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III. Die Bibel aufschlagen 1. Wo anfangen, wo aufhören?

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Viele sagen: Die Bibel aufschlagen – gut und schön. Aber erstens ist sie mir zu dick. Zweitens weiß ich gar nicht, wo ich dort anfangen und aufhören soll. Drittens kommen mir viele Texte darin ziemlich altertümlich und unverständlich vor. Und viertens ist mir der Grundsatz „allein die Schrift“ viel zu verkopft. Außerdem interpretiert jeder sowieso in die Bibel hinein, was er will. Da lass ich die Bibel gleich lieber zugeschlagen, gucke mir eine schöne gotische Kirche an oder suche den lieben Gott im Wald oder bei einem spirituellen Seidenmalkurs in der Toscana. Starker Tobak. In der Tat mag man manche Gründe gegen das Lesen der Bibel vorbringen. Aber zu Recht? Wir wollen versuchen, den genannten Einwänden Schritt für Schritt ein wenig nachzugehen.

Niemand wird abstreiten, dass die Bibel ein dickes Buch ist. Aber gilt dasselbe nicht auch von einem Dostojewski-Roman oder einem Harry-Potter-Band? Wem wirklich an der Lektüre eines Buches gelegen ist, der wird sich auch von seinem Umfang nicht abhalten lassen. Ganz im Gegenteil: Er wird vielleicht sogar bedauern, dass das Buch irgendwann – „leider“ – schon zu Ende ist. Doch die Bibel verlangt von sich aus gar nicht, sie von der ersten bis zur letzten Seite vollständig durchzulesen. Die Bibel ist ja kein in sich geschlossener Roman mit einer fortlaufenden, zusammenhängenden Handlung. Sie ist vielmehr eher eine Art Sammelband von sage und schreibe 66 einzelnen Schriften, die man durchaus auch je für sich genommen lesen kann. Die längsten von ihnen umfassen gerade einmal etwa 50 Seiten. Das ist zu schaffen. Die allermeisten der übrigen Schriften sind ohnehin sehr viel kürzer. Im Unterschied zu einem Roman besteht hier jedenfalls kein Zwang zur Vollständigkeit. Nein, an der Dicke allein kann es nicht liegen, wenn Menschen sich vor dem Aufschlagen der Bibel drücken. Aber woran dann?

Vielleicht, weil man nicht weiß, mit welcher Schrift man anfangen soll? Da ist etwas dran. Doch könnte an dieser Stelle hilfreich sein, dass die biblischen Schriften überaus verschieden sind. Fast alles, was es auch sonst an literarischen Gattungen gibt, ist dort anzutreffen: spannende Erzählungen und nüchterne Gesetzestexte, zu Herzen gehende Gebete und anrührende Gedichte, trockene Abhandlungen und leidenschaftliche Briefe, um nur einige zu nennen. Das könnte bei der Frage, mit welcher Schrift man anfangen soll, eine Hilfe sein. Jeder hat ja beim Lesen so seine Vorlieben. Der eine mag lange Romane, die andere bevorzugt eine bündige Kurzgeschichte. Der eine liebt bildreiche Lyrik, die andere ein informatives Sachbuch. Warum nicht auch beim Lesen der Bibel mit einem Text beginnen, der einem schon von seiner Form her eher liegt? Manch einer hat gute Erfahrungen etwa mit dem Markusevangelium gemacht. Andere mit dem ein oder anderen alttestamentlichen Psalm. Wieder andere mit einzelnen Erzählungen etwa aus dem ersten Buch Mose. Im Grunde ist es egal, wo und mit welcher Schrift wir in der Bibel anfangen. Wenn wir sie nur wirklich einmal aufschlagen wollten, so würden wir rasch die Erfahrung machen, dass man sich auch bei ihrer Lektüre durchaus „festlesen“ kann.

Damit sind wir beim nächsten kritischen Punkt: der biblischen Sprache. Vielen erscheint sie altertümlich und häufig auch unverständlich. Auch da ist natürlich etwas dran. Doch sollte man sich fairerweise klarmachen, dass die Schriften der Bibel ja nicht erst gestern, sondern vor vielen Jahrhunderten verfasst worden sind, genauer etwa im Zeitraum zwischen dem 9. Jahrhundert vor Christus und dem Jahr 150 nach Christus. Auch mit anderen alten Texten tun wir uns mitunter ein wenig schwer. Niemand wird ja erwarten, dass wir die Sprache etwa eines althochdeutschen Zauberspruchs, eines barocken Liebesgedichts oder einer philosophischen Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert auf Anhieb verstehen.

Dieser Sprung in eine andere Sprach- und damit nicht selten auch andere Vorstellungswelt wird uns also auch anderen Orts abverlangt. Ohne ein wenig Mühe geht es beim Lesen bestimmter Texte eben nicht ab. Bei den biblischen Texten kommt nun erleichternd hinzu, dass es – im Unterschied zu anderen historischen Texten – mittlerweile eine ganze Reihe von neueren Übersetzungen gibt, die weitgehend der Gegenwartssprache angeglichen sind. Manche von ihnen sind zudem auch mit hilfreichen Erklärungen am Rande versehen. Jede Pfarrerin und jede gute Buchhandlung können einem hier unschwer einen brauchbaren Tipp geben.

Damit kommen wir zum Vorwurf der „Verkopfung“. Er wäre sicher berechtigt, wenn es beim „sola scriptura“ um nichts anderes als ein bedrucktes Stück Papier ginge. Mit „Schrift“ ist beim „sola scriptura“ aber nicht in erster Linie ein bestimmter Gegenstand, sondern sein Inhalt gemeint. Egal, ob dieser Inhalt durch eigene Lektüre oder gegenseitiges Vorlesen, in Form einer sachgerechten Nacherzählung oder – warum nicht? – auch einmal mit Hilfe eines Bildes, eines Spiels, einer Musik oder eines Films zur Kenntnis genommen wird. Zu Zeiten des Mittelalters, als die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, galten die biblischen Darstellungen in den Kirchen als „biblia pauperum“, als „Bibel der Armen“. Das „sola scriptura“, also das Aufschlagen der Bibel, wäre völlig missverstanden, wollten wir es von einer bestimmten kulturellen Fähigkeit, eben der des Lesenkönnens, abhängig machen. Kindern im Kindergottesdienst wird die biblische Botschaft vor allem erzählt. Und manch ein glaubensferner Mensch ist etwa durch ein biblisches Musical oder eine Bach-Kantate neu auf den Inhalt der biblischen Botschaft aufmerksam geworden. Wenn in der Evangelischen Kirche der Grundsatz „allein die Schrift“ gilt, so nicht, um einen sozusagen „papierenen Götzen“ aufzurichten, sondern nur, um auf eine Botschaft hinzuweisen, die wir uns nicht selbst sagen können. Mit „Verkopfung“ hat das zunächst einmal gar nichts zu tun, auch wenn es beim Aufschlagen der Bibel sicher nicht verboten ist, auch einmal seinen gesunden Menschenverstand einzuschalten. – Bleibt ein vorläufig letzter Einwand.

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