Читать книгу "Dein Blut wird die Kohle tränken" - Oleksandr Mykhed - Страница 6

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0.

Im Dezember 1980 traf sich Oleksii Nikitin in Donezk mit den Reportern Kevin Klose der Washington Post sowie David Satter von der Financial Times und berichtete ihnen von der im Donbass herrschenden Willkür und dem Chaos seines eigenen Lebens. Er hatte einiges zu erzählen.1

Im Jahre 1969, Nikitin war 32 Jahre alt, versammelte er 129 Arbeiter, die ihre Unterschrift unter ein Schreiben an das Zentralkomitee der KPdSU setzten, welches die illegalen Tätigkeiten und die systematische Verletzung des Arbeitsschutzes durch die Grubenleitung des Schachtes „Butiwka“ anprangerte. Nikitin arbeitete als Bergbauingenieur und bemühte sich, eine Gruppe zu gründen, welche die Rechte der Arbeiter verteidigen sollte. Er warnte davor, dass es im Bergwerk zur Explosion kommen könnte. Im darauffolgenden Jahr wurde Nikitin entlassen und vorübergehend aus der Partei ausgeschlossen. Die Arbeiter wurden gezwungen, ihre Unterschriften unter dem gemeinsamen Brief zu widerrufen.

In Donezk gab es ungefähr 50 Kohlebergwerke, doch weil sein Name nun auf einer schwarzen Liste stand, konnte Nikitin in keinem davon neue Arbeit finden.

Zwei Jahre lang bemühte er sich um Gerechtigkeit. Er fuhr nach Moskau und versuchte in die norwegische Botschaft zu gelangen, um Dokumente und Aussagen zu seinem Fall zu übergeben. Doch der KGB fing ihn ab und schickte ihn zurück nach Donezk.

Im Dezember 1971 kam es im Bergwerk „Butiwka“ zu einer Explosion. Die Kumpel erinnerten sich an Nikitin und seine Warnungen vor dem Unglück. Es brauchte 1500 Milizionäre und Geheimdienstleute, um die aufgebrachte Menge zu stoppen, welche seinen Namen skandierend durch die Straßen zog.

Drei Wochen später wurde er verhaftet und der antisowjetischen Agitation beschuldigt.

Andersdenkende wurden gnadenlos bekämpft. Man wollte sie lehren, „die Heimat zu lieben“, wenn nötig auch durch Zwangseinweisung.

Zunächst verstand er nicht, wohin man ihn gebracht hatte. Erst durch die Worte des Pflegers wurde ihm alles klar: „Man hat entschieden, dass du nicht recht bei Verstand bist, da du es dir erlaubst, dich in die Politik einzumischen. Mach dir keine Sorgen um deine Sachen. Du bleibst hier für immer.“ Drei Jahre verbrachte er in der Dnipropetrowsker Spezialpsychiatrie. Man erzählt sich, dass hier die 30 in Zelle Nr. 1 einsitzenden Männer Experimenten mit Medikamenten und anderen Misshandlungen unterzogen wurden. Der beißende Chemikaliengeruch durchdrang die Körper der Patienten und kroch aus allen Ritzen hervor.

Die sowjetische Ordnung vermochte es meisterhaft menschliche Seelen zu verformen. Zum Beispiel, indem sie einen vormals gesunden Patienten in einen Schluck Wasser verwandelte. So wurde die Körpertemperatur künstlich auf 40 Grad angehoben, damit sich der Schmerz in Drill verwandelte und sich tief in den Körper fraß.

Dort in der Psychiatrie gab es noch andere wie ihn. Politisch Unzuverlässige, Ungebrochene. Eben jene, die das System infrage stellten.

Nikitin war begabt und arbeitete in der Klinik zunächst als Zimmermann, später dann als Steinmetz und schließlich als Pflegehelfer.

Später wurde er in die Donezker Allgemeine Psychiatrische Klinik verlegt, aus der er im März 1976 entlassen wurde.

Nikitin verstand, dass er keine Gerechtigkeit zu erwarten hatte. Ein Jahr später wurde er nahe der norwegischen Botschaft verhaftet, in welcher er um politisches Asyl bitten wollte. Schließlich gelang es ihm, aus der Donezker Klinik zu entkommen. Einige Quellen berichten, dass er sich mehr als einen Monat in den Wäldern versteckt hielt. Letztlich wurde er vom KGB verhaftet und wieder in die Klinik nach Dnipropetrowsk gebracht und später wiederum nach Donezk verlegt.

So vergingen drei weitere Jahre, bis er 1980 freikam.

Er war dem System ein Dorn im Auge und störte das Treiben der Lokalfürsten, um die sich zahlreiche Legenden rankten. Eine davon handelte von einer rauschhaften Hochzeitsfeier eines Sohnes der Parteielite auf einem Schnellboot, das unerlaubt in türkische Territorialgewässer eindrang.

Der wütende Wolodymyr Dehtjarow, Sekretär des Gebiets-Parteikomitees, dank welchem Donezk zur Stadt der Rosen wurde, sagte Nikitin unverhohlen ins Gesicht: „Wenn du deine Nase in unsere Angelegenheiten steckst, dann werde ich die Kohle mit deinem Blut tränken und deinen Körper zu Dünger zermahlen!“

1980 lud Nikitin schließlich die zwei ausländischen Journalisten nach Donezk ein, damit diese mit eigenen Augen sähen und der Welt berichteten, wie die Repressionsmaschine mit den Körpern und Seelen ihrer Bürger verfahre.

Vier Tage verbrachten die Journalisten mit Nikitin.

Eines Abends schaute er durchs Fenster und sah die wartenden Autos der KGB-Agenten, woraufhin er beiläufig bemerkte: „Sobald ihr wegfahrt, schnappen sie mich“.

Dann setzte er seinen Bericht fort.

1.

Zum ersten Mal fuhr ich im Dezember 2016 in die Ostukraine.

Es war eine besondere Zeit. Eine Zeit der Suche nach Identität, eine Zeit, in der ein Blumenkranz auf dem Kopf oder ein T-Shirt mit dem Schewtschenko-Zitat „Liebt euch, aber nicht die Moskali“ ein politisches Statement bedeutete.

Eine Zeit der absterbenden Ideologien, die in Schichten von Graffiti auf den abgeblätterten Flächen der Werbetafeln und Fabrikruinen vor sich hin rotteten.

Eine Zeit der Debatten um die Dekommunisierung, neue Städtenamen und die Angst der älteren Generation um die Erinnerung an ihre Jugend.

Die Zeit, in der die junge Generation der ihr aufgezwungenen alten Mythen und vorherbestimmten Lebenswege überdrüssig wurde.

Eine Zeit, in der Binnengeflüchtete nach einem neuen Platz im Leben, auch in kleineren Städten, suchten.

Ich hatte das Glück, Teil des Projekts „Metastadt: Ost“ zu sein, welches auf Initiative der NGO „Garage Gang“ entstanden war. Anderthalb Jahre arbeiteten wir in sechs Städten der Regionen Donezk und Luhansk: in Kostjantyniwka, Pokrowsk (ehemals Krasnoarmijsk), Dobropillja, Lyssytschansk, Sjewjerodonezk und Bachmut (dem ehemaligen Artemiwsk).

Jeder von uns hatte seine Aufgaben. Manch einer interessierte sich für Urbanismus, andere suchten nach architektonischen Lösungen, um das Leben in den Städten zu verbessern. Wieder andere beschäftigten sich mit der Kultur. Das angestrebte Ziel war die Aktivierung des kulturellen Lebens in den ausgewählten Städten, die Schaffung offener und öffentlicher Räume und eines Netzwerkes von Aktivisten mithilfe verschiedenster Workshops und einzelner, durch Crowdfunding geförderter Projekte.

Meine Arbeit bestand dabei darin, die Mythologeme der Städte zu untersuchen, sie in ihren kleinsten Teilchen zu fixieren und ihre Universalität zu entdecken. Den Körper des Kronos zertrennen, der Generation für Generation seine Kinder fraß.

Ein Mythologem fußt auf seiner Weiter- und Wiedererzählung. Es kann wiedergeboren oder aus dem Bewusstsein einer Stadt verbannt werden. Es kann aufgezwungen, entwurzelt oder injiziert werden.

Mythologeme, das können historische Persönlichkeiten sein, oder gesellschaftliche Aktivisten nach denen eine Straße und ganze Städte benannt sind. Ein Mythologem ist Geschichte, ist Ganzheit, ein Bild, das jeder Bewohner einer konkreten Stadt, unabhängig von seinem Alter, sofort versteht.

Anhand dieser Geschichten und Mythologeme sollten junge ukrainische Künstler Werke schaffen, die den städtischen Raum neu gestalteten.

Die Struktur dieses Buches spiegelt im Großen und Ganzen den Entstehungsprozess dieses Projektes. Das erste Stelldichein mit den Städten und ihren Mythen. Die Rückkehr und die Vertiefung der Recherche. Und zuletzt der Versuch das Geschehene zu beschreiben und alle Linien zusammenzuführen.

Alle sechs Städte erlebten wir zu jeder der vier Jahreszeiten. Vor unseren Augen verwandelte sich die Winterdepression des Februars in das Tauwetter des März, das Grün des Sommers in das Welken der Blätter im Herbst, um schließlich mit ihrem Fall wieder in Depression zu verfallen. Die einzige Gemeinsamkeit unserer sich mit der Saison verändernden Eindrücke war die stets vorhandene, dünne Schicht aus Kohlestaub, die sich wie eine Decke über das Jahr legte.

2.

Warum habe ich mich zu dieser jahrelangen Reise durch den Osten entschieden?

Man kann in diesem Land gut leben, eine erfolgreiche Karriere machen und jedes Jahr in den Winter- und Sommerurlaub fliegen, und dabei nicht ein einziges Mal vom Norden in den Süden fahren, oder aus dem Westen in den Osten. Wir alle haben diese mentale Landkarte, gespickt mit Vorurteilen und Vorstellungen über das eigene Land. Leute aus dem Norden? Alles Malocher. Statt Kultur gibt es hier Fabriken. Oder andersherum. Faulpelze und Schmarotzer.

Doch was tun wir, um den Teil des Landes zu verstehen, in dem nun Krieg herrscht? Ein hybrider Krieg, von dem gern behauptet wird, dass er keine imperiale Okkupation, sondern die freie Willensäußerung der lokalen Bevölkerung sei. Dass es keine gezielte Manipulation, sondern nur einen dem Volke aus tiefem Herzen entspringenden Wunsch gäbe, der mit Überresten der untergegangenen sowjetischen Vergangenheit verschmilzt.

Dieses Buch ist der Versuch meiner, der ersten „postsowjetischen“, Generation, zu erklären, was dieses Erbe zu bedeuten hat und die, wie ich selbst, noch nie in dem Teil des Landes war, über den die Medien, wie es scheint, bereits alles erklärt haben. Vorurteile, Fake News und Mythen gibt es zumindest genug.

Mithilfe von Erzählungen, Geschichten und Archivfunden lässt sich zumindest Einiges erklären. Dieses Wissen zu bergen, bedeutet noch nicht, es fertig zu servieren. Doch erlaubt es die Untersuchung und Aneignung von zuvor unbekannten Teilen des eigenen Landes.

3.

Und natürlich ist da der Wunsch, Menschen zu treffen, die deinem Bild des Ostens ein Gesicht geben. Gerade ihre Geschichten sollen die mentale Landkarte prägen.

In diesem Buch erklingen die Stimmen der Bewohner des Ostens. Historiker und andere Wissenschaftler warnen davor, den Worten beliebiger Menschen zu trauen, weil diese nur die Wiederholung aufoktroyierter Gedanken und Vorurteile seien, die sich im Bewusstsein verfangen haben. Doch genau das brauchte ich: lebendige Gespräche, lebende Geschichte und angeschlagene Bewusstseinscluster.

Wir als Außenstehende befanden uns dabei in der günstigen Ausgangslage, die Puzzleteile eines großen Bildes zusammenzufügen, nämlich das offizielle Narrativ der Regierung, die kanonischen Erzählungen der Museen sowie die Emotionen der Aktivisten vor Ort. Wobei es uns manchmal so schien, als seien wir eine Anlaufstelle für Beschwerden und Verbesserungsvorschläge.

Zunächst sind die Stimmen jener, die du triffst, in ihrer Masse anonym. Doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis man tiefere Bekanntschaften geschlossen hat und man schließlich zum zweiten und dritten Mal in diese Städte zurückkehrt.

Über die Zeit wurden Kontakte zu Bekannten, guten Freunden und manchmal wie zu einer Familie. Mit der Zeit entdeckten wir unsere Lieblingsorte für die kleinen Mahlzeiten und sammelten sich die Rabattkarten der hiesigen Lokale. Aus den Erzählungen der anonymen Unbekannten wurden Gespräche mit Bekannten, deren Schicksal bewegt, deren Katzen man streichelt, denen man Geschenke und Grüße sendet und denen man zu den Feiertagen gratuliert.

Irgendwann entsteht der dringliche Wunsch zurückzufahren, um potenziell riskante Zitate zu glätten, welche für die Urheber oder unsere noch junge Freundschaft unangenehme Folgen haben könnten.

Ich danke allen, die mich an ihren Geschichten und Beobachtungen teilhaben ließen und entschuldige mich für die Namenlosigkeit eurer Aussagen. Ebenso bitte ich mögliche Ungenauigkeiten zu entschuldigen. Eine der Hauptfragen dieses Buches ist die grundsätzliche Unmöglichkeit einer objektiven Realität im Allgemeinen und insbesondere im Osten. Deshalb ist festzuhalten, dass nicht immer alles, was wir hörten, auch tatsächlich so gesagt wurde.

4.

In diesem Buch gibt es auch andere Stimmen.

Da sind jene, die aus den Archiven klingen.

Da sind die Stimmen von Forschenden, die diesen Stimmen bereits nachgegangen sind.

Außerdem enthält es sechs einzigartige Gespräche mit Menschen, die im Osten geboren wurden und uns durch ihre Erfahrung und die persönlich erlittenen Schmerzen seit Beginn des Krieges dabei helfen, die Grauen der Wirklichkeit zu verstehen: Serhij Zhadan, Alewtina Kachidse, Ihor Koslowskyj, Roman Minin, Wolodymyr Rafejenko, Olena Stjaschkina.

Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht.

5.

In ihrer Dankesrede für den Nobelpreis sagte Swetlana Alexijewitsch: „Mich hat stets gequält, dass die Wahrheit nicht in ein einziges Herz, in einen einzigen Verstand passt. Dass sie zersplittert ist, vielfältig, unterschiedlich, in der Welt zerstreut. […] Was tue ich? Ich sammle den Alltag von Gefühlen, Gedanken, Worten. Ich sammle das Leben meiner Zeit. Mich interessiert die Geschichte der Seele. Das Leben der Seele. Das, was die große Geschichtsschreibung gewöhnlich auslässt, was sie hochmütig übersieht. Ich beschäftige mich mit der ausgelassenen Geschichte.“2

Die Vielstimmigkeit ihrer umfassenden Untersuchung des Sowjetischen ist mir Vorbild und Orientierung zugleich.

Für einige Meinungen und Gedanken meiner anonymen Gesprächspartner entschuldige ich mich im Voraus und merke wie für gewöhnlich an: „Die geäußerten Ansichten und Meinungen müssen nicht mit denen der Redaktion übereinstimmen.“

Nirgendwo sonst als hier im Osten sind mir so radikal verschiedene Erinnerungen an ein- und dasselbe Ereignis begegnet, je nach politischer Einstellung oder der Befangenheit durch bestimmte Weltanschauungen.

6.

In diesem Buch geht es nur am Rande um den Krieg. Und doch schwingt er in fast jeder Zeile mit, ob in Bemerkungen über schlechte Straßen, oder in Erzählungen über durch ihn zerstörte Leben.

In diesem Buch geht es um Gewalt und den Wahnsinn des Alltags. Gewalt, welche die Welt erfüllt und Dinge, die aus abstrakten, fremden Besatzern und ausländischen Todesschwadronen, Menschen werden lassen.

Es geht um Abgründe, Brutalität, Zerstörung und die Unterdrückung von Menschen durch einen fremden Staat.

Genauso wie durch den eigenen Staat.

Darum, was Ukrainer Ukrainern,

was Menschen einander antun.

7.

Und diese Geschichte beginnt so:

1 Siehe dazu: Klose, Kevin. Russia and the Russians: Inside the Closed Society. New York, 1984; Satter, David. Age of Delirium: The Decline and Fall of the Soviet Union. New Haven, 2001.

2 Nobelvorlesung von Swetlana Alexijewitsch. 7. Dezember 2015.



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