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Kapitel 5: Kinder

Seid fruchtbar und mehret euch

und regt euch auf Erden,

daß euer viel darauf werden.

1. Mose 9.7

Schon als er die Tür zum Laden öffnete, sah Tim die Frau. Diesmal nicht, schwor er sich. Diesmal würde er ganz normal an ihr vorbei gehen, sie nett grüßen und ihr vielleicht beim Tragen der Einkäufe helfen. Auf keinen Fall würde er wieder stehen bleiben und sie anstarren.

Vielleicht sollte er sie besser einfach ignorieren, so tun als hätte er sie gar nicht bemerkt? Aber das ging ja nicht, sie stand direkt im Weg. Und blockierte ihn damit völlig. Mann, war die dick. Inzwischen schaute ein ganzes Stück ihres Bauchs sogar unter ihrem T-Shirt hervor. Wie sollte er denn jetzt an ihr vorbeikommen? Gab es noch einen anderen Weg zur Ausgabe?

Und warum stand sie da eigentlich rum? Außer den Ausgabeschaltern gab es hier doch nicht wirklich etwas zu sehen. Früher hatte es ja angeblich Läden gegeben, in denen alles Mögliche in Regalen herumlag, so dass man es sich gleich mitnehmen konnte. Das hatte Tim nie so ganz verstanden. Das ging doch eigentlich nur bei Sachen wie Bleistiften oder Fahrradreifen. Was hatten die damals denn mit den ganzen verderblichen Sachen gemacht?

Bananen sahen meist nur ein bis zwei Tage lecker aus, danach wurden sie schnell braun und keiner wollte sie mehr haben. Hatten die irgendwie immer nur so viel in die Regale gefüllt, dass abends alles alle war? Das musste doch tierisch kompliziert gewesen sein.

Heute gab es natürlich überhaupt keine Regale mehr, nur überall Bildschirme, die an den Wänden des kleinen Ladens hingen und die genauso funktionierten wie die Bücher: Man wählte sich etwas aus, und kurze Zeit später (naja, außer bei solchen Extrawünschen wie Tims Fahrrad) wurde der Haken grün und man konnte es am Ausgabeschalter abholen. Jedenfalls könnte man das, wenn man es irgendwie schaffte, sich unauffällig an dicken Frauen vorbeizudrängeln.

Ah, sie tippte auf ihrem Buch herum. Anscheinend hatte sie etwas Wichtiges vergessen und versuchte, es jetzt noch schnell nachzubestellen. Sie hob ihren Blick und sah Tim an. Mist… jetzt hatte er sie doch wieder angestarrt.

»Hallo Tim«, grüßte sie ihn freundlich. Woher kannte die denn seinen Namen? War sie vielleicht eine Freundin seiner Mutter? Hatten die beiden vielleicht über ihn geredet? Tim wurde sofort rot.

»Äh, hi«, antwortete er weltgewandt.

»Ich bin Elsa«, sagte sie. »Kennst du mich noch aus den Chorproben? Ich hab immer neben deiner Mutter im Alt gestanden, als du noch ein ganz kleiner Knirps warst. Da hatte sie dich immer mitgenommen. Mann, bist du groß geworden.«

»Ähm… ja… du auch«

Au! Nein! Kann ich das nochmal zurücknehmen? Tim wäre am liebsten im Erdboden versunken und schaffte es tatsächlich, noch ein klein wenig dunkelroter anzulaufen.

Aber sie lachte. »Ja. Da hast du wohl recht…«

Sie drehte sich etwas und ihr riesiger Bauch bewegte sich bedrohlich hin und her. »Ich komme schon kaum noch durch die engen Gänge hier…«

Und dann bekam sie einen verträumten Gesichtsausdruck. »Bald ist es so weit«, sagte sie. »Dann hat unser Dorf wieder einen kleinen Wirbelwind mehr.«

Sie streichelte liebevoll ihre dicke Kugel.

»Ja, also…«, sagte Tim in die unangenehme Stille hinein, »ich muss dann mal die Einkäufe für Mama holen.«

Und dann fiel ihm ein, wie er seinen Patzer doch noch wieder gutmachen könnte. »Soll ich Ihnen vielleicht beim Tragen helfen?«, fragte er.

Sie lachte nochmal und er schaffte es wieder nicht rechtzeitig, seinen Blick von ihrem auf und ab wackelnden Bauch abzuwenden. »Schon okay…«, lachte sie. »Das kriege ich gerade noch hin. Muss sowieso noch warten bis bei mir alles auf Grün ist. Hilf du mal lieber deiner Mama.«

Sie drehte sich zur Seite, um ihn durchzulassen. Dabei musste Tim sich dicht an ihrem riesigen Bauch vorbeischlängeln. Doch als er schon halb an ihr vorbei war, blieb er auf einmal wie angewurzelt stehen. Das gab es doch nicht. Mit geöffnetem Mund starrte er wieder auf den Bauch, denn gerade in diesem Moment hatte sich in dem Teil, der unter dem T-Shirt hervorlugte eine kleine Beule gebildet. Und die bewegte sich sogar ein wenig hin und her! Elsa war seinen Blick gefolgt und lachte noch einmal von Herzen.

»Hey, guck mal…«, rief sie, ganz begeistert. »Die Kleine will Hallo sagen!«

Und jetzt drückte sie sogar auf die kleine Beule, schob sie vorsichtig hin und her. »Hallo kleine Maus«, flüsterte sie. »Gibst du mir dein Füßchen?«

»Äh, tut das nicht weh?«, fragte Tim völlig verunsichert. »Und… ist das nicht irgendwie äh… gefährlich?«

»Ach Quatsch«, winkte Elsa ab und spielte weiter mit der Füßchen-Beule. »Die streckt sich nur. Ist ganz normal. Hattet ihr das denn nicht in der Schule?«

Gute Frage, fand Tim. Na klar hatten sie in der Schule darüber geredet. Und ja, es hatte auch Zeichnungen und Filme gegeben und alles. Aufgeklärt war er ja auch schon ewig. Also theoretisch wusste er das alles schon. Aber so ´nen Mega-Bauch im echten Leben zu sehen und zu wissen, dass dort wirklich ein neues Leben entstand, direkt unter der Bauchoberfläche … das war doch irgendwie nochmal eine ganz andere Hausnummer.

»Doch, doch… klar«, sagte er also. »Nur eben nicht so … in echt…«

Das letzte Baby hier im Dorf war Lisa gewesen. Und die war jetzt auch schon sechs Jahre alt. Wie das mit ihr und dem Bauch ihrer Mama gewesen war, daran hatte Tim keinerlei Erinnerung mehr.

»Ja, das ist wahr«, seufzte sie. »Es gibt nicht so viel Gelegenheit, dicke Mamas zu sehen, oder? Wer weiß, wie lange es dauert, bis meine Kleine hier einen Spielkameraden bekommt. Hoffentlich klappt es so wie bei dir und Michael damals. Wäre schon toll, wenn wir in ein, zwei Jahren noch eine glückliche runde Mama hier im Dorf hätten.«

Tim nickte stumm und wusste nicht recht, was er sagen sollte.

Die dicke Elsa schien sein Unbehagen zu spüren und erlöste ihn, indem sie sagte: »Naja. Aber Deine Mutter wartet sicher schon auf die Einkäufe und ich halte dich hier auf. Mach´s gut.«

Und damit schob sie ihn sanft an sich vorbei und wandte sich wieder ihrer Einkaufsliste zu.

Das neue Paradies auf Erden

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