Читать книгу Meerhabilitation - Oana Madalina Miròn - Страница 7
Оглавление4 Tessa
Die darauffolgenden Tage verliefen Gott sei Dank komplikationslos. Keine Unfälle, keine Stürze, keine Hormone. Ich hatte es endlich geschafft, meinem neuen Zuhause eine eigene Handschrift zu verpassen. Einige Dekorationselemente, neue Vorhänge, Zimmerpflanzen und vor allem viele, gute Bücher. Ich fühlte mich mittlerweile so wohl, dass ich das Haus nur mehr für die notwendigsten Besorgungen verließ. Ich genoss meine neu gewonnene Freiheit und vor allem die Ruhe.
Mein Alltag bestand hauptsächlich darin, es mir jeden Tag mit zwei, drei Büchern auf der Fensterbank gemütlich zu machen, mich in meine Kuscheldecke einzumummeln und literweise grünen Tee zu trinken. Ich las viel über die Geschichte Islands, den rauen Norden. Über den Lebensraum in der ewigen Kälte und die Kompromisse, die die Menschen hier Tag für Tag mit der Natur eingehen mussten, um zu überleben. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wie vielfältig und beeindruckend Flora und Fauna hier waren. Alles war neu für mich und so hatte ich viel zu entdecken.
Diese Ruhe hatte mir sehr gefehlt. Für Außenstehende musste ich wie eine Schmetterlingspuppe in einem Kokon aussehen, bereit für die Metamorphose. Meine Verwandlung hatte bereits begonnen, war aber noch lange nicht vollbracht. Solch eine Entwicklung brauchte viel Zeit und Geduld, genau wie meine geschundene Seele.
Ich dachte manchmal auch über Haustiere nach, vielleicht eine Katze oder ein Frettchen, doch solange ich noch keine Arbeit hatte, konnte ich diese Entscheidung noch ein wenig aufschieben. So weit war ich noch nicht. Ich wollte mich nicht schon wieder binden. Weder emotional noch vertraglich. Meine Wunden mussten erstmal heilen, die Narben waren noch viel zu frisch.
Nichtsdestoweniger durchforstete ich gelegentlich die Stellenausschreibungen in der Lokalzeitung. Ich sollte wirklich mal in Erwägung ziehen, mir ein Tablet zu kaufen und online zu gehen. Das würde mir einiges erleichtern. Die Digitalisierung war ein Segen, doch gleichzeitig auch ein Fluch. Sollte ich meinen Namen ändern lassen? War das wirklich notwendig?! Es war unbeschreiblich schwer, das Geschehene zu vergessen und gefühlsmäßig neu anzufangen. Doch wie hieß es so schön? Die Zeit würde alle Wunden heilen, sogar meine …
Es wurde schon spät! Ich ging langsam zu Bett und wusste, dass es nicht besonders lange brauchen würde, bis ich eigeschlafen war. Das tat es nämlich nie. Die tiefe Müdigkeit ließ mich jede Nacht augenblicklich abdriften.
***
[ Mit seiner flachen Hand verpasste er mir eine. Die Ohrfeige traf mich mit so einer Wucht, dass mein Kopf hin- und herwackelte.
»Baaaam!«
Ich sah bunte Sterne vor meinen Augen flimmern. Weiße Punkte tanzten in meinem Kopf. Ein stechender Schmerz durchzog meine linke Wange und hinterließ ein brennendes Gefühl auf meiner Haut. Ich hielt inne und sah ihn einfach ausdruckslos an. Ich spürte, wie das Blut aus meinen Wangen wich.
Instinktiv trat ich einen Schritt zurück.
»Tessa«, hauchte er.
»Das tut mir leid. Oh, mein Gott, das tut mir leid …«
Ich stand nur da und war wie versteinert. Meine Beine fühlten sich wie Blei an. Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl meine innere Stimme mich anschrie: »Lauf! Lauf weit weg!«
»Bitte entschuldige! Mir ist vor lauter Zorn die Hand ausgerutscht«
Er kam auf mich zu, umarmte mich fester, als es mir lieb war, und presste wortwörtlich die Luft aus meinen Lungen. Mir wurde schlecht. Übelkeit kam in mir hoch.
»Hannes, was hast du getan?«, hauchte ich ihm so leise ins Ohr, dass es kaum hörbar war. Instinktiv griff ich zu der pochenden Stelle in meinem Gesicht. Schmerz, lass nach!
»Ich weiß nicht. Ich wollte dir nicht wehtun. Bitte glaub mir. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!?«
Seine panische Stimme überschlug sich fast.
Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, packte meine Schultern und hielt mich eine Armlänge von ihm entfernt fest, sodass ich ihn ansehen musste. Eigenartig, wie sich seine Mimik ständig veränderte, fast im Sekundentakt.
Mein Mann hatte mich gerade geschlagen. Es hatte mir eine verpasst. Hannes war zum ersten Mal gewalttätig geworden. Ich stand einfach nur da und brachte kein Wort heraus. Eine Träne kullerte die rechte Wange hinunter, ansonsten blieb mein Gesicht ausdruckslos. Ich wusste auch nicht, warum ich weinte … Ich war einfach nur schockiert, dass ich momentan gar nicht wusste, wie mir geschah. Ich konnte keine Emotion, keine einzige Regung zeigen. Ich kam mir vor wie im falschen Film. So etwas hört oder sieht man nur im Fernsehen, aber einem selbst kann so was einfach nicht passieren. Nein, so was konnte MIR doch nicht passieren!
Er atmete tief aus, nahm mich erneut im Arm und begann mich langsam wie ein kleines Kind hin und her zu wiegen, das von der Mutter in den Schlaf geschaukelt wird …
Ich drehte meinen Kopf zur Seite und übergab mich auf dem Fußboden.]
***
Ich fuhr hoch! Ich keuchte wie nach einem Tausendmeterlauf. Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Ich saß kerzengerade in meinem Bett und griff mir an die Brust.
Einatmen, ausatmen.
Ich versuchte mich zu beruhigen und meinen Puls zu entschleunigen. Ich hatte nur geträumt. Ich wusste, dass mich meine Dämonen wieder heimsuchen würden. Sie fanden mich immer, egal, wohin ich floh. Schade, ich dachte, es würde länger dauern, bis sie mich hier finden würden.
»Ruhig, Tessa, beruhige dich wieder. Du hast nur schlecht geträumt«, flüsterte ich mir leise zu. Ich hatte gehofft, dass ich die Albträume loswerden würde. Ich dachte, dass es endlich vorbei wäre, doch da hatte ich mich offensichtlich getäuscht.
Ich musste anscheinend mit meiner Vergangenheit leben, musste immer noch mit ihm leben, obwohl ich ihn aus meinem Leben bereits verbannt hatte. Verlassen hatte. Verabscheut und gehasst hatte.
Ich stieg aus dem Bett, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Ich fasste mir hinters Ohr und berührte die zarten Narben, die zum Glück von meinen langen Haaren verdeckt wurden. Ich ließ meine Finger langsam entlanggleiten und schloss die Augen. Ich ging in die Knie, sank auf dem Fußboden zusammen, und fing an zu weinen. Ich weinte bitterlich, meine Tränen tropften auf dem Fußboden. Sanft umfasste ich meine Knie, kauerte mich in der Embryonalstellung zusammen und blieb einfach so liegen. Irgendwann schlief ich wieder ein.
Stunden später wachte ich in der gleichen ungemütlichen Position auf. Es war bereits früh am Morgen. Ich versuchte, mich auf dem Boden auszustrecken und hörte meine Knochen knacken. Jeder einzelne Knochen tat mir weh. Das war doch keine so gute Idee, meine Schlafstätte auf den Fußboden zu verlagern.
Die letzte Nacht steckte mir noch wortwörtlich in den Knochen. Ich beschloss, aus dem angebrochenen Tag das Beste zu machen. Ich nahm mir vor, entlang der Küste spazieren zu gehen, um mir den Kopf vom Wind mal richtig durchpusten zu lassen. Auf anderen Gedanken zu kommen und versuchen, mal nicht an die Vergangenheit zu denken. Was geschehen war, konnte ich nicht mehr ändern.
Ich packte mich warm ein, nahm meinen Parka vom Hacken, zog meine gefütterten Boots an und machte mich auf den Weg nach draußen.
In den letzten Wochen konnte ich den Wetterumschwung deutlich spüren. Der Frühling ließ nicht mehr lange auf sich warten, der Wind wurde schon deutlich wärmer. Die letzten Wochen waren so schnell vergangen. Ich war so sehr mit der Renovierung und Hausverschönerung beschäftigt, dass ich es kaum mitbekommen hatte, wie schnell die Zeit bereits vergangen war.
Ich folgte dem Trampelpfad, der sich die gesamte Küste entlangschlängelte. Der unglaubliche Weitblick und diese Nähe zum Ozean raubten mir jedes Mal den Atem. Nirgendwo sonst hätte ich lieber sein wollen, das stand fest. Ich nahm mir fest vor, auch mal zum Leuchtturm hinauszugehen, doch heute musste ich mich mit der Küste begnügen.
Mittlerweile konnte ich deutlich spüren, wie mich dieser bezaubernde Ort zu heilen begann. Ich wurde stärker und bald hatte ich meine ursprüngliche Form wiedererlangt. Die Gedanken waren neu sortiert und tief in mir keimten bereits einige Ideen auf. Ich hatte vor, mir einen Laptop oder ein Tablet zu besorgen, wollte wieder regelmäßig zum Joggen anfangen und mich möglichst bald nach einem Job umsehen. Meine Ersparnisse hatte ich, bis auf den letzten Autokauf und die Monatsmieten, die so gesehen recht niedrig ausfielen, nicht wirklich strapaziert, doch langsam sehnte ich mich nach einem sozialen Umfeld. Ich wollte mir neue und aufregende Ziele setzen, vielleicht blieben dann auch meine Albträume aus. Irgendwann könnte ich eventuell auch wieder ein wenig Nähe zulassen.
Gedankenverloren setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich steckte meine Hände in die Taschen und wärmte sie ein wenig auf. Der Wind hatte zugelegt und verwehte meine langen Haare in alle Himmelsrichtungen. Ich genoss diese Freiheit und angenehme Ruhe.
»Wuff! Wuff!«
Ein lautes Hundegebell entriss mich meiner Gedankenwelt. Ich schaute mich um und sah einen schwarzen Labrador, der am Strand quietschvergnügt die Wellen anbellte. Er spielte mit ihnen, lief ihnen nach, um dann plötzlich doch wieder davonzulaufen.
»Was, zum?!«
Ich eilte hinunter zum Strand. Ich sah weit und breit keine einzige Menschenseele. Ich kniete mich nieder und redete auf den Hund ein.
»Hey, Großer. Was machst du hier draußen ganz alleine? Warte mal, kennen wir uns nicht?«
»Wuff!«, bellte er zurück, setzte sich brav vor mich hin und schaute mich an. Er neigte seinen Kopf zur Seite und seine schwarzen Knopfaugen fixierten mich, als wollte er mich hypnotisieren.
Ich kraulte seinem Kopf und sah an seinem Halsband ein goldenes Medaillon baumeln. Ich konnte deutlich den Namen lesen.
– MAGNUS –
»Magnus! Was machst du denn hier?«, fragte ich ihn verdutzt. Ich war so erfreut ihn wiederzusehen, dass die gesamte Situation schon ein wenig seltsam schien. Schwanzwedelnd schleckte er mir wieder das ganze Gesicht ab.
»Haha, hör auf, ich habe heute schon geduscht«
Kichernd versuchte ich mich zu wehren, jedoch mit mäßigem Erfolg. Seine Freude, mich wiederzusehen, war nicht zu bremsen. Ich stand wieder auf und sah mich gründlich um. Weit und breit keine Menschenseele.
»Hallo?! Halloooo?! Ist da jemand? Raik?!«, rief ich, so laut ich konnte. Keine Antwort. Ich ging mit Magnus den halben Strand entlang und hielt nach seinem Herrchen Ausschau. Oder nach seinem Frauchen? Gab es überhaupt ein „Frauchen“? Oder ein zweites „Herrchen“? Warum hoffte ich insgeheim, dass es weder das eine noch das andere gab? Magnus folgte mir auf Schritt und Tritt, eine Leine brauchte ich nicht. Man konnte deutlich erkennen, wie gut dieser Hund folgte.
»Süßer, so kommen wir heute einfach nicht weiter. Entweder bist du ausgebüxt, oder dich hat dein Herrchen einfach ausgesetzt«, sagte ich liebevoll zu ihm, wobei die zweite Theorie nicht wirklich ernst gemeint war. Magnus sah mich an und legte seinen Kopf schief zur Seite. Meine Güte, dieser Hund war erstaunlich, als könnte er mich verstehen.
»Komm, wir gehen erst mal zu mir und wärmen uns ein wenig auf. Hier draußen kannst du nicht bleiben«, schlug ich ihm vor.
Wir machten uns wieder auf den Weg zurück nach Hause. Langsam fing es zu nieseln an und es wurde ein wenig ungemütlich. Der feine Regen verwandelte sich in kürzester Zeit zum Schneeregen und ich merkte, wie ich allmählich zu frieren begann. Magnus tapste freudig neben mir her, seine Ohren wippten im Takt.
Zuhause angekommen, ließ ich ihn rein, trocknete sein feuchtes Fell mit einem Handtuch ab und ließ ihn mal schnuppern, um die neue Umgebung zu erkunden.
»Ich nehme an, du bist stubenrein?!«, scherzte ich, hoffte allerdings inständig, dass es so war. Magnus fing an seine Erkundungsrunde zu drehen, schnüffelte an einigen Möbelstücken, und hops, war er schon auf der Couch.
»Aha, so einer bist du«, sagte ich lachend ihm zu.
Dieser Hund wusste anscheinend ganz genau was er wollte. Ich ging in die Küche und holte ihm eine Schüssel frisches Wasser. Als ich zurückkam, sah ich, wie er schon tief und fest auf dem Sofa eingeschlafen war. Der Ärmste, die Erschöpfung war ihm schon auf dem Nachhauseweg deutlich anzusehen, wer weiß, wie lange er schon alleine unterwegs gewesen war? Ich stellte die Wasserschüssel leise auf dem Boden ab und gönnte ihm etwas Ruhe.
Nun stellte sich die Frage, wie ich Raik ausfindig machen sollte? Ich kannte keine Adresse, keine Telefonnummer, nichts, wie ich ihn erreichen konnte. Das Einzige, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass er Tierarzt von Beruf war, in Reykjavik gab es allerdings mit Sicherheit viele Tierärzte.
Nach langem Überlegen fiel mir dennoch ein, was zu tun war.