verabschiedete mich die Flugbegleiterin und setzte ihr schönstes Zahnpastalächeln auf.
Mit einem »Danke, Ihnen auch«, bedankte ich mich und stieg die Treppe hinunter.
Ich setzte den ersten Schritt auf isländischen Boden. Nun konnte mein neues Leben beginnen. Endlich war es so weit.
Kaum aus dem Flugzeug draußen, hielt ich kurz inne. Ich nahm einen tiefen Zug und sog die eisige Luft in meine Lungen hinein. Der Duft der Freiheit. Es roch nach Meer und Moos, nach Hoffnung und Neubeginn. Eine Woge der Erregung durchflutete plötzlich meinen Körper und all meine Härchen richteten sich auf. Gänsehaut am ganzen Körper! Wow, was für eine Begrüßung!
Unwillkürlich fing ich an zu lächeln, ja ich konnte förmlich den Startschuss meiner Selbstheilung spüren. Ein leichter Rausch floss durch meine Adern. Ich konnte kaum glauben, dass ich es geschafft hatte.
Anschließend holte ich den einzigen Koffer, den ich mitgenommen hatte, um bei der „Abreise“ – oder besser gesagt Flucht – nicht aufzufallen, am Gepäckband ab und winkte das erstbeste Taxi herbei. Ein Koffer musste erst mal reichen. Winterbekleidung, Unterwäsche, Laufhosen und T-Shirts, zwei Paar Schuhe, Kosmetika, meine Canon-Kamera, drei Lieblingsbücher und einige wichtige Dokumente. Kein Handy, kein Tablet, keine Verbindung zur Außenwelt. Das war alles. Das sollte für den Anfang vorerst reichen. Alles andere konnte ich hier besorgen, wenn es unbedingt notwendig sein sollte. Ich wollte auch nicht zu viele Erinnerungen mitnehmen, diese würden mich nur in der Vergangenheit festhalten. Ich konnte es kaum erwarten, mein neues Zuhause zu sehen.
Zuhause … Was für ein wunderschönes Wort, das gleichzeitig so viel bedeutete.
»Guten Morgen! Wohin soll die Fahrt gehen?«, begrüßte mich der Taxifahrer freundlich auf Isländisch, als ich die Autotür öffnete.
»Nordurströnd 17, bitte«, antwortete ich.
Das Taxi setzte sich in Bewegung und rollte fast geräuschlos die verschneite Fahrbahn entlang.
»Aus dem warmen Süden wieder zurück?«, scherzte er.
»Nein«, gab ich schmunzelnd zurück.
»Ich bin das erste Mal in Island.«
Verblüfft sah mich der Taxifahrer mit seinen eisblauen Augen im Rückspiegel an. Er sah leicht irritiert aus.
»Sie scherzen! Sie sprechen ja meine Sprache. Touristen sprechen kein Isländisch, junges Fräulein«, fügte er hinzu.
»Da haben sie wohl recht. Ich bin keine Touristin. Ich werde für immer hierbleiben, das ist mein neues Zuhause«, antwortete ich leicht verträumt, und musste wieder schmunzeln.
Erstaunlich. Ich hätte nie gedacht, dass mein Akzent nicht zu bemerken gewesen wäre. Er hatte mich tatsächlich für eine Isländerin gehalten. Die teuren Sprachkurse mussten sich wohl tatsächlich bezahlt gemacht haben. Der Taxifahrer fing an zu lachen.
»Da haben Sie sich aber ein kühles Plätzchen ausgesucht. Und Sie sind wirklich freiwillig hier?! Haha!«, lachte er laut auf und schüttelte belustigt den Kopf.
»Ja, genauso ist es, ich bin freiwillig hier …«, antwortete ich. Wenn er nur wüsste, welche Mühe und Gefahren ich auf mich genommen hatte, um hier und jetzt in diesem Taxi zu sitzen. Ich wurde sozusagen freiwillig dazu gezwungen. Was für ein lustiges Wortspiel.
Ich blickte aus dem Fenster. Wir fuhren entlang der Küste Richtung Seltjarnarnes, eine wunderschöne Gemeinde direkt an Reykjavik angrenzend. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause hatte ich mich nur anhand von Bildern und Onlinerecherchen sofort in diese Halbinsel verliebt. Was Seltjarnarnes wirklich auszeichnete war, dass die Halbinsel fast gänzlich vom Meer umgeben war. Die malerischen Küstenwanderwege und der unendlich weite Panoramablick auf die Berge luden zum Träumen ein.
Das definitive Highlight war der Grótta-Leuchtturm, der als einer der besten und schönsten Aussichtspunkte Reykjaviks gilt, sowohl für die Beobachtung der Nordlichter im Winter als auch für die Sommernachtssonne in der wärmeren Jahreszeit; Zudem galt er auch als Oase der Vogelvielfalt, da auf Seltjarnarnes bereits über mehr als 110 unterschiedlichen Vogelarten registriert wurden. Viele Touristen berichteten zudem darüber, dass man von den Pfaden aus die gut genährten Robben an den felsigen Stränden liegen sehen und, manchmal auch Wale beobachten konnte. Für eine Naturliebhaberin, wie ich es war, klang das wie ein Märchen. Ich konnte es einfach nicht erwarten, dieses Naturschauspiel mit eigenen Augen zu beobachten.
Von Beruf war ich Meeresbiologin. Ich hatte nicht nur Meeresbiologie studiert, sondern lebte es auch. Mein Beruf war zu Berufung geworden. Der Schutz der Meere – und besonders der Widerstand gegen das brutale Abschlachten von Delfinen und Walen – war für mich inzwischen zum Lebensmittelpunkt geworden. Mein letzter Job im „Haus des Meeres“, inmitten der Großstadt Wien, konnte mir auf Dauer keine Befriedigung verschaffen. Fische gehörten ins Meer, nicht in einen Schaukasten. So viel stand fest. Ein Grund mehr, endlich ans Meer zu ziehen. Die Leidenschaft direkt vor der Nase zu haben und sie jeden Tag aufs Neue erleben zu dürfen.
Wir fuhren weiter. Die weiße, tief verschneite Landschaft zog an uns vorbei. Alles schien so friedlich und verschlafen. Ja, es konnte einfach nur gut werden. Nirgendwo sonst als hier, auf dieser wunderbaren Insel, wäre ein Neubeginn besser denkbar gewesen. Hier würde mich niemand finden, niemand mehr verletzen oder mir mehr wehtun. Hier war ich richtig. Ich würde ganz von vorne anfangen, mich um eine neue Arbeitsstelle kümmern und mein Erspartes wohlüberlegt einteilen. Einen Gang zurückschalten und die Dinge in meinem Kopf neu ordnen, mir mehr Raum zum Atmen geben, um dieses Mal die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich war jetzt auf mich alleine gestellt, stand seit Langem erst mal wieder auf eigenen Beinen. Es fühlte sich verdammt gut an!
»So, wir sind da. Das macht dann 289 Kronen«, riss mich der Taxifahrer aus meinen Tagträumen.
»300, stimmt schon.« Ich reichte ihm das Geld und stieg aus dem Taxi. Mann, oh Mann, ein ganz stolzer Preis. Kein Wunder, dass ich nicht allzu viele Taxis auf dem Weg hierher gesehen hatte. Der Bus wäre sicherlich um einiges günstiger gewesen.
Mit einem »Viel Glück und herzlich willkommen! Auch wenn es sehr kalt und rau aussehen mag, wir Isländer tragen das Feuer immer im Herzen«, verabschiedete er sich.
Das Taxi setzte sich in Bewegung und fuhr langsam davon.
Ich blieb alleine am Gehsteig stehen und sah ihm nach. Es fing an zu schneien. Ich blickte hinauf zum Himmel und schloss entspannt meine Augen. Ich spürte, wie die Schneeflocken mein Gesicht berührten und auf meiner warmen Haut dahinschmolzen. Da ich keine große Eile hatte, genoss ich dieses Gefühl eine Zeit lang. Ich war da. Ich hatte es geschafft. Die gesamte Vorarbeit hatte sich letztendlich gelohnt. Ich schlug ein neues Kapitel auf, die erste Seite eines neuen Buches. Meines Buches.
Tessas Buches.