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3. Keine falsche Scham

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Mit „allein die Schrift“, d. h. mit der Bindung an die Botschaft der Bibel, ist nun eine wichtige Weichenstellung gerade auch in der Auseinandersetzung mit Menschen anderer Konfessionen, Religionen oder Weltanschauungen vollzogen. Evangelische Christen werden sich heute an dem Streit um die Wahrheit nur sinnvoll beteiligen können, wenn sie sich dieses einzigen, wenn man so will: „Mediums“, nämlich der Bibel, bedienen. In der ökumenischen Begegnung, im christlich-jüdischen Gespräch, im interreligiösen Dialog wird es nicht darum gehen können, wer Recht hat – ein fruchtloses und, wie uns die Geschichte lehrt, auch häufig gefährliches Unterfangen. Es wird evangelischerseits in solchen Begegnungen nur darum gehen können, wieder und wieder die Bibel aufzuschlagen und also darauf zu verweisen, wo unserer Glaubensüberzeugung nach die Wahrheit zu finden ist.

Evangelische Christenmenschen werden aber nicht nur bei solchen Begegnungen, sondern vor allem in ihren eigenen Reihen wieder und wieder die Bibel aufzuschlagen haben. Sie werden deshalb auch selbstkritisch zu fragen haben, wo und mit welcher Ernsthaftigkeit das überhaupt noch in ihrer Kirche geschieht. Gewiss wird in jedem evangelischen Gottesdienst mindestens ein biblischer Text verlesen. Aber ist die Predigt wirklich immer dazu angetan, die Botschaft dieses Textes deutlich, lebendig und gegenwärtig werden zu lassen? Tritt da nicht manches Mal irgendeine hübsche Alltagsgeschichte, irgendeine Allerweltsweisheit, irgendein betulicher Zeigefinger an die Stelle dessen, was der Text nun einmal von sich aus sagen will? Ich kann mich jedenfalls an manch einen Ostergottesdienst erinnern, in dem mir mehr über aufsprießende Maiglöckchen als über den auferstandenen Christus mitgeteilt wurde.

Auch wird man selbstkritisch fragen müssen, welche Rolle die aufgeschlagene Bibel auch sonst noch im Leben eines evangelischen Christenmenschen und im Leben einer evangelischen Gemeinde spielt. Gewiss mag manch einer morgens die Tageslosung mit ihren jeweils zwei Bibelversen lesen. Gewiss mag es hier und da Bibelkreise geben. Gewiss mag zu Beginn einer Presbyteriumssitzung oder eines Frauenhilfenachmittags der Wochenspruch verlesen werden. Aber ist es wirklich so, dass die evangelische Gemeinde in ihrer Breite von der lebendigen Begegnung mit den biblischen Texten lebt? Ist die Bibel in der evangelischen Kirche ein wirklich aufgeschlagenes, also ein zugängliches, gelesenes und ernsthaft bedachtes Buch und nicht nur ein Topf mit Sprüchen, in den man bei besonderen Gelegenheiten gerne hineingreift? Ist die Bibel wirklich ein Buch, das mit uns geht, mit uns lebt, uns täglich tröstet, ermutigt, vielleicht auch einmal heilsam irritiert und zurechtweist? Ist es für eine evangelische Gemeinde nicht beschämend, sich von einem dezidiert atheistischen Dichter wie Bertolt Brecht auf die Frage, welches das von ihm am meisten gelesene Buch sei, sagen lassen zu müssen: „Sie werden lachen, die Bibel“?

Nein, wir müssen uns der Bibel wahrhaftig nicht schämen. Vor und nach Brecht haben mancherlei andere Menschen – Dichterinnen, Maler, Komponisten, Psychologinnen, Politiker – die biblischen Texte als überaus „interessant“, als „spannend“ und nicht zuletzt auch als künstlerisch „inspirierend“ entdeckt. Nur wir finden sie langweilig. Da kann etwas nicht stimmen. „Allein die Schrift“ heißt heute: Für eine evangelische Gemeinde muss die nachhaltige Beschäftigung mit der Bibel, das Bibelgespräch, auch das kreative Umgehen mit biblischen Texten wieder selbstverständlich und regelmäßig werden und darf nicht länger bloß Spielwiese einiger weniger sein. Anregende Modelle und Hilfsmittel für einen lebendigen und eben auch interessanten und „öffnenden“ Umgang mit der Bibel gibt es mittlerweile zuhauf. Daran kann es also nicht liegen.

Oder ob die um sich greifende Bibelvergessenheit vielleicht noch ganz andere Gründe hat? Könnte es sein, dass uns ihre Botschaft einfach zu unbequem ist? „Die meisten Menschen haben Schwierigkeiten mit den Bibelstellen, die sie nicht verstehen“, sagt Mark Twain. „Ich für mein Teil muss zugeben, dass mich gerade die Bibelstellen beunruhigen, die ich verstehe.“

Was ist eigentlich evangelisch?

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