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EN348 Eine Zugfahrt durch die Nacht
Оглавление25. 10. 2006. 0.18 Uhr. Ina und Anna Lena sind in ihrem Schlafwagenabteil und ich sitze zwei Waggons weiter vorn auf einem normalen Platz zweiter Klasse. Es kann losgehen. Wir stehen im Bahnhof Frankfurt/Oder und warten auf das Abfahrsignal. Im Moment läuft wohl noch die Grenzkontrolle, da der „Euro Night“ — aus Warschau kommend — hier ganz in der Nähe das deutsche Hoheitsgebiet erreicht hat.
0.28 Uhr. Der Zug rollt endlich los in die Nacht. Richtung Berlin. Mit zehn Minuten Verspätung, die der Lokführer wahrscheinlich schnell wieder herausholt, bevor er irgendwann heute Nachmittag oder abends in Basel angekommen sein wird. Ich schließe die Augen und muss an meinen Artikel denken, der am 22. April diesen Jahres im Oderlandspiegel erschienen ist:
Sich in der Öffentlichkeit outen
Hallo, liebe Landsleute, ich wende mich heute an Euch, weil mir doch ein paar Sachen ganz schön zu schaffen machen. Als Beamter — wartet bitte mal ein paar Sekunden mit den Buh Rufen — im Justizvollzug gehöre ich wohl doch zur bürgerlichen Schicht.
Alle, die jetzt mit Neidgefühlen zu kämpfen haben, lade ich herzlichst ein, doch einfach eine Woche mit mir zu tauschen. Zu bieten habe ich jeden Tag acht Stunden Dienst, einhundertdreißig Kilometer Fahrt zur Arbeit und zurück; äußerst aggressive Gefangene; Insassen, die von der Straße weg geholt worden sind und völlig verdreckt im Delirium in ihren Zellen liegen und lebensmüde HIV-Infizierte ...
Seit fünfzehn Jahren gilt auch für uns Ostdeutsche das so genannte Grundgesetz und da heißt es, dass alle Leute gleichbehandelt werden sollen. Auch die Kinder. Und hier bekomme ich die ersten Bauchschmerzen ...
Warum? Eine gute Bekannte erhält als alleinerziehende Mutter Hartz IV und muss sich das Kindergeld als Einkommen anrechnen lassen. In ihrem Fall geht man sogar so weit, dass die minderjährige schulpflichtige Tochter rein theoretisch Unterhalt an die liebe Mama abzuführen hat, weil sie zu viel Knete vom leiblichen Vater erhält (der den gesetzlich vorgeschriebenen Betrag zahlt). Wahnsinn. Der Mutter werden acht Euro vom zustehenden Mindestbetrag abgezogen und da fragt man sich schon, ob das tatsächlich vom Gesetzgeber so gewollt ist. Die Kollegen Beamten berufen sich auf die Vorschriften und zucken lächelnd mit den Schultern. Da können wir eben nichts machen, sagen sie. Außerdem kann meine Bekannte ja Widerspruch einlegen. Na klar, das hat sie bereits vor einem Jahr getan und Insider wissen, dass der Hartz IV-Antrag alle sechs Monate neu gestellt werden muss ...
Nun fragt sich vielleicht jeder, warum mich so was bedrückt. Stimmt. Aber es gibt tatsächlich einen Zusammenhang: Als halbglücklich geschiedener Mann (der inzwischen eine neue Partnerin hat und jeden Monat fast fünfhundert Euro für den Sohn und die Ex aufbringen muss) wundert es mich schon, warum bei der Ehegattenunterhaltsberechnung das Kindergeld überhaupt nicht berücksichtigt wurde. Zumindest die Hälfte des Betrages hätte der Ex als Einkommen zugerechnet werden müssen. So viel zum Thema Gleichbehandlung.
Zum Schluss möchte ich noch einen Vorschlag machen: Man könnte doch jeden Hartz IV-Empfänger dazu verpflichten, sich in der Öffentlichkeit als Bedürftiger zu outen. Wie wäre es zum Beispiel damit: Diese Menschen tragen ab sofort einen rosafarbenen Stern auf der linken Brust? Einen Stern? Die Älteren von uns können sich bestimmt noch erinnern. So was gab es schon mal in Deutschland. Das hätte mehrere Vorteile. Man würde sofort die „Schmarotzer im Nadelstreifenanzug“ erkennen und jeder berufstätige Alleinstehende, der auf Partnersuche ist, wüsste gleich Bescheid.
Drei Tage nach der Veröffentlichung stellte mir ein Vertreter meines Dienstherren zwei Fragen, die ich so schnell wie möglich schriftlich beantworten sollte:
1. Wie kommen Sie dazu bzw. aus welchen Beweggründen stellen Sie die Situation im Strafvollzug so negativ dar.
Meine Antwort darauf lautete:
Allgemein ist bekannt, dass das Berufsbeamtentum in Deutschland derzeitig nicht das Ansehen genießt, dass es eigentlich haben sollte. Dazu trägt selbstverständlich bei, dass Presse und Rundfunk jede Gelegenheit nutzen, den Beamten als dumm und faul darzustellen. Möglicherweise liegt das auch daran, dass es im Lande immer noch wirtschaftlich bergab geht. So kommt bei denen, die schon lange arbeitslos sind oder ihr weniges Geld schwer verdienen müssen auch Neid auf: „Die liegen den ganzen Tag auf der faulen Haut und kriegen am Monatsanfang jede Menge Kohle für’s Nichtstun ...“
Doch nicht jeder Beamte verdient sein Geld tatsächlich im Schlaf. Deshalb machte ich in dem Artikel den Vorschlag, doch einfach mal eine Woche mit mir zu tauschen, Natürlich sind nicht alle Gefangenen äußerst aggressiv oder kommen völlig verdreckt im Gefängnis an und liegen dann im Delirium in ihren Zellen. Aber so was passiert. Ab und zu haben wir Gefangene, die randalieren oder so eingeliefert werden, wie es im Artikel beschrieben worden ist. Und wer mit mir tauscht, muss damit rechnen, dass er auch mit solchen Insassen zu tun haben könnte. Deshalb erfolgte die Aufzählung und es ist für mich nicht erkennbar, inwiefern der Vollzug als Behörde allein durch diese kurze Darstellung herabgewürdigt worden sein könnte. Außerdem geht es in dem Schreiben nicht um die Zustände im Gefängnis, sondern darum, wie Hartz IV-Empfänger behandelt werden.
Und:
2. Wie ist der von Ihnen gemachte Vorschlag zur Kennzeichnung von Hartz IV Empfängern zu verstehen?
Es gibt in Deutschland inzwischen wieder eine Bevölkerungsschicht, die mehr und mehr gesellschaftlich völlig ausgegrenzt wird. Hierbei handelt es sich um tatsächlich bedürftige Hartz IV Empfänger, die auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihres Alters einfach chancenlos sind. Die-
sen Menschen wird — und das ist in dem Brief beschrieben — das Einkommen gekürzt, wo es (entsprechend den geltenden Gesetzen) nur geht, während andere Leute Unterstützung erhalten, obwohl sie gar nicht bedürftig sind. Wie sonst kann man sich erklären, dass Hartz IV dem Staat viel mehr kostet, als vorher errechnet worden ist. Der Vorschlag, diese Leute zu kennzeichnen, ist natürlich nicht ernst gemeint. Mirgeht es darum, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Deshalb habe ich den satirisch gemeinten Vergleich gewählt. Ein rosafarbener Stern ist nicht gelb und die „Kennzeichnungspflicht“ würde mit einem Schlag auch diejenigen entlarven, die trotz fehlender Bedürftigkeit Stütze kassieren. Inwiefern ich als Angehöriger des öffentlichen Dienstes mich aus dem politischen Geschehen herauszuhalten habe, ist mir nicht bekannt. Mich beschäftigt nur die Frage, ob wirklich der Ruf des Vollzugsbeamten beschädigt wird, wenn man sich für Leute einsetzt, die nicht zu den Gewinnern der Gesellschaft gehören.
Am 09. Juni 2006 erhielt meine gute Bekannte einen sogenannten Abhilfebescheid. In diesem teilte man ihr mit, dass das Kind natürlich keinen Unterhalt entrichten muss. Das deshalb zu wenig gezahlte Geld überwies man rückwirkend für fünfzehn Monate. Sieben Tage später informierte mich ein Vertreter meines Dienstherren darüber, dass das (wegen dem Artikel) gegen mich eingeleitete Vorermittlungsverfahren eingestellt worden sei ...
01.20 Uhr. Berlin Ostbahnhof. Es ist faszinierend, wenn man mit ausgeschalteter Innenbeleuchtung durch die Nacht rast. Ab und zu blitzt es blau von der Fahrleitung herunter und so taucht die schnell vorbeihuschende Landschaft wie bei Fotoaufnahmen für Sekundenbruchteile vor den Augen auf und verschwindet auch sofort wieder im tiefdunklen Brei der pechschwarzen Nacht. Totale Finsternis um einem herum. Nur ein paar rote Pünktchen leuchten mehrere Sitzreihen vor mir und signalisieren, dass irgendwelche Geräte arbeiten oder betriebsbereit sind.
Das leise Sirren der Räder. Ab und zu ächzt der Waggon und wird mit kurzen, ruckartigen Bewegungen auf den stählernen Schienenstrang zurückgezwungen. Da muss man entweder tief schlafen oder gelassen nach draußen schauen, um keine Panik zu bekommen ... Rings um mich herum schnarchen die Leute (mit polnischem Akzent), doch mir macht es nichts aus, um diese Zeit wach zu sein. Als Schichtarbeiter bin ich Nachtdienste gewohnt ...
Gerade eben „fliegt“ der Bahnhof „Potsdam-Babelsberg“ am Fenster vorbei und sofort ist die Erinnerung da — an meine Zeit als Angehöriger des Grenzregiment 44 von 1979 bis 82: „Kompanie stillgestanden! Achtung, präsentiert das Gewehr! Ich befehle den Einsatz der zweiten Grenzkompanie zur Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zu Westberlin am 28. April von sechs Uhr bis zur Ablösung mit folgender Aufgabe: Grenzdurchbrüche in beiden Richtungen nicht zuzulassen; Grenzverletzer festzunehmen oder notwendigen Falls zu vernichten; die Ausdehnungen von Provokationen auf das Hoheitsgebiet der DDR zu verhindern sowie die Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet unter allen Lagebedingungen zu gewährleisten. Rührt euch! Militärkraftfahrer/Nutzer vortreten zur Belehrung!“ Gott sei Dank — unser Abschnitt Kleinmachnow-Zehlendorf; Dreilinden und Babelsberger Park am Ufer des Grieb-nitzsee lag ziemlich weit abseits vom Brennpunkt des Geschehens in Berlin Mitte. Hier gab es kaum Vorkommnisse und es kam nie dazu, dass ich auf irgendjemand oder irgendetwas schießen musste (außer beim regelmäßigen Training mit weißen Pappzielscheiben, die oft arg durchlöchert und notdürftig abgeklebt waren). Meine Gedanken schweifen ab:
Nach der Sterilisation:
Schmeckt das Sperma (ist es eigentlich noch SPERMA, wenn keine Samenzellen mehr darin rumschwimmen?) dann irgendwie anders oder genauso wie vorher? Um ehrlich zu sein: Gibt es Frauen, die das tatsächlich beurteilen können? Ist es vielleicht egal oder nicht?
Manche weiblichen Mitbürger schrecken vor der Flüssigkeit des Mannes zurück, weil sie befürchten, etwas Lebendiges zu verschlucken (wenn sie wüssten, wie viele Bakterien sich in einem einzigen Bio-Joghurt tummeln, würden sie vielleicht anders darüber denken) ... Außerdem: In der Belehrung über mögliche Folgen, die ich vor der Operation unterschreiben musste, stand nichts davon drin, dass mein „Saft“ danach besser oder schlechter schmecken könnte ...
03.55 Uhr. Hannover. Die „Stunde der toten Augen“ ist fast vorbei. Das Licht im Waggon geht wieder aus, als wir weiterfahren. Anfang September schrieb ich einen Artikel für Ina, der bis zum heutigen Tag von der Lokalpresse nicht veröffentlicht wurde. Warum?
Leute, wohin gehen wir eigentlich...?
Als aufmerksame MOZ-Leserin (Märkische Oderzeitung) sind mir in der Ausgabe vom 9/10. September 2006gleich zwei Artikel aufgefallen. Da wird einmal über den tragischen Tod einer fünfundsiebzig Jahre alten Frau berichtet, deren Tochter nach der Notfallalarmierung angeblich zwölf Minuten untätig dabei zusah, wie ihre Mutter starb ...
Der zuerst eingetroffene Rettungssanitäter meinte dann (vorwurfsvoll?):
„Sie werden doch wohl erste Hilfe geleistet haben?“
Einerseits weiß ich als Autofahrerin, dass beim Finden einer leblos scheinenden Person zuallererst die vitalen Lebensfunktionen überprüft werden müssen: Atmet der Mensch? Funktioniert der Kreislauf? Es sei denn, die Leichenstarre ist bereits eingetreten. Da bleibt doch eigentlich gar keine Zeit, um Fragen zu stellen ... In dem Moment interessiert nicht einmal, was dazu geführt hat, dass der Patient in diesem Zustand vorgefunden wurde. Unfall oder Herzinfarkt? Egal. Man muss so schnell wie möglich mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen ...
Außerdem sollte sich jeder Leser jetzt einfach mal vorstellen, dass in diesem Augenblick das eigene Kind oder der Vater sterbend vor ihm liegt ... Ganz plötzlich. Unerwartet. Ein grauenvoller Schock. Unvor-stellbar der psychische Druck, der sofort wie eine gewaltige Last auf den Schultern liegt.
Wie viele von uns würden in den ersten Sekunden völlig erstarrt sein und sich vor Angst nicht bewegen können?! Ehrlich — ich möchte den sehen, der ohne zu zögern und unbeschwert sagt: Also ich wüsste gleich, was zu tun ist und würde es auch unverzüglich machen.
Die Tochter rief den Notdienst an und hoffte darauf, ganz schnell Hilfe für ihre Mutter zu bekommen. Da vergingen für sie die Sekunden bestimmt genauso langsam wie sonst Stunden ...
In dem Artikel stand, dass die Frau beim Eintreffen des Rettungssanitäter bereits „eingeschlafen“war. Wer hat das eigentlich festgestellt? Wiederbelebungsmaß-nahmen müssen—so hat man mir es beigebracht — solange durchgeführt werden, bis ein Arzt vor Ort entweder übernimmt oder die Einstellung verfügt, weil der Tod bereits eingetreten ist ...
Wenn heutzutage tatsächlich ein Rettungssani diese Entscheidung eigenverantwortlichfällen darf, dann muss er doch überdurchschnittlich gut ausgebildet sein. Ich würde zum Beispiel nicht unterscheiden können, ob der Patient im tiefen Koma liegt oder tatsächlich tot ist ...
Des weiteren dürfte allgemein bekannt sein, dass die Beatmung und Herzdruckmassage sehr viel Kraft kosten - das gilt um so mehr, wenn man allein ist. Zwölf Minuten werden da erst recht zur Ewigkeit. Deshalb gehört mein ganzes Mitgefühl der Tochter und ihren Angehörigen ...
Falk Q. (Name geändert) hätte selbst der beste Notarzt — auch wenn er innerhalb weniger Minuten herbeigeeilt wäre - nicht mehr helfen können. Er sprang aus dem Fenster im fünften Stock, weil seine Wohnung zwangsgeräumt werden sollte. Der Mann wollte nicht auf der Strasse enden und tat es dann doch. Zumindest so lange, bis der Leichenwagen da war und ihn abholte ...
Und der Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder vermisst nun Sensibilität. Feingefühl? Anteilnahme? Von wem?
In dem ganzen Interview wird mit keinem einzigen Wort beschrieben, dass ein Hartz-IVEmpfänger überhaupt nicht in der Lage ist, alte Schulden (ob Miete oder irgendetwas anderes) abzuzahlen. Weil diese
Menschen nur den (von schlauen Leuten mit sehr gutem Einkommen) errechneten „totalen“ Mindestbehalt beziehen. Also die Summe, die gerade mal ausreicht, um zu überleben. Oder auch nicht ...
Jedenfalls bleibt da keinerlei Spielraum. Es kann kein einziger Cent zurückgelegt werden und jede offene Forderung ist dann eigentlich unpfändbar ...
Der Oberbürgermeister sagt, dass alles, was die offiziellen Stellen unternahmen, rechtens war. Ja — jeder hatte das Gesetz hinter sich und hielt sich getreu daran. Nur einer nicht . Oder gibt es bei uns inzwischen auch einen Selbstmordparagraph?
Mir als alleinerziehende Mama liegt noch ein Thema schwer im Magen. Das Kindergeld meiner Tochter wird bei der harzvierüblichen Bedarfsberechnung vollständig als Einkommen mit einbezogen und verliert damit schlicht seine eigentliche Bedeutung. Um es klar und deutlich auszudrücken: Anna Lena bezahlt mit ihrem Kindergeld die Hälfte unserer Miete ...
Dafragt man sich schon, in was für einem Staat wir eigentlich leben. Der seine Probleme zum Teil auf die jüngsten Bürger abwälzt, die für ihre Situation überhaupt nicht verantwortlich gemacht werden dürften, oder? Wäre es nicht sozial gerechter, wenn man sagt, dass die Eltern, die (noch) einen Beruf ausüben und dabei gut verdienen, alleinfür ihren Nachwuchs aufkommen (weil sie es ja auch können)? Oder würde solch ein Vorschlag zu viele Wählerstimmen kosten? Mir wird langsam richtig Angst und Bange, wenn ich an unser aller Zukunft denke ...
Schulterzucken. Ohnmachtsgefühl. Da fallen mir Reime aus dem Gedicht „Das Parteidokument (Noch einmal fünfzehn Jahre später)“ ein:
Verronnen ist die Jugend, zerstört das Ideal. Es bleibt ein Fünkchen Tugend und Angst vorm Kapital. Ich stehe nun am Wegesrand; schau in das Morgenrot. Nach „links“ der Pfad ist abgesperrt und rechts liegt „brauner Kot“ ...
Wohin wird dieser Karren mit der Aufschrift „Leben“ rollen? In eine Sackgasse? Aber bisher ging es mit der Menschheitsgeschichte immer weiter. Irgendwie. Irgendwann.
04.00 Uhr. Sekundenschlaf. Irgendwo in Niedersachsen: Haare:
Ich hatte bevor die Geschichte mit Ina anfing eine Freundin, die ... Ich wusste es nicht genau: Machte sie es mir mit den (überaus zärtlichen) Fingern, oder waren das ihre Lippen, die ihn ganz zart berührten und umschlossen? Kniend auf allen vieren über ihr war ich damit beschäftigt, mit der ganzen Zunge breit und genussvoll das zu lecken, was sie mir zwischen ihren weit gespreizten Schenkeln kräuselhaarig, feuchtrosazart, zitternd und fast ohne Scham darbot. Ehrlich — in dieser Position konnte ich wirklich nicht sehen, was sie mit mir anstellte. Egal, ob mit der Hand oder dem Mund. Es kam mir mit roten Blitzen vor den Augen und ich schaffte es gerade noch, sie zu warnen. (Stimmt: damals bei Carla war ich — leider? — nicht so höflich.)
Ruckartig und blitzschnell drückte sie ihn weg von der „Stelle“, wo er bis dahin gewesen war ... Und ging später nach Hause. Mit meinem Sperma im Haar (das sagte sie jedenfalls einige Tage danach und lächelte dabei nicht nur verlegen ...).
Mein Gott — sie hätte sich hier bei mir den Kopf waschen können. Aber vielleicht hatte ich nicht das richtige Shampoo (mit Samenentfernungslösung)? Ich kam auch gar nicht auf die Idee, ihr meine Dusche anzubieten, denn es war tatsächlich nichts zu sehen. Die langen schwarzen Haare glänzten wie immer und nahmen das, was da von mir war, völlig problemlos und unsichtbar in sich auf ... Es war ja auch kaum vorstellbar, dass vielleicht jemand daran gerochen (und es gemerkt) hätte, bis sie zu Hause ankam ...
Rauchen ist im Zug zwar verboten, aber zum Glück gibt es Fenster, die man durch Herunterschieben öffnen kann.
04.30 Uhr. Bielefeld. Rausch der Geschwindigkeit. Der Zug fährt so schnell, dass ich nur selten mitbekomme, welchen Ort wir gerade erreicht und sogleich wieder hinter uns gelassen haben.
05.15 Uhr. Hamm. Westfalen.
Frauen, die durch Kaiserschnitt entbunden worden sind:
Die Freundin mit den (nun längst wieder sauberen) Haaren hatte jedes mal wieder ein bisschen Angst, dass er nicht mehr reinpassen würde. So groß und steif wie er manchmal war. Aber es funktionierte immer. Da war zwar mehr Widerstand als sonst, aber wenn er drin war, gab es fast keinen Unterschied. Man musste am Anfang ein bisschen vorsichtiger sein, um ihr nicht zu sehr weh zu tun. Und es dauerte meistens nur wenige Minuten, bis ich mich nicht mehr zurückhalten konnte ...
Sie war die erste Frau in meinem Leben, die ich (oft) gleich nach dem Geschlechtsverkehr solange zärtlich liebkoste, bis auch sie leise schreiend explodierte und sich dabei entweder mit beiden Händen oder einem Kissen den Mund zuhielt (auch wenn beide Kinder außerhalb schliefen). Und sie verlangte kein einziges Mal von mir, dass ich zuerst die Lippen abwischte, bevor wir uns dann lange und innig küssten ...
05.29 Uhr. Dortmund. Auf dem Bahnsteig stehen Leute, die zusteigen wollen. In etwa einer Stunde wird die Sonne aufgehen und für viele Menschen beginnt dann der neue Tag. Ina hat bis eben neben mir gesessen und wir haben uns geküsst. Im Dunkeln. Nun ist sie wieder im Schlafwagenabteil bei Anna Lena. Sie will nicht, dass das Kind allein aufwacht und ängstlich die Mutter ruft.
05.40 Uhr. Bochum. Draußen ziehen die Lichter fremder Städte und Dörfer vorbei. Ich schaue gedankenversunken in die Nacht.
So geht es auch:
Geschlechtsteile können sich nicht nur miteinander vereinigen; man kann sie auch aneinander reiben. Zum Beispiel, wenn die Frau auf dem Schoss des Mannes sitzt und ihre Hüften schnell oder langsam hin- und herbewegt. Das ist wirklich irre. Sie zeigt sich in ihrer ganzen nackten Schönheit, verschränkt die Arme über dem Kopf (dabei werden die Brüste ganz leicht angehoben) und bestimmt den Rhythmus. Die Schamlippen öffnen sich mehr oder weniger weit, aber das kann man wegen dem engen Körperkontakt nicht sehen. Außer vielleicht wenn sie sich umdreht (also dem Partner den Rücken zuwendet) und den Oberkörper ein bisschen nach vorn beugt.
05.55 Uhr Essen. Hält der Zug jetzt wirklich alle fünfzehn Minuten? In knapp zwei Stunden müssen wir in Koblenz sein, um den Regionalexpress nach Saarlouis zu erreichen.
06.10 Uhr. Duisburg. Nach einem sehr kurzen Halt rollt der Zug weiter.
06.23 Uhr. Düsseldorf. Es ist immer noch richtig dunkel.
06.40 Uhr. Köln. Wir haben soeben den Rhein überquert. Ina steht neben mir am offenen Fenster und inhaliert tief den Rauch ihrer Zigarette. Was für ein Anblick: So viele Schiffe am Ufer inmitten der hell beleuchteten Innenstadt. Lichterketten. Die Nacht will einfach nicht weichen.
07.30 Uhr. Links vom Bahndamm erheben sich immer höhere Berge, während rechts ein breiter Fluss dahinfließt. Der Rhein? Ich weiß es wirklich nicht. Häuser stehen (vereinzelt) auch oben in den Hängen.
08.15 Uhr. Koblenz. Ankunft mit zwanzig Minuten Verspätung. Den Anschlusszug erreichen wir trotzdem. Der EN 348 ist nun weiter unterwegs in Richtung Frankfurt/ Main und wir werden hoffentlich kurz nach halb elf am Ziel unserer Reise angekommen sein.
Von einem, der es nicht geschafft hat:
Der Ärmste sucht heut klagend Trost, an jenem Punkt wo ich mal stand. Wie trotzig klingt sein lautes „Prost“—schallt hin und her, von Wand zu Wand ... Nun sucht er nicht mehr. Egal was. Mein Nachfolger — der TRAUM(ehe)MANN: Zu viel geraucht, noch mehr gesoffen, Herzinfarkt, hieß es (nicht im Nachruf). Statt Scheidungskos-tengab’sjetzt Witwenrente ...
Ich rief meine Freundin an und sagte:
„Genosse Schimmelhecht ist tot.“
„Wie? Wer? Was ist los?“
„Na der aus dem Persönlichen Nachruf‘.“
Da machte es ,klick ‘ bei ihr.
„Was meinst Du, kann ich das Gedicht trotzdem veröffentlichen. Eigentlich geht es ja nur um Corinna?“
Ina stimmte mir zu. Kurz und bündig:
„Lass es erscheinen.“
Ja — und nun? Mach’sgut Superersatzvatervorbildmensch du Unglücklicher (jetzt ja nicht mehr), murmelte ich leise für mich selbst vor mir hin. Die Erde drehte sich weiter. Und das wird sie auch tun, wenn ich nicht mehr da bin ...
10.44 Uhr. Saarlouis. Endlich — wir sind wohlbehalten angekommen. Ein paar Minuten später als geplant, aber dafür bot sich uns während der letzten Etappe dieser Fahrt ein wunderschönes, einmaliges Panorama:
Immer am Ufer der Mosel entlang rollend, passierten wir Ortschaften, die sich meist dicht an die recht hoch aufsteigenden Berge schmiegten. Farbenprächtige wie hingemalte Bilder zogen am Fenster vorbei und ich fragte mich nicht nur einmal, wie die Winzer ihre auf den steilen Hängen angepflanzten Weinfelder hegten und abernteten. Also — ich wäre an manchen Stellen ganz bestimmt nicht einmal zu Fuß hinaufgekommen ...
Da tauchte plötzlich eine ganz aus Stahlbeton gegossene Brücke auf. Geschätzte fünfzig Meter hoch und vielleicht einen Kilometer lang verband sie im leichten Bogen ausgeführt über das gesamte Tal hinweg zwei Bergkämme miteinander. Was für ein imposantes Bauwerk. Sie sah irgendwie zerbrechlich aus und stand da doch schon mindestens einige Jahre lang. Trotz Sturm, Eis und Regen ... (Drei Tage später erfuhr ich, dass dort immer wieder Selbstmordversuche stattfanden, die in allen Fällen tödlich endeten, wenn der Betreffende den Sprung in die Tiefe tatsächlich wagte.)
Einige grünbewaldete Erhebungen verschwanden im immer dichter werdenden Hochnebel und Anna Lena meinte dazu: Das sind Wolken, Mama. Was ja auch stimmte. Die Basis der untersten Schicht verlagerte sich aufgrund der aktuellen Umgebungstemperaturen nur langsam nach oben. Da wo es im Moment noch ein bisschen kälter war und wo außerdem die Luftfeuchtigkeit sehr hoch zu sein schien, wurde das Wasser (winzigste Tröpfchen, die sich an Staubpartikel angelagert hatten) kondensiert und somit „sichtbar“. Die Sonne musste noch kräftig scheinen, um diese Waberschwaden restlos aufzulösen. Aber in dem Moment war ich einfach zu müde und hatte keinen Bock darauf, vor dem Kind mit meinem vor sehr langer Zeit und sicher nur unvollständig erworbenen Segel-fliegermetereologiewissen herumzuprotzen.
Ich musste in dem Punkt sowieso vorsichtig sein, denn recht häufig gerieten mir solche Erklärungen zu ausschweifig und trocken. Und ich wollte ja kein griesgrämiger Schulmeister sein, der seine Zuhörer schnell tödlich langweilte. Manchmal reichte es eben aus, einfach wortlos mit dem Kopf zu nicken ...
Eine Burg tauchte auf. Wie im Märchenland. Bei klarer Sicht würde die atemberaubende Landschaft bestimmt noch viel mehr zur Geltung kommen. Weißgetünchte Häuser. Kirchtürme und die zahlreichen Berge, deren Spitzen nun leider in einem Wattebausch steckten ...
Es gibt keine Liebe mehr:
Warum? Jeder kann es heutzutage mit jedem treiben, lautet die These. Treibt es wirklich jeder mit jedem? Über sechzig Millionen Deutsche (diese Zahl ergibt sich daraus, dass die, die es noch nicht können und jene, welche auch mit Viagra keinen Ständer mehr hinbekommen, sowie auch solche, die wirklich keine Lust mehr darauf haben, abgezogen worden sind. Es ist natürlich nur eine grobe Schätzung) bräuchten dafür — vorausgesetzt ein Akt dauert (mit Vorbereitung) fünf Minuten; es sind immer nur zwei Menschen unmittelbar daran beteiligt und jede Vereinigung wird wegen der Registrierung (schließlich müsste die Angelegenheit ordnungsgemäß ablaufen, oder?) nach-einander vollzogen — etwa zweihundertfünfundachtzig Jahre. Selbst wenn die Aktion an tausend Orten gleichzeitig stattfinden würde (was für ein Organisationsaufwand wäre dafür nötig — Oh Gott, ich wage es mir gar nicht auszumalen), vergehen rund um die Uhr 105 Tage, bis alle es einmal mit jemanden gemacht hätten. Das hieße dann aber noch nicht, dass jeder mit jedem ... Dafür würde auch bei der ausge-klügelsten Variante ein Menschenleben niemals ausreichen. Und wer sagt denn übrigens, dass der Sex nicht auch länderübergreifend praktiziert wird?
11.00 Uhr. Auf der Fahrt vom Bahnhof in die Stadt fallen mir viele französisch klingende Ortsbezeichnungen auf. Kein Wunder — bis zur Grenze braucht man von hier aus mit dem Auto nur zwanzig Minuten. Meine Augenlider sind inzwischen so schwer, dass ich Mühe habe, wach zu bleiben. Nach dem Mittagessen werde ich mich hinlegen und zwei, drei Stunden schlafen ...
Saarlouis, 29. 10. 2006
Übrigens: Man erhält inzwischen den anteiligen „Nachwuchs“ steuerfreibetrag nur noch, wenn bei der Unterhaltszahlung auf die Anrechnung des halben Kindergeldes verzichtet wird. Das ist wirklich clever: Bei Hartz IV-Empfängern entstehen dem Staat durch die im Jahr 2010 erfolgte Zeugungsprämienerhöhung keinerlei Mehrkosten (denn sie wird ja — wie schon erwähnt — als Einkommen gegengerechnet) und nicht geringfügig beschäftigte Eltern haben nach der guten Tat unterm Strich letztendlich immer noch weniger Scheine im Portemonnaie als vorher ...