Читать книгу "Dein Blut wird die Kohle tränken" - Oleksandr Mykhed - Страница 11
LYSSYTSCHANSK. 1.
ОглавлениеEine Kontrolle am Checkpoint. Einige Minuten des Wartens. Der Fahrer lässt den Bus an. Aus den Lautsprechern tönt „Russkoje Radio Ukraina“. Über dem Fahrer prangen zwei Aufkleber, zwei Kräfte, die unsere Fahrt beschützen: Das Logo der EURO 2012 und das Wappen der Sowjetunion.
Am Stadteingang ist der Schriftzug „Lyssytschansk“ so verstaubt und voller Ruß, dass er dunkelgrau erscheint.
Im Haus in der Leninstraße 177 klafft ein riesiges Loch. So als ob aus einem Kuchen ein großes Stück herausgebissen wurde. Die Narben erinnern an den Juli 2014, die Befreiung der Stadt.
1753 entschied Zarin Katharina II. die Umsiedlung von Siedlern vom Balkan an den Fluss Siwerskyj Donez. Im Dorf Werchnje war auch die Dritte Kompanie stationiert, in der später Sosjura1 diente. Sosjura wurde zwar nicht in Lyssytschansk geboren, doch schrieb er hunderte von Seiten über jene Orte.
Woher stammt die Zahl 1710 als Gründungsjahr Lyssytschansks?
Nirgendwoher.
Was soll das heißen?
Naja, 2010 wollte die Stadtverwaltung eine 300 Jahr-Feier veranstalten. Na und da haben sie dieses Datum gewählt. Kosaken hatten hier einst ihr Winterquartier. Kohle fand man im Donbass erst 1721. 1763 wurde das Fundament für die hölzerne Kirche gelegt, auf dem heute das Kulturhaus steht. 1792 wurde erstmals Kohle in Lyssytschansk gefunden und einige Jahre später das erste Bergwerk eröffnet.
Und was ist nun 1710 passiert?
Na nichts. Das alles geschah nicht 1710, sondern im Jahr 2010.
„Die Arbeitsbedingungen für die ersten Bergarbeiter waren sehr schwer. Die Leute mussten das Wasser aus den Stollen trinken. Die ersten Lampen, die sie benutzten wurden ‚Gottes-Hilfe‘ genannt.“
Diese Lampen brannten übrigens mit offenem Feuer. Die Leute trugen also praktisch einen Zünder in der Hand oder auf speziellen Konstruktionen auf dem Kopf, der jederzeit einströmendes Gas zur Explosion bringen konnte.
„Das Symbol der Stadt ist ein Fuchs, der auf einem Kohlestück sitzt.“
„Im Juli 2014 wurden wir zwei Tage lang beschossen. Aus welcher Richtung, das weiß niemand. Die einen befreiten uns von den anderen. Wer Befreier und wer Okkupant war, verstand hier niemand mehr.“
„Jegorow, einer der drei Rotarmisten, die das rote Siegesbanner auf dem Reichstag hissten, kam aus Lyssytschansk.“
Die passende Herkunft des Helden verleiht dem Ort im kollektiven Bewusstsein Legitimität durch die Geburt eines sowjetischen Superman.
„1873 wurde in Lyssytschansk die erste Bergschule eröffnet, in der professionelle Bergarbeiter ausgebildet wurden.“
1888 besuchte Mendelejew2 Lyssytschansk. Wie man hört, war er nur einen Tag hier. Doch wird dieser lokale Mythos wie von einem Schwungrad seit fast anderthalb Jahrhunderten am Laufen gehalten.
Im Juni 1888 schrieb Mendelejew, als er bereits wieder in Boblowo im Moskauer Gouvernement war, einen Bericht über seine Reise durch das Gebiet Donezk von Februar bis April jenes Jahres. Den Bericht nannte er „Die Kraft der Zukunft an den Ufern des Donez“. Er endet mit einer interessanten Passage:
„Die Kohle ist ein Schatz. Und die hier vorherrschenden Bedingungen sind umso wertvoller und rufen deshalb förmlich danach, mithilfe der Kohle, des Meeres, des Erzes und diesem Boden, den fruchtbaren Grund für das Erblühen der russischen Industrie zu bereiten. Um sich hiervon zu vergewissern, ist ein allgemeiner Überblick zu wenig, auch eine detaillierte Beschreibung des jetzigen Zustands ist nicht ausreichend. Viel wichtiger und unabdingbar ist es, zu besprechen, wie Pioniere gewonnen und Hindernisse beseitigt werden können. Hier ist weder der Osten mit seinem schlummernden Fanatismus, noch der Westen mit seiner Kaltblütigkeit. Hier döste einst der Kosake, doch nun durstet es ihn und er erwacht und zeigt sich von seiner neuen Seite, die man vorher kaum an ihm kannte: industriell und praktisch veranlagt, lebendig und dabei nicht dem Katholizismus anhängend. Lasst uns nun schauen, was sich lohnt und was es dafür braucht, damit das Donezker Land nicht nur allrussische-, sondern Bedeutung von Weltrang erlange mit all seinen vorzüglichen Eigenschaften.“
Mendelejew lehrt uns: Über den Donbass lässt es sich nicht ohne den Vergleich von Ost und West sprechen. Den Donbass kann man nicht ohne die Kosaken und deren Kampf gegen das Lateinertum der Andersgläubigen verstehen. Über den Donbass muss man daher als das „blühende Land der russischen Industrialisierung“ sprechen.
Ein anderer Raum des Museums ist den Afghanistan-Kämpfern und Tschernobyl-Liquidatoren gewidmet. Hinter dem Glas der Vitrinen liegen Todesurkunden von Soldaten und Briefe aus Afghanistan. Daneben eine staatliche Dankesurkunde für die Rettungskräfte der Tschernobyl Katastrophe:
„Unter schwierigsten Umständen erfüllten Sie die Aufgaben der sowjetischen Regierung und meisterten die Herausforderungen mit Mut und Ausdauer und bewiesen hierbei hohe moralisch-politische sowie psychologische Qualitäten. […] Wir äußern unsere herzliche Dankbarkeit für die vorbildliche und patriotische Erfüllung der Pflicht für die Heimat.“
Ein Standardschreiben mit generischen Unterschriften von Beamten und einem Behördenstempel. Auf jeder Vorlage ist die letzte Jahreszahl per Hand einzutragen — „198_“.
Wann, wem und für welche Opfer der Staat noch zu danken hat, bleibt ungewiss.
Im Juli 2014 beschädigte ein Geschoss das Denkmal für die Afghanistan-Kämpfer.
Nach den täglichen Besuchen von Heimatkundemuseen und den zahlreichen „Geschichten unserer Region“ entsteht im Inneren ein Monumentalbild von Kriegen, Revolutionen, Teilungen, Misshandlungen, Blut und Vernichtung. In den Schläfen pulsiert nur ein Gedanke: Hier lodert das Höllenfeuer.
Zwei Räume des Museums sind den Bildhauern Mykola Moschajewij und Ewelina Moschajewa gewidmet. Das Denkmal zur ukrainischen Unabhängigkeit von Moschajewij ist eine der erotischsten Darstellungen der Ukraine als Frauengestalt, als Beschützerin, die man finden kann. 2009 übergab Mykola Moschajewij dem Museum 44 Skulpturen.
Zum Ende seines Lebens kehrte er in seine Heimat ins Gebiet Rostow zurück, wo er im August 2015 im Rostower Gebietsmuseum für Bildende Kunst eine Ausstellung eröffnete.
Am 8. Mai 2010 wurde in Luhansk eine seiner bekanntesten Arbeiten enthüllt: das Denkmal für die durch die Nationalisten und Strafkommandos der OUN-UPA3 getöteten Bewohner der Region Luhansk.
Es zeigt eine gefesselte Frau mit herabhängendem Kopf und aufgestellten Brüsten. Ein nacktes Kind strebt zu ihr. Zu ihren Füßen kniet ein Mann mit entblößtem Oberkörper, dessen Hände ebenfalls gefesselt sind. Darunter der eingravierte Schriftzug „Die Wahrheit wird nie vergessen werden“. Und hierunter: „Im Gedenken an die Einwohner der Region Luhansk, die durch Nationalisten und Strafkommandos der OUN-UPA in den Jahren 1943–1956 getötet wurden.“ Es folgt eine Liste mit 18 Namen.
Die Einzelheiten dieses Gedenktags sind in den Chroniken vermerkt: Bei der Zeremonie anwesend waren der Vize-Premierminister Wiktor Tychonow, der Fraktionsvorsitzende der „Partei der Regionen“ Oleksandr Jefremow, der Abgeordnete der russischen Staatsduma Konstantin Satulin, der Vorsitzende der Luhansker Regionalverwaltung Walerij Holenko sowie der Bürgermeister von Luhansk Serhij Krawtschenko.
Vize-Premier Tychonow erklärte bei der Gelegenheit: „Diese Leute wurden nicht durch Bewohner der Westukraine, sondern durch Banditen getötet. Deshalb widmen wir dieses Denkmal nun den Opfern, die durch die Hand der Banditen fielen. Als wir die Dokumente fanden, aus denen hervorgeht, welch qualvollen Tod unsere Landsleute hier sterben mussten, konnten wir dies nicht unbeachtet lassen. Bislang sind uns 100 Getötete bekannt, doch es waren weitaus mehr. Wir haben die Listen von 1943 bis 1957 gefunden und nun beschäftigt sich die Organisation „Junge Garde“ mit der Suche nach diesen Leuten. Ich denke, dass wir sie alle finden werden. Leider wurden aufgrund von Anweisung der vorigen ukrainischen Regierung viele Dokumente vernichtet, doch das Moskauer Zentralarchiv unterstützt uns bei der Suche.“
Der Abgeordnete der Staatsduma der Russischen Föderation Satulin sprach: „Nachdem in der Ukraine nun endlich gesunde Kräfte an die Macht gekommen sind, haben wir in nur kurzer Zeit historische und bahnbrechende Abkommen zwischen unseren Ländern geschlossen. Außerdem vereint uns besonders in diesen Tagen die Erinnerung an die Gefallenen und Überlebenden des Großen Vaterländischen Krieges. Heute reden viele davon, dass nun die richtige Zeit sei, die West- und Ostukraine miteinander zu versöhnen. Diese Versöhnung, da bin ich mir sicher, darf nicht auf Kosten der Erinnerung geschehen, indem was weiß ist, schwarz genannt wird, wie dies vor kurzem noch die vorige ukrainische Regierung tat. Niemals werden die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges auf einer Ebene mit jenen Leuten stehen, die, egal aus welchen Motiven, die falsche Entscheidung trafen und ihr eigenes Volk bekämpften. Bei allem Respekt vor dem Alter, das sind verschiedene Leute, die auf unterschiedliche Weise geehrt werden sollten.“
Abschließend segneten orthodoxe Priester den Ort.
„Was der Geist der Bergarbeit ist? Das kann ich nicht erklären. Ich lebe ihn mein ganzes Leben.“
„Die Stadt stirbt. Sie liegt bereits am Boden und kann nur noch durch eine Schocktherapie gerettet werden.“
„Lyssytschansk war stets umkämpft, denn hier liegt der höchste Punkt der Oblast Luhansk.“
„Der öffentliche Haushalt wird hier als private Geldbörse betrachtet und als eine Möglichkeit Geld zu verdienen.“
„Leute aus Sjewjerodonezk kommen hierher, um mit dem Fahrrad zu fahren. Die Landschaft ist ideal dazu.“
„Dass Lyssytschansk zur Ukraine gehört, steht doch nur auf dem Papier.“
„Das ist eine Stadt wie ein Garten. So viele verschiedene Obstbäume gibt es sonst nirgends.“
„Dies ist eine sehr graue Stadt, besonders nachdem ich aus Poltawa hierherkam. Hier gibt es einfach keine Farben.“
„Damals wollte doch niemand im Bergwerk arbeiten. Da haben sie Häftlinge zur Arbeit hergebracht. Und wer waren die? Es waren jene, die gegen das Regime waren und einen klaren Kopf hatten. Das sind unsere Vorfahren.“
1 Anm. d. Übers.: Wolodymyr Sosjura (1898–1965) war ein bekannter ukrainischer Dichter.
2 Anm. d. Übers.: Dmitrij Mendelejew (1834–1907) war ein russischer Chemiker, der das Periodensystem der Elemente entwickelte.
3 Anm. d. Übers.: Ukrainische Aufständische Armee (ukr.: Ukraijinska Powstanska Armija) (UPA) war der militärische Arm der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN).