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Lieber guter Weihnachtsmann
ОглавлениеEin Tag vor Weihnachten. Fast drei Jahre Beziehung liegen hinter mir und das Ende kam mit den Worten: „Du kannst mich mal ...“ und „Du Arsch“. Klick. Freizeichen im Telefonhörer ...
Und nun sitze ich hier mit meinem Sohn, der „Nintendo DS“ spielt. Es ist nicht unbedingt so, dass ich völlig am Boden zerstört bin, aber da drückt es doch schon ganz gewaltig im Magen; ab und zu bei gewissen Erinnerungen.
Was wird morgen sein, wenn der Junge wieder bei seiner Mutter ist und mich an dem heiligen Abend hier allein zurücklässt? Daran möchte ich im Augenblick gar nicht denken. Seit fast achtundvierzig Stunden trinke ich kein Bier mehr. Ganz bewusst und so gewollt, wie schon einmal in meinem Leben. Also fällt das Besäufnis morgen aus, denn ich muss erst wieder richtig zu mir finden. Zumindest ist nun die „Trauer“ vorbei.
Was macht man in so einer Situation, lieber Weihnachtsmann? Kannst Du mir nicht einen klitzekleinen Rat geben? Eine Botschaft schicken? Per Himmelspost als Sternschnuppe? Damit mein größter Traum — mit geschlossenen Augen vorgestellt — in Erfüllung gehen kann? Ich weiß, man darf ihn nicht verraten ...
Nein. Mein Entschluss steht fest: Morgen wird diese Erzählung weiter und zu Ende geschrieben, denn du bist ja danach mit deinem Rentierschlitten schon wieder auf dem Weg nach oben zu den Wolken und kannst mich nicht mehr hören ...
Also — um es gleich vorweg zu sagen: Einen festen Job habe ich schon, der auch einigermaßen gut bezahlt wird. So was steht nicht auf meinem ganz persönlichen Wunschzettel. Ich könnte dort anrufen und um Zusatzschichten bitten, die mich in der jetzigen Situation ablenken würden. Doch das hätte wohl keinen Zweck, lieber Weihnachtsmann. Die würden mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Wer will schon an so einem Tag freiwillig zusätzlich arbeiten gehen?
Geld? Welcher Mensch bräuchte es nicht? Aber wäre das wirklich so wichtig, um auf die Nummer eins der Liste gesetzt zu werden? Es müssten schon mehrere Sternschnuppen sein, die morgen gut sichtbar in der Atmosphäre verglühen. Ach -ich sehe schon: Du schüttelst leise dein greises Haupt ...
Der Weihnachtsmorgen ist da. Mein Sohn liegt hier neben mir im Bett und schläft. Der Junge hat mich fast die gesamte Nacht wach gehalten. Erst schauten wir fern (ein Krimi im ZDF) und dann redeten wir miteinander. Ganz innig. Wie Vater und Sohn das ab und zu machen sollten.
Er erklärte mir, dass der Weihnachtsmann von einem Amerikaner erfunden worden sei und ich glaube ihm (oder vielleicht auch nicht). Wenn man heutzutage sieht, dass es sich eigentlich nur noch darum handelt, immer mehr und noch mehr Umsatz zu machen - egal bei welchem Fest - dann könnte es schon so sein, dass der gute alte Mann als gigantischer Werbegag „geboren“ wurde. Ausgedacht von gewissenlosen Geschäftemachern, die sich damit ihre Taschen füllen wollten. Dagegen sprechen zwar die vielen Millionen leuchtenden Kinderaugen, aber wie viel mehr Menschen auf dieser Welt
— ob klein oder groß — hungern auch heute und bekommen gar nichts zum Fest?!
Oliver ist ja schlau. Er nimmt natürlich alle Geschenke mit und wenn du, lieber Weihnachtsmann, tatsächlich nur eine „Erfindung“ sein solltest, dann muss er dich nicht mit Respekt behandeln. Man braucht sich keinesfalls vor dir zu fürchten, so wie wir es als Kinder getan haben: „..., schau mich nicht so böse an, stecke deine Rute ein, ich will auch immer artig sein“. Ist dieser Spruch heutzutage tatsächlich in Vergessenheit geraten? Nehmen wir nur noch, ohne etwas dafür zu geben? Ich mache meinem Sohn keinen Vorwurf. Wir Erwachsene sind schuld daran, wenn der eigentliche Sinn des Weihnachtsfestes immer mehr verloren geht. Jeder beruft sich auf die „Anderen“ und zuckt mit den Schultern. Schade ...
13.08 Uhr. Auch meine Katze Lena hat nun ihr Weihnachtsgeschenk. Ein Plasteuntersetzer für ihre Fressteller. Oliver und ich waren zum Mittagessen bei meinen Eltern und nun ist der Junge wieder zu Hause. Dort bekommt er am Abend die zahlreichen Geschenke vom anderen Teil der vor vier Jahren auseinandergebrochenen Familie ...
Lena ist bei mir und macht wie immer ihr Schläfchen auf dem Korridorschrank. Sie ist während der dreizehn Monate, die wir uns inzwischen kennen, eine richtige kleine Gefährtin geworden. Das Tier freut sich immer und mauzt laut, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme.
Oft sitzt sie dann auf meinem Schoss und lässt sich ausgiebig streicheln. Wir genießen das beide und wenn Besuch kommt, verzieht sie sich immer in höhere „Regionen“ auf die Durchreiche in der Küche. Muss erst mal schauen, wer da die Wohnung betritt ...
Inzwischen weiß ich ganz genau, ob sie Hunger hat oder draußen streunen will, trotzdem Lena sich ja nur mit ihrem „Miau“ artikulieren kann. Im Sommer, als ich noch mit Ina zusammen war, passierte eine lustige Geschichte, die ich nun erzählen möchte:
An jenem Tag kletterte das Thermometer auf dreißig Grad und ich hatte Frühdienst. Ina kam am Mittag in meine Wohnung und wollte Wäsche aufhängen. Die Katze legte sich wegen der Hitze oft in die Badewanne, weil es dort offensichtlich angenehm kühl war. Das Tier akzeptierte inzwischen meine
Freundin und flüchtete deshalb nicht. Es hatte sich längst daran gewöhnt, dass sie ab und zu bei mir auftauchte ...
Ina öffnete die Trommel der Waschmaschine, zog eine Handvoll nasser Wäsche heraus und warf die Kleidungstücke mit einem Schwung in die Wanne. Sie wusste nicht, dass Lena dort lag und schlummerte. Mit einem lauten „Miau“ sprang die Katze auf. Um ihren Kopf hatte sich ein Schlüpfer gewickelt, den sie nicht gleich abschütteln konnte. Was für ein Anblick. Meine Freundin sagte später, dass sie laut lachen musste und gern ein Foto geknipst hätte ...
Lena fand das offensichtlich nicht so toll. Sie setzte sich schließlich ins Waschbecken und drehte Ina beleidigt ihr Hinterteil zu. Warum die Katze nicht sofort das Badezimmer verließ, wird nun wohl für immer ein Geheimnis bleiben ...
14.15 Uhr. Draußen im Hausflur sind Geräusche zu hören. Familienangehörige kommen. Stimmen von Erwachsenen und Kindern. Bald ist Bescherung ... In mir steigt Traurigkeit auf:
Heute vor einem Jahr saß ich mit der kleinen Anna Lena bei Ina am Kaffeetisch und wir drei bewunderten gemeinsam den wunderschön leuchtenden und bunt geschmückten Weihnachtsbaum ... Das ist ja nun vorbei und wird sich (zumindest mit den Beiden?) nie mehr wiederholen.
15.24 Uhr. Heute ist das Fest der Liebe und deshalb werde ich keine schmutzige Wäsche waschen. Obwohl mir sehr danach zu Mute wäre. Nein, lieber Weihnachtsmann. Das verspreche ich dir hoch und heilig. Eine Schwester von Ina hat gerade angerufen und ich erzählte ihr meine Version der Trennungsgeschichte. Der Schlussstrich ist gezogen und die Zeit wird alle Wunden heilen. Es gibt — Gott sei Dank — nicht nur diese eine Frau auf unserem schönen Planeten ... Nun werde ich das Schreiben unterbrechen und Anäis Nin weiterlesen ...
16.25 Uhr. Es ist richtig dunkel geworden und du, lieber Weihnachtsmann hast alle Hände voll zu tun. Bald machst du dich auf den langen Weg zurück in dein Wolkenreich. Oliver meinte gestern nacht, dass es dich schon deshalb nicht geben könne, weil ein einzelner Mann sich mit vielfacher Lichtgeschwindigkeit bewegen müsste, um alle Kinder oder Menschen der Erde an einem einzigen Abend zu erreichen. Nun — zu was Geister fähig sind, wage ich nicht einzuschätzen. Außerdem könnte es ja sein, dass er viele Helfer hat, oder? Niemand weiß das so genau ...
Trotzdem möchte ich mich jetzt von dir verabschieden und wünsche dir eine gute Reise. Vielleicht sehen wir uns im nächsten Jahr wieder und ich bin dann nicht mehr allein? Heute versperren dicke Wolken die Sicht nach oben; aber du weißt ja — irgendwann (hoffentlich schon bald) werden wieder Sternschnuppen vom Himmel regnen, die man sehen kann ...
Eisenhüttenstadt, 24. Dezember 2006