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Lena

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Es passierte knapp vier Wochen vor Weihnachten an einem Mittwochmorgen kurz nach dem Aufstehen. Der Kaffee stand dampfend rechts neben mir auf dem Computertisch und vor meinen Augen hob gerade Lufthansaflug 333 von der Bahn 7 rechts des Airport Schönefeld ab. Rot leuchtete der kleine Überziehwarnbalken auf und signalisierte mir, dass die Landeklappen noch nicht eingefahren werden durften. Erst musste die Geschwindigkeit stimmen. Da hörte ich es zum ersten mal trotz der relativ lauten Triebwerksgeräusche, die der Lautsprecher gerade im Originalsound wiedergab. Es klang wie ein leises, von weiter Ferne herkommendes, ja fast klägliches Miau ... Ich drehte den Kopf in Richtung Fenster und ... Sie saß im klirrenden Frost auf dem Sims; schaute mich durch die Scheibe an und miaute wieder.

Zuerst zuckte ich kurz mit der Schulter, denn es kam schon ab und zu vor, dass eine draußen herumstreunende Katze bei mir Rast machte, meist nur wenige Minuten lang. Aber irgendetwas war diesmal anders. Sie hob ihre Pfote und es sah fast so aus, als wenn das Tier absichtlich an das Fensterglas „klopfte“. Dann saß sie wieder still und schaute mich weiter an. Nun — in dem Augenblick gab es viel zu tun: Das Flugzeug wurde eben an Center Berlin „weitergereicht“ — die entsprechende Meldung musste abgesetzt werden; der Autopilot stand noch im IAS-Modus und auch der Kurs stimmte aktuell nicht mit den Vorgaben überein. Als alles wie gefordert eingestellt war und ich mich zurücklehnen konnte, saß die Katze immer noch da und mauzte leise ... Da war mein Interesse geweckt. Warum rannte sie nicht los, so wie die anderen, die mich schon besucht hatten?

Irgendwann nach einer Stunde beschloss ich, das Fenster zu öffnen — sie war ja immer noch da. Entweder suchte sie jetzt das Weite, oder ... Vorsichtig drehte ich den Hebel auf und war gespannt darauf, wie sie reagiert. Der Spalt reichte nun um durch zukommen und sie stand zögernd auf. Ein schönes Tier. Mittelgroß mit einem schwarzweißbraungestreiftem Fell und die grüne Augen beobachteten mich aufmerksam ...

Sie war darauf gefasst, sofort mit einem Satz zu verschwinden, wenn ich eine hastige oder verdächtige Bewegung gemacht hätte. Taps taps — zuerst lugte sie vorsichtig herein und schnupperte neugierig. Ich setzte mich einfach wieder an den Computer und wartete ab, was nun geschehen würde. Mit dem Flugzeug war alles in Ordnung — es erreichte gleich Flight Level Drei Zwei Null und düste dann mit Nullkommaachtzwei Mach in Richtung Athen weiter. Schwups — die Katze war drin und begann sofort mit kleinen Schritten meine Einraumwohnung zu erkunden. Bitte schön — da war nichts, was zu Bruch gehen könnte und ich ließ sie einfach machen. Miau miau. Das Fenster stand offen — sie hätte also wieder gehen können ... Aber sie dachte nicht daran und mauzte weiter. Na klar — das Tier hatte bestimmt Hunger ... Mein Kühlschrank war aber leer. Wasser? Ich holte ein Schälchen und stellte es gefüllt auf den Wohnzimmerteppich.

Sie beäugte es zögernd, aber das war es wohl nicht, was die Katze im Moment wollte ... Miau ... Ihre Augen sahen mich an. Ja o. k. Dann musste ich eben ins „Kaufland“ fahren und etwas holen. Und der Flug? Kurz entschlossen beendete ich die Simulation.

Es würde noch so oft möglich sein, im Cockpit eines Airbus A319 einfach mal von Berlin nach Griechenland zu fliegen ... Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Also zog ich mich an und machte mich auf den Weg.

Das Fenster blieb offen — vielleicht war sie ja gar nicht mehr da, wenn ich zurückkam? Na und — die paar Cent für die Whiskasbüchse hatte ich schon noch zusätzlich im Portemonnaie ... Als ich die Wohnungstür ins Schloss zog, klopfte mein Herz doch schneller: wartet sie tatsächlich auf mich? Ist das vielleicht der Anfang einer schönen Freundschaft? Können Menschen und Tiere überhaupt miteinander befreundet sein?

Auf dem Weg zum Markt erinnerte ich mich plötzlich an eine Szene, die sich mal vor vielen Jahren abgespielt hatte. Ich weiß — beim Autofahren sollte man auf den Straßenverkehr achten, aber die Bilder waren einfach da vor meinen Augen — ein Film mit leise gedrehtem Ton. Im Polizeibericht hätte vielleicht das Wort Sekundenschlaf gestanden, aber es passierte zum Glück nichts.

Damals brachte mein Vater abends nach der Arbeit eine kleine, ganz scheue Katze mit, die auf den Fußboden sprang, als er seine Jacke geöffnet hatte. Wir drei Jungs im Alter von fünf bis acht Jahren standen dicht gedrängt im Korridor und beobachteten mit großen Kulleraugen, was da geschah. Das winzige Wollknäuel mauzte und tapste unbeholfen hin und her. Selbst die hingestellte Schale mit frischer Milch wurde zunächst einfach ignoriert. Miau, Miau hörten wir immer wieder. Geht in euer Zimmer, hieß es dann. Das Tier hatte natürlich Angst, wenn so viele Menschen in der Nähe waren. Die ungewohnte Umgebung. Laute Stimmen. Jedenfalls gehorchten wir und versuchten heimlich weiter zuzuschauen. Jeder war mal dran und durfte einen kurzen Blick in die Küche werfen ... Leider musste unser neues Familienmitglied schon wenige Tage später die Wohnung wieder verlassen. Warum das so war und wohin die kleine Mieze gebracht wurde, erfuhren wir nie ... Schade ...

Nach dem Einkauf beschloss ich kurz bei Ina vorbeizuschauen. Auf dem Beifahrersitz lag eine fertig ausgefüllte Rätselzeitung, die ich meiner Freundin zurückgeben wollte. Falls sie gerade nicht zu Hause gewesen wäre, hätten wir uns — wie ab-gesprochen — aufjeden Fall zum Mittagessen getroffen. Aber ihre Tochter Anna Lena antwortete an der Sprechanlage und ließ mich rein ...

„Ich habe vielleicht eine richtig schöne — ja, so kann man es eigentlich fast schon sagen — Weihnachtsüberraschung .“ Die Augen des Kindes leuchteten neugierig auf. Auch Ina lächelte ... „Aber im Moment kann ich noch nichts verraten .“ Klar — wenn die Katze doch das Weite gesucht hatte, wäre die Geschichte gleich wieder zu Ende gewesen und es gäbe nicht mehr viel zu erzählen ...

Also spannte ich beide Mädchen ein bisschen auf die Folter und verabschiedete mich nach wenigen Minuten ... Jetzt nahte der entscheidende Moment. War meine kleine „Besucherin“ noch da oder hatte ich das Whiskas doch umsonst gekauft? Ich sprang ins Auto und gab Gas. Nach wenigen Minuten stand der Wagen bei mir auf dem Parkplatz ...

An der Wohnungstür war nichts zu hören und ich schloss leise auf. Zuerst sah es so aus, als wenn die Katze tatsächlich weg war. Aber es gab hier genügend Versteckmöglichkeiten und vielleicht tauchte sie ja auf, wenn ich das Futter neben den Wassernapf stellte ...

Als ich mich hinhockte und den Inhalt der Büchse mit einem Esslöffel auf dem kleinen Teller verteilte, mauzte es leise hinter mir. Sie war doch noch da.

Mich durchrieselte es warm. Schön ... „Miau“ (ich wusste ja noch nicht, wie sie heißen sollte; den Namen wollte ich später gemeinsam mit Anna Lena aussuchen) hatte ihre Entscheidung getroffen. Ich verriegelte das Wohnzimmerfenster und schaute zu, wie sie sich über die frischen Fleischstückchen hermachte. Von nun an würden wir beide — hoffentlich sehr lange; wer wusste das vorher schon so genau — miteinander zu tun haben und ich freute mich schon jetzt richtig darauf. Nach dem Mittagessen wollte Anna Lena gleich mitkommen. Na klar — die Katze ...

Deshalb verzichtete ich auf den Kaffee und wir fuhren so-fort los. Das Mädchen war hellauf begeistert und gleichzeitig ein bisschen skeptisch:

„Du, Gert — vielleicht ist sie ja irgendwo ausgebüchst und möchte bald wieder zu ihrer Familie zurück?“

„Ja ...“ antwortete ich nachdenklich, „... sie hat kein Halsband auf dem der Name steht und ...“ (mit ernster Miene) „... ich habe sie bereits gefragt. Das Tier hat immer nur Miau gesagt, doch im Telefonbuch gibt es keine Leute die Miau heißen ... Außerdem ist die Katze freiwillig zu mir gekommen und kann jederzeit wieder gehen, wenn sie das möchte .“ Anna Lena schmunzelte leise — offensichtlich gefiel ihr diese Regelung ganz gut ... Nun mussten wir nur noch einen Namen für das Tier finden und waren uns recht schnell einig. Warum? Keine Ahnung ... Lena passte einfach irgendwie. Ein kurzes weiches Wort. Wuschelfell wäre ja auch nicht schlecht gewesen, aber wer sagt — bitte schön — den ganzen Tag „Wuschelfell“ zu seiner Katze?

Das Kind erklärte mir dann, dass so schnell wie möglich ein Klo und die richtigen Futternäpfe besorgt werden müssten und nun war ich derjenige, der still vor sich hinlächelte und nickte. Selbstverständlich, kleine Dame ... dachte ich, ohne dies laut zu offenbaren. Kurz gesagt: ab diesen Moment gehörte Lena natürlich zu uns und ich malte mir schon aus, was mein Sohn Oliver dazu sagen wird, wenn er mich das nächste Mal übers Wochenende besucht ...

31. Dezember 2005. Vormittag. Es steht genügend Katzenfutter für Lena in der Küche; auch das Klo ist gereinigt und frisch aufgefüllt. Die süße Mieze sitzt gerade auf dem Fensterbrett und schaut nach draußen. Inzwischen hat sie auch ihre ersten „Entdeckungstouren“ absolviert und kehrte spätestens nach dreißig Minuten zurück. Jedes mal.

Deshalb gehe ich nun nach fast einem Monat davon aus, dass diese Geschichte zwar jetzt zu Ende geschrieben wird, aber eigentlich fängt sie gerade erst an ... Wenn Anna Lena und Oliver hier sind, faucht die Katze manchmal. Wahrscheinlich hat sie in ihrem früheren Leben schlechte Erfahrungen mit Kindern gemacht?

Das wird sich — im Laufe der Zeit — hoffentlich noch ändern ... Mit ein bisschen Zurückhaltung und liebevoller Zuwendung lässt sich da bestimmt eine Menge machen, oder?

Nun liegt die Süße — wie oft tagsüber — auf der kuscheligen Pferdebettdecke und schlummert friedlich vor sich hin ... Ich mache mir eine Tasse Kaffee und genieße den Anblick. In zwei Stunden gibt es Mittag bei Ina ... Das neue Jahr kann kommen — ich freue mich darauf ...

Eisenhüttenstadt, 31. 12. 2005. Für Anna Lena und Oliver.

Michaela. Erzählungen & Gedichte

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