Читать книгу "Dein Blut wird die Kohle tränken" - Oleksandr Mykhed - Страница 9
POKROWSK. 1.
ОглавлениеDie Marschrutkas im Osten beschrieb einst der Regisseur Oleksandr Ratij in seinem Film „Rückkehr“, einem der erniedrigendsten Dokumentarfilme über die Ostukraine vor dem Krieg. Wer hätte gedacht, dass bereits die erste Fahrt über Land einem all dies vor Augen führt.
Jede soziale Interaktion, wie die Fahrt in einer Marschrutka, wird zu einem Akt der Selbstbehauptung. Das Gespräch zwischen Fahrgast und Fahrer ist jedoch mehr als nur die Kommunikation zwischen Beförderer und einem müden Körper, den es zu transportieren gilt. Es ist ein Kampf zwischen Alpha-Tieren. Ein betont ausgesprochenes „Sehr geehrte/r“ dient als Waffe, welche die nachfolgenden verbalen Kampfhandlungen einleitet. In der Regel endet dieser Zweikampf mit einem Kompromiss. Der Fahrer zwingt den Passagier für sein Gepäck extra zu bezahlen, wofür dieser es nicht in das Gepäckabteil legen muss. So hat am Ende zumindest niemand verloren. Alle sind an ihrem Platz. Alles ist an seinem Ort.
Hinter dem Rücken des Fahrers hängt verschmutzt und zerknittert eine belgische Flagge. Brüssel steht hinter uns, genau wie Europa. Sind wir noch immer Kolonie, oder vielmehr eine Provinz?
Am Ortseingang nach Pokrowsk steht ein riesiges schwarzes Kreuz mit der Aufschrift „Schütze und Rette.“ Später erzählen mir Bewohner, dass bei einem Autounfall an dieser Stelle ein sehr reicher Mensch ums Leben kam.
Man erzählt mir auch, dass an einem anderen Ortseingangsschild lange Zeit „Willkommen in der Hölle“ geschmiert stand.
Wir passieren die Gemütlichkeits-, die Friedens- und die Malewitsch-Straße. Doch erst am Abend trauen wir uns, auf die Straße der Wiedergeburt zu treten, die sich in tiefster Dunkelheit verliert.
Der Taxifahrer atmet erleichtert aus. „Diese zwei Kreuzungen sind wirklich gefährlich. Niemand lässt dich durch. Neulich gab es hier an einem Tag drei Unfälle.“
Ich muss wieder an das „Sehr geehrte/r“ und den beidseitigen Kampf um Selbstbehauptung denken.
Die Läden hier heißen „Benelux“, „Versailles“ oder „Regenschauer.“
„Sieben Jahre habe ich in Donezk gelebt, nun bin ich seit zwei Jahren wieder hier. Wir selbst nennen uns Umsiedler, dabei sind wir Rückkehrer.“
„Früher hieß die Stadt Krasnoarmijsk, nun Pokrowsk. Dabei sind die beiden nicht zu vergleichen. Pokrowsk ist eine neue Stadt mit neuen Leuten, einer neuen Mentalität und einer neuen Verwaltung. Bislang herrscht noch Chaos. Was daraus entstehen wird, ist bislang noch nicht klar. Der Mentalität nach, sind wir ähnlich wie Kramatorsk, haben eine starke Zivilgesellschaft, die Einfluss auf die Verwaltung nimmt. In Fragen der Kultur und sozialer Projekte sind wir eher wie Slowjansk.“
„Es gibt hier einen beliebten Scherz: Manche sind in Krasnoarmijsk geblieben, andere nach Pokrowsk gezogen.“
„Die Vororte von Pokrowsk sind das sowjetische Krasnoarmijsk.“
„Die Dekommunisierung1 beschäftigt die Stadt. Das Dorf ist zur Stadt geworden. Dabei schaut man hier mit Hass auf die Zukunft. Viele sehen keinen Sinn in der Umbenennung. Hiervon wird das Leben auch nicht besser.“
Wir erleben eine Stadt im Übergang. Ein Teil der Schilder und Aufschriften ist noch unverändert. Oder sind sie bewusst so belassen worden? Es beschleicht einen das Gefühl in zwei Städten gleichzeitig zu sein.
„Sloboda Hryschyne, Postyschewo, Krasnoarmijsk, Krasik und Pokrowsk ist alles ein- und dasselbe. Für patriotisch eingestellte Bewohner ist es natürlich Pokrowsk. Das ‚П‘2 kann man doch so gut mit beiden Daumen und Zeigefingern zeigen.“
„Was man auch sagen muss ist, dass Postyschewo nicht lange so hieß, nur einige Jahre. Genau so lang nämlich, bis Postyschew den Repressionen zum Opfer fiel.“
Später stoßen wir im Heimatkundemuseum auf eine Landkarte von 1935. Auf ihr sind die Namen „Postyschewo“ und „Donezker Oblast“ durchgestrichen. Per Hand wurde dafür „Stalinska Oblast hinzugefügt.“
„Der aktive Teil der Binnengeflüchteten und Aktivisten, die früher in Donezk lebten, wollen in diesen Ort der Peripherie etwas Großstadt-Glanz bringen. Zu Sowjetzeiten war es so, dass die ganze Kultur in Donezk war. Die ganze Umgebung war Industrie. Nun fehlt ihnen hier die Kultur.“
„Wir sind eine Bergarbeiterstadt. Der Geist der Bergarbeit ist ein männlicher, auch bei den Frauen. Den Kumpel fehlt die Zeit, um mit der Familie zu reden. Die Eltern sind für ihre Kinder ein Vorbild und Beispiel an Tapferkeit. Öffentlich zeigt ein Kumpel keine Emotionen. Doch wenn er nach der Schicht zurückkommt und die Kinder umarmt, kommt es vor, dass er weint. Das Wichtigste für einen Bergarbeiter ist seine Familie zu schützen.“
„Es gibt Bergmänner und Bergfrauen.“
„Es gibt ganze Bergarbeiterdynastien. Wobei jedoch nie jemand möchte, dass seine Kinder auch Bergarbeiter werden.“
„In die Stollen fährt doch nur, wer sich nicht entwickeln will. Meine Freunde haben es ausprobiert, im Bergwerk zu arbeiten. Nach einem halben Jahr haben sie gekündigt, weil sie genug Selbstachtung hatten. Bergarbeiter sind ein Leidensvölkchen. Doch es ist nicht richtig, jedes Leid zu ertragen. Dieses Land hat schon viel zu viel Leid ertragen.“
„In die Kohlegrube flieht man vor der Ausweglosigkeit. Vor der Unmöglichkeit sich selbst realisieren zu können.“
„In der Stadt kann man beobachten, wann es im Bergwerk Lohn gibt. Lange Schlangen vor den Geldautomaten. Schlangen in den Läden. Die Kumpel kaufen ihren Frauen und Kindern etwas Neues.“
„Manche Bergarbeiter verdienen bis zu 30 000 Hrywnja3 im Monat. Die meisten aber nur 7000 bis 10 000. Die Kumpel sind es nicht gewohnt zu sparen.“
„Die Bergarbeiter arbeiten in Gruppen von fünf oder sechs Leuten. Alles funktioniert durch Vertrauen. Jeder steht für jeden ein. Doch es gibt auch Fälle, bei denen eine Gruppe gegen die andere vorgeht und man sich gegenseitig Wasser oder Werkzeug klaut.“
In Pokrowsk lebte einst für einige Monate der Komponist Mykola Leontowytsch4. Seither wird der Mythos gepflegt, dass er die weltbekannte Melodie des Schtschedryk eben hier komponierte.
Eine Gedenktafel am Bahnhof erwähnt, dass der Komponist vier Jahre als Gesangslehrer in Hryschyne arbeitete. Im August 2017 entschied sich der Stadtrat für die Schwalbe des Schtschedryk als ein Element des neuen Stadtwappens. Die Frage wurde in mehreren Sitzungen diskutiert. Ein lokaler Fernsehsender startete eine Online-Abstimmung und es gab zahlreiche öffentliche Diskussionen und Debatten.
Verweilen wir etwas bei dieser Geschichte.
Zur Abstimmung standen zwei Varianten des Wappens. Das mit der Schwalbe stellte der Vize-Bürgermeister Juriy Tretjak vor, gleichzeitig Vorsitzender der Auswahlkommission. Den Journalisten sagte er: „Einen konkreten Schöpfer dieser ersten Variante können wir nicht nennen, weil es eine Kollektivarbeit ist. Wir hatten mehr als 30 verschiedene Vorschläge des Wappens, sodass wir einige Elemente ausgesucht haben und sie neu zusammengefügt haben. Technisch umgesetzt wurde dies durch eine Designerin der Werbeagentur ‚Art Butterfly‘.“ Die Mitglieder der Kommission hatten hinsichtlich einiger Elemente ihre Zweifel und schlugen verschiedene Änderungen zum Flug des Vogels, den Turmspitzen des Bahnhofs oder der Größe des Säbels vor.
Bei dem Treffen mit Journalisten wurde die Bedeutung der Symbolik des Wappens erklärt. Die bereits erwähnte Schwalbe aus dem Schtschedryk steht für gute Neuigkeiten, Glück, Hoffnung sowie Wiederauferstehung. Der Bahnhof ist das Symbol für die Stadtgründung. Der Säbel symbolisiert das Erbe der Kosaken und die „Bereitschaft sich zu verteidigen, nicht aber anzugreifen.“
Eine alternative Version des Wappens präsentierte der Stadtverordnete Wolodymyr Marin.
Die Idee hierzu sei ihm nach der Diskussion gekommen, da er an der Sinnhaftigkeit der Schwalbe auf dem Wappen gezweifelt habe. Er und andere Verordnete wollten wissen, „welche Beziehung die Schwalbe denn zu unserer Stadt und ihrem Namen habe. Zunächst einmal ist sie ein Zugvogel, welcher später als alle anderen Vögel dieser Art herfliege und bereits als erste wieder den Rückweg antrete. Außerdem kämen Schwalben ausschließlich in Dörfern vor.“ Er betonte, dass die Variante die philosophischen Gesetze des Lebens über die Ganzheit der Form und des Inhalts außer Acht lasse. „Mein Vorschlag zeigt die Jungfrau Maria, welche die Stadt vor Unglück und Krieg beschützt und dabei ebenso die Weiblichkeit verkörpert, die das Leben schenkt und den Familienfrieden bewahrt.“ Am Schwierigsten stellte sich die Aufgabe heraus, einen Designer zu finden, der all diese Vorschläge umzusetzen vermochte. Das kostete Zeit, sodass der Vorschlag schließlich unter Zeitdruck gemalt wurde. Wolodymyr erklärte, dass er noch keinen Namen nennen könne. Allerdings habe ihm eine Zehntklässlerin dabei geholfen, eine neue Variante des Wappens zu schaffen. Jedoch sei es wegen fehlender Computerkenntnisse und Fähigkeiten in Sachen Grafikbearbeitung und des zu knappen Zeitfensters nicht möglich gewesen, den Vorschlag so zu präsentieren, wie man es sich vorgenommen hatte.
Zahlreiche aufgebrachte anonyme Kommentare auf verschiedenen Plattformen wiederholten sich in ihrer Kritik an der Schwalbe. Laut ihnen solle die Schwalbe doch nur die kriminellen Machenschaften in den Bergwerken verdecken und den Ruhm der Stadt vergessen machen. Pokrowsk sei ja ohnehin nicht der richtige Stadtname, weshalb es kein neues Wappen brauche. „Gebt uns Krasnoarmijsk zurück, dann könnt ihr über ein neues Wappen nachdenken. Pokrowsk ist nicht unsere Stadt, das Wappen nicht von hier und die Schwalbe gibt’s doch sowieso nur auf dem Dorf.“
Die vorige Version des Stadtwappens von Krasnoarmijsk hielt sich tatsächlich nicht besonders lang. Am 29. September 1993 wurde es auf einer Sitzung des Stadtrats bestätigt. Das stilvolle Wappen sieht heute nach dem Versuch aus, eine ganze Epoche wie in einem Bernstein zu konservieren. Auf einem roten Schild ist ein Gebäude mit drei Türmen und Fenstern in goldener Kontur gezeichnet. Der mittlere Turm trägt einen roten Stern mit goldenem Rand. Darunter sind ein Schlüssel und ein Abbauhammer gekreuzt. Außerdem ist hier das Gründungsjahr der Stadt, 1875, vermerkt. Ein Detail, das viele Einwohner auf dem neuen Entwurf vermisst hatten.
Es ist, wie das Leben in der Ukraine eben ist. Große Wahlmöglichkeiten hast du nicht. Du musst dich entscheiden zwischen einer Kollektivarbeit von Wappennarren, vertreten durch die „Art Butterfly“-Agentur, und der alternativen Variante eines Stadtverordneten, dessen Idee von einer anonymen Zehntklässlerin gemalt wurde.
So spannt die Gottesmutter ihren Schutzschirm über die Bewohner.
Und Leontowitschs Schwalbe nistet in den Dörfern.
„Heute gibt es immer weniger Menschen mit Bergarbeitererfahrung. Die jungen wollen einfach nur etwas Stabiles. Mehr interessiert sie nicht.“
„Hier gab es immer Konkurrenz zwischen den Bergwerken und der Stadtverwaltung. Es gab stets zwei Tannenbäume zu Neujahr und zwei Konzerte zum Tag des Bergarbeiters.“
„Wenn ein innovatives Projekt nicht unterstützt wird, bedeutet dies meist, dass es noch keinen Plan gibt, wie man hieraus Geld abzweigen kann.“
„Hier ist es leichter, eine Waffe zu kaufen als die ukrainische Verfassung. Wir haben es ausprobiert.“
„Es gibt drei Typen von Binnengeflüchteten. Die einen, die von Sozialleistungen leben. Dann jene, die sich kriminell betätigen. Und dann noch einen gesellschaftlich aktiven Teil. Der macht aber nur circa fünf Prozent aus.“
„Hier gibt es nur eine Art des Tourismus: den Rententourismus. Mehr als 50 000 Binnengeflüchtete sind hier registriert. Faktisch leben aber nur 15 000 hier. Doch am Tag der Rentenauszahlung kommen sie in ganzen Busladungen her. Dann gibt es Schlangen vor den Geldautomaten und den Läden. Es gibt auch jene, die auf beiden Seiten der Frontlinie eine Rente beziehen.“
„Hier gibt keine Bergarbeiterdynastien, eher eine Bergarbeiterkaste. Ein Vater überträgt den Kindern seinen Arbeitsplatz. Für einen Job unter Tage wird sogar Bestechungsgeld verlangt, selbst wenn dort die Lohnrückstände teils ein halbes Jahr zurückreichen.“
Krasnoarmijsk hätte Leontowitsch heißen können, Sloboschanskij, Prokofjew, Myrnyj oder Wilnyj. Doch schließlich wurde es Pokrowsk. Es war wohl ein Versuch das Erbe der Kosaken und die Pokrowa zu betonen, die Gottesmutter als Schutzheilige.
In Pokrowsk lebte einst Marko Mykytowitsch Salisnjak (1893–1982). Fast ein Jahrhundert lang lebte der Mann in der Siedlung Romaniwka und dokumentierte ihre Geschichte mit seinen Amateuraufnahmen. Die Ausstellung im Heimatkundemuseum basiert insbesondere auf seinen Aufnahmen. Der erste Weltkrieg, der Holodomor5, dann der Zweite Weltkrieg und schließlich der Wiederaufbau der Sowjetunion. Außerdem hinterließ er einige Hefte mit ausführlichen Tagebucheinträgen. Ein packendes Thema wie mir scheint, auf das wir unbedingt noch zurückkommen.
„Der Geist der Bergarbeit das ist Gemeinschaft, die durch harte und schwere Arbeit gestählt wurde. Sie verbindet den Donbass. Wenn es einen Kosaken-Geist gibt, dann gibt es auch einen Geist der Bergleute.“
„Das Bergwerk ist ein Ort natürlicher Selektion. Doch hier achtet man den Beruf des Bergarbeiters. Dafür erfährt er von der Regierung und den anderen Regionen nichts als Geringschätzung.“
1 Anm. d. Übers.: Die Dekommunisierungsgesetze vom 9. April 2015 zogen eine Umbenennung zahlreicher Straßen- und Städtenamen sowie die Demontage kommunistischer Denkmäler nach sich.
2 Anm. d. Übers.: Entspricht phonetisch dem lateinischer Buchstabe „P“.
3 Anm. d. Übers.: Knapp 1000 Euro (Stand 2017).
4 Anm. d. Übers.: Mykola Leontowytsch (1877–1921) Komponist. Sein Motiv des Schtschedryk wurde 1936 von Peter J. Wilhousky auf Englisch unter dem Titel Carol of the Bells adaptiert und weltbekannt.
5 Anm. d. Übers.: In den Jahren 1932–33 erzeugte und durch die kommunistische Führung verschärfte Hungersnot, der nach verschiedenen Schätzung circa 2,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen.