Читать книгу Das neue Paradies auf Erden - Oliver Brunotte - Страница 14
ОглавлениеKapitel 8: Der Garten Eden
Und gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin
und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte
1. Mose 2:8
Tim war gerade erst in den Pausenhof getreten, als er schon von einem aufgeregten Michael abgefangen wurde.
»Boah, wo warst du denn bloß? Ich hab schon ewig auf dich gewartet! So lange kannst doch nicht mal du schlafen… «
»Hey, mal ganz ruhig. War nicht meine Schuld«, wehrte sich Tim. »Erst musste ich mein Rad reparieren, dann noch shoppen gehen für Mama und zum Schluss hat die doofe Meditation heute viel länger als sonst gedauert«.
Michael blickte ihn kritisch an.
»Heute…?«, sagte er und ein leicht spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Länger als sonst…?«
»Ja, echt«, sagte Tim zerknirscht, der genau wusste, dass Michael ihn aufzog. »noch länger als sonst. War voll blöd heute. Konnte irgendwie den Kopf nicht leer bekommen.«
Etwas verlegen scharrte Tim mit den Füßen. Die Sache mit der Meditation war ihm schon immer peinlich. Klar, vom Prinzip her fand er das alles ja schön und gut. Und Gottes Argumentation, dass es wichtig sei, wenigstens einmal am Tag ganz still zu werden, in sich hineinzuhorchen und nur ganz bei sich zu sein, leuchtete ihm auch total ein.
Außerdem gefiel ihm, dass Gott dafür im Gegenzug dem ganzen Mumpitz mit den tausenden Gebeten und Versen und stundenlangem Stillgesitze in riesigen Kirchen sofort ein schnelles Ende gemacht hatte. 'Bin doch da', war seine neue Devise. 'Wer was will, spricht mich einfach direkt an'. Und das funktionierte ja auch tatsächlich. Also waren Gottesdienste oder Gebetstreffen überhaupt nicht mehr nötig. Völlig klar.
Nur auf diese eine Sache hatte er eben bestanden: Wer in die Schule ging, sollte vorher erst einmal alles andere hinter sich lassen und sich ganz auf das hier und jetzt konzentrieren. Eine kurze Meditation beim Betreten und Verlassen der Schule, mehr verlangte er nicht von seinen Schäfchen.
Fand Tim genau richtig. Machte total Sinn. Aber immer, wenn er in eins der winzigen Zimmer kam, sich in den darin stehenden bequemen Sessel fläzte und versuchte, sich nur auf das Licht, das ihm entgegen strahlte zu konzentrieren, kam er sich trotzdem irgendwie doof vor.
Gott hatte eigentlich für alles gesorgt, um diesen einen Moment innerer Ruhe für jeden Menschen so angenehm wie möglich zu machen: Die Sessel waren unglaublich bequem und sogar vorgeheizt, das Licht im Raum strahlte in beruhigenden und sich ständig verändernden Farben und Mustern, Gottes Stimme erklang sanft und scheinbar aus allen Richtungen… aber so sehr sich Tim auch anstrengte: Seine Gedanken wollten einfach nie zur Ruhe kommen.
Da konnte Gottes Stimme noch so oft sagen: »Du brauchst jetzt an nichts zu denken. Fühle nur das Hier und Jetzt«, und was er sonst noch alles Schlaues zu erzählen hatte. Half alles nix. Tim dachte darüber nach, in welchem Muster sich die Farben des Lichts änderten, versuchte zu erkennen, welche Tonhöhe Gottes Stimme hatte, merkte wie seine Füße unangenehm kribbelten, weil er sich einbildete, dass er unbedingt genau jetzt mit den Zehen wackeln müsste.
Es dauerte bei ihm generell immer doppelt so lange wie bei Michael, bis Gott irgendwann das Tor erscheinen ließ und ihn (vermutlich total genervt von Tims Rumgehibbel) aus der Meditation entließ. Ein bisschen wurmte es Tim, dass alle anderen anscheinend kein Problem mit der Meditation hatten und nur er wohl nie verstehen würde, was er eigentlich falsch machte.
Egal. Sollten doch andere den Zustand höherer Ordnung erreichen, für ihn war das Ganze halt einfach nur die Eintrittskarte in die Schule, und das war es ihm auf jeden Fall wert.
Michael schnaufte lachend durch die Nase. »Naja, vermutlich hat dich die Sache von gestern doch ein bisschen mehr mitgenommen als du dachtest«.
»Blödsinn. Ist doch nichts passiert« Tim gab sich bewusst cool und lässig, aber vor seinem geistigen Auge raste noch einmal der Rand des Wasserfalls an ihm vorbei. Und die Felsen auf ihn zu.
Er schüttelte den Gedanken schnell ab.
»Heute mal wieder Natur?«, fragte er. »Ich hätte voll Lust mal wieder in der Raumstation um den Mars abzuhängen«
Michael schüttelte nur stumm den Kopf und winkte mit einem Finger damit Tim ihm folgte. Typisch Michael. Musste mal wieder den coolen Geheimnisvollen spielen. Aber Tim tat ihm den Gefallen und kam mit. Vermutlich hatte er wieder mal was Spannendes in den Geschichtseinheiten entdeckt. Hoffentlich nicht wieder die Pest oder die Hexenverbrennung. Das war zwar interessant aber auch echt ekelig gewesen.
Eigentlich hatte er gehofft, Michael heute mal in eins seiner Tore einzuladen. Nach den letzten zwei Einheiten war eigentlich jetzt er mal dran. Und die Raumstation im Marsorbit war so eine coole Natureinheit. Da konnte man einfach jedes Mal etwas Neues und Spannendes entdecken. Der Hammer, dass die Tore so weit ins Sonnensystem reichten.
Sie waren in Michaels kleinen Bereich angekommen. Jeder in der Schule hatte so ein Zimmerchen nur für sich, wo er Bilder aufhängen oder in Regalen seine Trophäen aufstellen konnte. Michaels Geschichtsecke quoll wie immer über von den zig Auszeichnungen, die er schon gesammelt hatte. Den goldenen Dino dort hinten hatte Tim bei sich auch, aber viele der anderen, wie die Hexe, das Auto oder den Faustkeil gab es in seinem Zimmer nur in Bronze oder sogar nur aus Metall. Und da waren noch jede Menge Pokale, von denen Tim nicht mal wusste für welche Einheit sie überhaupt standen.
Er ließ seinen Blick über das restliche Zimmer streifen. Na gut, wenigstens in Natur hatte Michael weniger Pokale als er selbst. Und auch in Mathe glänzte hier wesentlich weniger Gold als bei Tim selbst. Die »Filme und Geschichten« Ecke war natürlich bei beiden prall gefüllt, vom goldenen Protonenpack über den T-Rex in Plastik (die Jurrasic Park Reihe hatten die beiden nach ihren ersten Ausflügen zu den echten Dinosauriern einfach nicht mehr ernst nehmen können) bis hin zu den diamanten schimmernden X-Wing und Tie-Fightern. Okay, okay… die ganzen Filmklassiker standen zwar verpflichtend für alle auf dem Lernplan aber er und Michael hatten es echt vielleicht ein bisschen übertrieben mit dem Studium der frühen Filmgeschichte.
Tim räusperte sich, um Michael nochmal die Mars-Idee schmackhaft zu machen, doch der hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann zeigte er auf das Tor.
Zuerst verstand Tim nicht, was daran so besonders sein sollte. Ein klassisches Unterrichts-Tor, normale Größe, definitiv aus Holz, so wie es aussah mit Rinde. Sollte wohl an irgendeinen Baum erinnern. Vielleicht Natur?
»Äh, ja? … und…?«, fragte er mit verständnisloser Miene.
Michael sah ihn verschwörerisch an und sagte dann mit leiser, fast flüsternder Stimme: »Ich hab keine Ahnung wo das hergekommen ist. Heute Morgen war es Schwups, einfach da«
Tim widerstand der Versuchung zu antworten: »Was war Schwups, einfach da?«
Er beugte sich vor, schaute Michael genau in die Augen, nickte ganz langsam mit ernster Miene und sagte dann überdeutlich betont: »Blöd-sinn!«.
Lachend richtete er sich auf. »Komm schon. Was soll der Quatsch?«
»Das ist kein Quatsch«, protestierte Michael. »Ich habe das Tor nicht ausgewählt. Es ist einfach erschienen«
»Zeig doch mal dein Buch«, meinte Tim, jetzt ganz der überlegene Profi. »Du hast bestimmt einfach nur aus Versehen irgendeine Einheit ausgesucht. Bist vielleicht nur mit dem Finger abgerutscht.«
Michael schüttelte genervt den Kopf, schlug sein Buch auf und hielt es Tim direkt vor das Gesicht.
»Hmmm…«, machte Tim. »Bist du sicher, dass das die richtige Seite ist?« Er wischte ein wenig hin und her. »Bei 'letzte Aktivitäten' finde ich nur Mathe und Geschichte und bei 'aktive Tore' steht hier irgendwie gar nichts«
Tims Stimme verlor bei den letzten Worten immer mehr an Kraft. Das Buch sank aus seinem Blickfeld als Michael die ausgestreckten Arme sinken ließ. Dahinter blickte er direkt in Michaels patentiertes Hab's-dir-doch-gesagt-Gesicht inklusive der obligatorischen hochgezogenen Augenbraue.
»Okay«, meinte Tim, »hast gewonnen. Ich versteh´s nicht. Wie hast du das gemacht? Und wohin geht das Tor?«
»Das ist es ja«, sagte Michael, inzwischen etwas genervt. »Ich hab rein gar nichts gemacht, und ich hab auch keinen blassen Schimmer wo es hinführt.«
»Hmmm«, machte Tim und ging zurück zu dem Tor. Er ließ seine Hand über den Rahmen gleiten. Ja, eindeutig Holz. Und die kleinen Erhebungen und Vertiefungen, die seine Finger spürten, sollten definitiv eine Art Rinde andeuten. Die Klinke der Tür war auch nicht aus Metall, sondern wirkte eher wie ein Ast, der in einem seltsamen Winkel aus diesem merkwürdigen Tor-Baum gewachsen war.
All das war nichts Besonderes. Die Tore sahen häufig seltsam aus, von den quietschbunten Toren der Erstlerner über die behauenen Quader der Mittelalter-Einheiten bis zu den komplett schwarzen Rahmen der Astronomie Einheiten in denen man winzig kleine Lichtpunkte wie ferne Sterne aufblitzen sehen konnte, wenn man genau hinsah. Gott gab sich mit seinen Toren sichtlich Mühe. Das Auge lernt mit.
»Also ich bin fast sicher, dass es irgendeine Natureinheit sein muss«, sagte Tim schließlich. »Das hier soll irgend ´nen Baum darstellen. Vielleicht will Gott, dass wir eine besondere Einheit außer der Reihe machen? »
»Mm-mmm«, machte Michael kopfschüttelnd. »Hatte ich auch schon überlegt. Aber sowas taucht dann im Buch unter 'empfohlene Einheiten' auf. Und ein Tor erscheint erst dann, wenn man die Einheit bewusst auswählt. Sowas hier hatte ich echt noch nie«
Tim zuckte die Schultern. »Und nu? Was machen wir jetzt? Das Tor könnte sonst wo hinführen.«
Plötzlich war das Grinsen wieder in Michaels Gesicht. »Tja. Scheint nur einen Weg zu geben das herauszufinden, oder?«
Mann… Irgendwann müsste Tim ein Gegenmittel gegen dieses Grinsen finden. Das konnte doch nur wieder zu Ärger führen. Er grinste zurück.
»Folg mir…«, sagte er, »ich kenn den Weg!«
Und er griff nach der Klinke.
Eigentlich, dachte Michael, waren die Tore selbst doch das größte Geschenk, das Gott den Menschen je gemacht hatte. Okay, mal abgesehen vom Leben an sich, was er ihnen ja streng genommen auch gegeben hatte. Und natürlich dem Paradies auf Erden, in dem sie jetzt lebten. Aber dann kam Michaels Meinung nach schon ziemlich gleich die Sache mit den Toren. Die waren so unglaublich praktisch und lösten so viele der Probleme, mit denen sich die Menschheit lange lange Zeit hatte herumschlagen müssen.
Während er mit einem Fuß noch auf dem weichen Teppich seines kleinen Zimmers in der Schule stand, trat er mit dem anderen bereits in kniehohes, grünes Gras, durchzogen von knorrigen Wurzeln, die sich in einiger Entfernung zu einem riesigen uralten Baum schlängelten. Michael blickte sich noch einmal um. Das Tor schien auf dieser Seite direkt aus dem Erdboden zu wachsen. Durch die Öffnung konnte er noch immer sein Zimmer und die Pokale auf der anderen Seite sehen. Das fand er immer wieder völlig verrückt.
Tim hatte mal versucht, ihm zu erklären, wie Gott diesen Trick hinbekommen hatte. Irgendwas mit Singularitäten, schwarzen Löchern, die eigentlich keine waren und allen möglichen seltsamen Wörtern wie Quarks und Strings. Und obwohl Michael wusste, was für ein Überflieger Tim im Naturunterricht war, war er sich doch sicher, dass sein Freund dieses eine Mal einfach nur Quatsch erzählt oder wild herumgeraten hatte.
Fakt war doch, dass niemand genau wusste, wie die Tore funktionierten und Gott sich dabei auch nicht auf die Finger schauen ließ. Aber wie nützlich sie waren und wie viele Probleme der Menschen er durch sie mit einem Schlag gelöst hatte, darin waren sich alle Experten einig.
Es war ja nicht nur die Tatsache, dass die Tore den besten und spannendsten Unterricht der Welt ermöglichten, weil jedes Kind und jeder wissbegierige Erwachsene jetzt all die Wunder der Welt direkt selbst entdecken konnte, statt davon nur in Büchern zu lesen.
Das war zwar definitiv eine super Sache, aber Michael fand, dass die Tore vor allem deshalb so genial waren, weil sie endlich und ein für alle Mal das 'Woanders-Problem' der Menschen lösten.
Aus seinen vielen Geschichtseinheiten hatte Michael vor allem eine Erkenntnis mitgenommen: Der Großteil der selbstgemachten Probleme der Menschen war entstanden, weil sie immer woanders sein wollten, als sie gerade waren. Mit ihren Benzin-Karren fuhren sie täglich zur Arbeit (natürlich jeder einzeln in seiner eigenen kleinen Dreckschleuder), die bei fast jedem woanders war als ihre Wohnung. Dann, wahrscheinlich, um sich von der ganzen Fahrerei zu erholen, stiegen sie alle ein- oder zweimal pro Jahr in ein riesiges Metallungetüm, das so voll mit Benzin gestopft wurde, dass es mit unglaublicher Geschwindigkeit - und natürlich wieder unglaublicher Luftverschmutzung - durch die Luft fliegen konnte. Nur um damit an einen Ort zu kommen, der möglichst weit woanders lag. Andere stiegen auf ein Schiff, so groß wie eine kleine Stadt, dessen einziger Zweck es war, jeden Tag woanders anzulegen und möglichst viele Gegenden der Welt mit seinen Abgasen zu beglücken.
Warum diese Leute nicht einfach mal dableiben konnten, wo sie glücklich waren, entzog sich völlig Michaels Verständnis. Jedenfalls waren die Tore die perfekte Antwort auf das Problem. Mit nur einem Schritt konnten die Menschen heute in die Wüsten Afrikas, zu den Stränden der Karibik oder auf die trubeligen Straßen der New Yorker Innenstadt reisen.
Michael erinnerte sich noch gut an einen Ausflug, den seine Familie gemeinsam mit den Adams gemacht hatte. Sie waren durch ein Tor gegangen und direkt neben einer kleinen Hütte in den Alpen herausgekommen. Vier Tage lang waren sie über Berggipfel gewandert und durch eiskalte Gebirgsbäche gewatet. Und immer wieder hatten sie ausgedehnte Pausen auf Almweiden mit herrlicher Aussicht gemacht. Und dann waren sie einfach durch ein Tor getreten und in der nächsten Sekunde wieder genau dort angekommen, wo ihre Reise begonnen hatten. Einfach so.
Die Tore führten zu Orten überall auf der Welt und Michael hatte schon von Leuten gehört, die Tag für Tag nichts anderes taten, als die Schönheit von Gottes wundervoller Erde zu entdecken. Er selbst vertrat eher die Ansicht, dass man nicht unbedingt immer woanders sein musste, um die Welt zu genießen - hey, schließlich war dies hier das Paradies auf Erden.
Und da auch seine und Tims Familie diesen Standpunkt vertraten, hatte er bisher nur wenige Ausflüge gemacht. Okay, da waren die schönen Strände und Gebirge Mallorcas, die Pyramiden, natürlich Jesu Geburtsstadt und ab und zu mal der große Konzertsaal in New York, wo die Konzerte von Tims Papa aufgeführt wurden. Nicht viel, verglichen mit den Weltenbummlern, aber immerhin mehr als viele der Menschen früher in einem ganzen Leben zu sehen bekamen.
Ein Ort wie dieser hier war ihm bei all ihren Ausflügen aber noch nie untergekommen.
»Wo zum Geier sind wir hier?«, flüsterte er.
Tim schien ebenso ratlos zu sein. Das knietiefe Gras unter ihnen wuchs satt und grün und wurde immer wieder unterbrochen von den farbenprächtigsten Wildblumen, Rosen und Sträuchern mit verlockend aussehenden roten und gelben Beeren. In der Ferne sahen sie die Biegung eines Flusses, der sich um das grüne Tal wand.
Die Bäume um sie herum waren voller reifer Früchte. Und obwohl das alles überaus friedlich und schön aussah, wirkte es doch gleichzeitig irgendwie völlig surreal. Die Farben der Blumen waren zu stark, das Licht zu hell und das Gras zu grün. Michael hatte den Eindruck als würde er ein unglaublich detailliert gezeichnetes Bild betrachten, bei dem der Künstler versucht hatte, sämtliche Farben seines Tuschkastens einzusetzen, um alles überirdisch schön darzustellen.
Sah hübsch aus, wäre als Bild vermutlich echt bezaubernd gewesen, aber hier mittendrin zu stehen, fühlte sich einfach nur völlig falsch an. Und dann war da natürlich noch die andere Sache.
»Was macht denn eigentlich dieses ganze Viehzeug hier?«, flüsterte er Tim aus dem Mundwinkel zu. Er versuchte, möglichst überhaupt kein Geräusch von sich zu geben.
Die Schafe, die da in der Nähe des Apfelbaums neben einigen Hunden, einem Hahn und einer Schlange lagen und völlig entspannt vor sich hinschlummerten, hätte er ja noch ignorieren können. Auch dass hier anscheinend Papageien, Truthähne, Pferde und Affen alle gemeinsam beschlossen hatten, genau an diesem Ort ihr Mittagspäuschen einzulegen, war für ihn okay, hey, jeder wie er mochte….
Das alles wäre jetzt gar nicht so sehr problematisch gewesen, wenn da nicht hinter den großen knorrigen Bäumen zwei Tiger und drei Geparden herumgeschlichen wären und ihn der riesige Löwe, der träge über die Wiese auf sie zukam, nicht so unverschämt fröhlich grinsend ins Gesicht geschaut hätte.
»Äh… Tim…?«, sagte Michael jetzt langsam doch etwas besorgter, »Ich fürchte, wir haben hier ein kleines Problem«
Tim hatte den Löwen gar nicht bemerkt, weil er sich gleich nach ihrer Ankunft hingekniet und die seltsamen Blumen direkt vor sich unter die Lupe genommen hatte. »Blühende Wollgras direkt neben einer Bromelie«, murmelte er vor sich hin. »Das geht aber doch gar nicht. Die eine wächst im Regenwald, und das andere braucht eher arktisches Klima. Wieso wachsen die denn hier …«
»Tim…!«
Michaels Stimme war drängender geworden, und er hatte begonnen, ihm von oben auf den Kopf zu tippen. Verärgert sah Tim auf und blickte direkt in die Augen des Löwen, der kaum noch zehn Meter von ihnen entfernt stand und sie aufmerksam beobachtete.
Ganz langsam richtete sich Tim auf.
»Okay… keine Panik«, flüsterte er Michael zu. »Die Ohren sind nicht angelegt, der Schwanz wedelt nicht, er sieht satt aus…«
»Er sieht aus, als würde er zu einem kleinen Dessert nicht nein sagen«, meinte Michael etwas zitterig.
»Klappe jetzt.«, sagte Tim in bestimmtem aber völlig ruhigem Tonfall. »Sieh einfach nach unten. NICHT in seine Augen. Geh so wie ich ganz langsam und leise rückwärts zum Tor zurück«
Michael machte Anstalten sich umzudrehen und auf das Tor zuzusprinten, doch Tim griff mit erstaunlicher Kraft nach seinem Arm.
»Nicht umdrehen, nicht wegrennen. Keine hektischen Bewegungen. Langsam und leise rückwärts hab ich gesagt«
Gemeinsam wichen sie Schritt für Schritt zurück von dem Tier, das sich inzwischen lang ausgestreckt auf den Waldboden gelegt hatte.
»Jetzt müsste das Tor gleich kommen«, flüsterte Tim kaum hörbar. »Nur noch ein kleines Stück. Hauptsache ganz leise und langsam. «
In diesem Moment klatschte ihnen beiden eine große Hand auf die Schultern und eine viel zu laute, fröhliche Stimme rief: »Hey ihr zwei! Da seid ihr ja endlich. Schön dass ihr da seid. Na, wie gefällt es euch?«
Beide Jungen zuckten zusammen. Das laute Geräusch, die plötzlichen Bewegungen, das musste die Aufmerksamkeit des Löwen erregen. Tim wagte es, kurz den Kopf zu heben und einen Blick zu riskieren.
Der Löwe lag dösend in der Sonne und schien sie komplett zu ignorieren. Leise, wie durch einen Strohhalm ließ Tim die angehaltene Luft ausströmen. Er drehte sich um und sah - schon zum zweiten Mal in dieser Woche - in die Augen eines Engels.
»Nun macht euch mal nicht ins Hemd wegen dem Kätzchen«, sagte Gabriel lachend. »Der tut erstens mal überhaupt niemandem was - fragt mal die Schafe da hinten - und zweitens sind wir hier nur als Besucher. Ein bisschen so wie bei euren Mittelalter-Einheiten«.
Daran erinnerte sich Tim nur allzu gut. Die Einheit zur Hexenverbrennung hatte ihn damals ziemlich mitgenommen. Natürlich wusste er ganz genau, dass man sich bei Zeitreisen niemals in den Lauf der Dinge einmischen durfte, großer Scott, das wusste er seit den ersten drei Malen, die er »Zurück in die Zukunft« gesehen hatte. Trotzdem hatten Michael und er damals beschlossen, die arme Frau zu retten, deren einziges Vergehen es war, rote Haare zu haben und sich mit Kräutern besser auszukennen als der dumme Durchschnittsmittelaltertrottel.
Es war ihnen nicht gelungen. Niemand hatte auf sie gehört, niemand hatte sie auch nur beachtet. Und als Michael schließlich versucht hatte, tatsächlich handgreiflich zu werden, war es, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er konnte niemanden berühren, nichts bewegen und rein gar nichts dagegen ausrichten, dass das Schicksal seinen Lauf nahm. Sie waren zu reinen Beobachtern geworden, völlig machtlos gegenüber dem, was um sie herum passierte.
»Bist nicht der Erste, der das probiert«, hatte ihnen damals der ältere Schüler erklärt, der ihnen als Tutor zugeteilt worden war. »Kann man nichts machen… Ist halt so passiert, kannste jetzt nicht mehr ändern. Aber keine Angst, wird schon nicht so schlimm«, fügte er mit einem Blick auf Tim hinzu. »Der Kleine hier ist noch unter zehn, da gibts in den Einheiten die ganzen ekeligen Sachen mit Feuer oder Folter und so nicht zu sehen. Vermutlich wird sie im Fluss beim 'Hexenbad' drauf gehen. Auf jeden Fall so, dass ihr die richtig unschönen Dinge nicht mit ansehen müsst«.
Nach Tims Meinung hatte er an diesem Tag schon mehr als genügend unschöne Dinge gesehen, vielen Dank auch. Überhaupt hatte er die gesamte Einheit für pädagogisch eher ziemlich verunglückt gehalten, weil er und Michael in Phase zwei irgendwie kaum über Hexenverfolgung gesprochen hatten. Sie waren stattdessen bei der Frage hängengeblieben, warum man denn verdammt noch mal nicht eingreifen durfte, wenn derart Furchtbares passierte.
Oder konkreter: Warum hatte Gott, der ihnen all das zeigte, nicht selbst eingegriffen? Oder warum holte er es mithilfe der Tore nicht wenigstens jetzt nach? Ein kurzer Auftritt würde doch reichen: Einmal sein bärtiges Gesicht zeigen, die vermeintliche Hexe aus dem Wasser holen und allen Umstehenden laut und deutlich sagen: »Ihr habt ja wohl nicht mehr alle Schrauben an der Karre! Hört sofort mit diesem Mist auf!«. ´N paar brennende Büsche, ´n bisschen Blitz und Donner dazu… Hat er doch mit den Autos und den ganzen dreckigen Fabriken auch so gemacht, und es hat prima geklappt.
Ihren Pokal für Phase zwei hatten Tim und Michael an diesem Tag natürlich nicht bekommen. Und im Gegensatz zum Geschichtsfreak Michael hatte Tim nie wieder das Bedürfnis gehabt, sich mit dieser Einheit zu beschäftigen. Insgesamt war er von den Ausflügen in die Vergangenheit fürs Erste kuriert. Er hatte sich dann lieber in die Naturwissenschaften vertieft. Da machte alles wesentlich mehr Sinn und man konnte wirklich etwas bewegen und entdecken.
Jetzt aber schienen sie wieder in so einer Geschichtseinheit festzustecken, in der sie zu reinen Beobachtern wurden. Im Hinblick auf den Löwen fand Tim das diesmal aber eigentlich ganz okay. Blieb die Frage, wo, oder besser wann sie hier gelandet waren.
»Das macht trotzdem alles keinen Sinn«, sagte Tim und schüttelte leicht den Kopf. Gabriel sah ihn auffordernd an. »Hier wachsen Pflanzen zusammen, die das eigentlich gar nicht tun dürften«.
Gabriel lächelte ihn an. »Rede weiter«, sagte er freundlich.
Tim zeigte auf die Tiere. »Und die da? Sollten die sich nicht eigentlich an die Kehle gehen? In welcher seltsamen Zeit sollen denn Löwen, Schafe, Hühner und Tiger friedlich miteinander gechillt haben…?«
Gabriels Lächeln wurde noch ein bisschen breiter, als sich auf Michaels Gesicht ein Ausdruck des Erstaunens und der Erkenntnis breit machte.
»Du meinst doch nicht etwa…«, setzte er an, brach dann aber gleich wieder ab.
»Was?«, fragte Tim und sah seinen Freund an. »Erzähl mir jetzt nicht, du hast irgendwann mal eine Einheit über eine Epoche der Geschichte gemacht, in der Jäger- und Beutetiere einen Friedensvertrag miteinander ausgehandelt hatten. Das klingt nicht wirklich glaubwürdig«
Michael ignorierte ihn, blickte nur fragend Gabriel an. »Der… der Urfrieden…?«, fragte er ungläubig. Gabriel schien ganz leicht zu nicken.
»Aber, aber…«, stotterte Michael. »Das kann doch gar nicht sein. Das ist nie wirklich passiert. Es ist nur eine Geschichte. Ein Gleichnis, ein…«
Mitten im Satz brach er ab. Nur sein Mund blieb noch eine Weile offenstehen und seine Augen weiteten sich. Direkt neben ihm war eine Frau aus dem Dickicht getreten. Sehr dicht neben ihm. So dicht, dass ihr Arm um ein Haar seinen gestreift hätte. Tim konnte sehen wie Michael den Atem anhielt und sein Gesicht einen Farbton annahm, der dem der knallroten Äpfel an dem riesigen Baum vor ihnen in nichts nachstand.
Er verdrehte die Augen. Die Sache mit Michael und den Mädchen ging ihm in letzter Zeit echt immer mehr auf die Nerven. Erst neulich hatten sie fast eine komplette Matheeinheit nicht beenden können, weil Michael sich einfach nicht mehr konzentrieren konnte und die ganze Zeit nur auf die blonde Tutorin gestarrt hatte, die ihnen bei der Sache mit den binomischen Formeln hatte helfen sollen. Aber außer Starren hatte er dann auch wieder nichts hinbekommen. Als sie dann irgendwann zu ihnen rübergekommen war und gefragt hatte:
»Na ihr beiden? Braucht ihr Hilfe? «, hatte Michael nur ein gemurmeltes 'HGLGRMPF' herausgebracht und ziemlich dümmlich gegrinst.
»Ne, schon alles klar«, war Tim eingesprungen. »Wir haben´s gleich«. Aber bis er dem völlig abwesend wirkendem Michael alles erklärt hatte, war dann doch nochmal fast eine halbe Stunde vergangen.
Tim befürchtete schon einen neuerlichen Aussetzer seines Kumpels, als die Frau sich noch einmal umdrehte und suchend umblickte. Ja, okay, sie war zugegebenermaßen echt hammer-hübsch. Und gerade mal 30 Zentimeter von Michael entfernt stehengeblieben. Und komplett nackt. Okay, vielleicht war das dann doch das Hauptproblem. Trotzdem fand Tim, dass Michael sich ziemlich albern benahm. Zumindest den Mund hätte er inzwischen mal wieder zuklappen können.
Die Frau wandte sich von ihnen ab und ging ganz langsam, fast ohne ein Geräusch zu verursachen, auf die Lichtung zu. Dabei sah sie sich immer wieder in alle Richtung um. Und die ganze Zeit über umspielte ein geheimnisvolles Lächeln ihre Mundwinkel.
»Eva«, flüsterte Michael ehrfürchtig.
Tim runzelte die Stirn. »Was'n für ´ne Eva?«, fragte er. Er flüsterte nicht. Wenn sie in dieser Einheit wirklich nur Beobachter waren, hätte er auch bequem ein Schlagzeugsolo hinlegen können, ohne dass die geheimnisvolle Schöne ihn beachtet hätte.
»Na die Eva!«, rief Michael. Er schien ganz aus dem Häuschen zu sein. »Die eine. Die echte.«
Tim legte die Stirn in Falten und sah Michael mit seinem lange eingeübten Nun-sei-doch-bitte-nicht-so-blöd-Blick an.
»Die Eva…?«, fragte er. »Die aus der Bibel?«
Michael nickte.
»Die aus der Schöpfungsgeschichte?«
Michael nickte wieder.
»Von der wir beide - und so ganz nebenbei alle Naturwissenschaftler der Welt - wissen, dass sie völliger Quatsch ist?«
Michael hob hilflos die Hände.
»Ich meine, hallo? Urknall, Evolution und so?«
»Ja, aber…«
»Hey… Sogar Gott selbst hat sich doch über die Hardcore-Bibelfans lustig gemacht, die immer noch an den uralten Stories über die Erschaffung der Welt festhalten, weißt du nicht mehr? Wir hatten das Video mit seiner Ansprache in der Einheit über die Rückkehr Gottes doch so ausführlich zerlegt.«
»Tim…«
»Und überhaupt, wann soll denn das Ganze gewesen sein? Vor den Sauriern oder danach, und wo sind die Mammuts und…«
»AAAADAM…! NEEEEIIIN…!
Der Schrei der jungen Frau gellte über die Lichtung und unterbrach Tim, der sonst sicher noch minutenlang weiter argumentiert hätte. Ein Mann war rechts von ihr aus dem Gebüsch gesprungen und hatte versucht, sie zu schnappen. Doch sie wand sich geschickt durch zwei eng stehende Bäume hindurch und entkam so knapp ihrem Verfolger. Der Mann richtete sich wieder auf und begann sofort wieder die Verfolgung aufzunehmen. Dabei lachte er.
»Ich hab dich gleich…«, rief er und sie quietschte vergnügt, während sie vor ihm davon rannte. Tim sah zu wie Adam und Eva im Garten Eden fangen spielten und verstand die Welt nicht mehr.