Читать книгу Das neue Paradies auf Erden - Oliver Brunotte - Страница 15

Оглавление

Kapitel 9: Die Verbannung aus dem Paradies

Und Gott der HERR sprach:

Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner

und weiß, was gut und böse ist.

1. Mose 3:22

Der, den die Menschen Gott nannten, lächelte. Die Menschen hatten ihm schon so viele verschiedene Namen gegeben, ob nun Allah, Jahwe, Brahma oder einfach nur Gott … für ihn spielte das nun wirklich keine Rolle. Wichtig waren ihm die Menschen. Und diese beiden hier lagen ihm momentan besonders am Herzen. Er schaute durch die Augen Gabriels in zwei völlig verwirrte Gesichter und lächelte mit Gabriels Gesicht. Lächeln war wichtig. Engel lächeln immer. Das wirkt beruhigend auf die Menschen.

Und Tim und Michael sollten jetzt ganz besonders ruhig und konzentriert sein, da er ihnen doch die wichtigste Lektion ihres jungen Lebens zuteilwerden lassen wollte. Er konnte beinahe zusehen, wie die Jungs versuchten, das Gesehene zu begreifen und wie sehr sich ihre kleinen, noch jungen Hirne dagegen sträubten, all das hier in das Konstrukt, das ihre Weltanschauung darstellte, zu integrieren. Das war gut. Gott hätte hier niemanden haben wollen, der all diese Widersprüche einfach so schluckte. Davon gab es bereits viel zu viele auf der Welt. Aber jetzt war nicht die Zeit für Widersprüche und Diskussionen. Das konnte später kommen. Oder vielleicht auch nicht. Wie auch immer die beiden sich entscheiden würden. Jetzt war die Zeit zu beobachten und zu lernen.

»Ihr beiden seid hier aus einem bestimmten Grund«, intonierte er in feierlichem Ton. Das hatte leider überhaupt nicht den gewünschten Effekt, denn keiner der beiden Jungs hörte ihm zu. Stattdessen versuchten nun beide gleichzeitig auf ihn einzureden.

»Gabriel«, sagte Michael, der wild mit den Händen gestikulierte. »Das hier kann doch nicht das echte Paradies sein! Das widerspricht allen historischen …«

»Und die Tiere!«, sprudelte es aus Tim heraus, »Die Tiere und die Pflanzen! Das ist doch biologisch gar nicht möglich! Wie soll denn… «

Okay. War zu erwarten gewesen. Da müsste er wohl erstmal ihre Aufmerksamkeit ein wenig fokussieren.

Mit einer Stimme wie Donner, die als Echo von den fernen Bergen widerhallte, sprach er: »Gott der Herr hat euch beide auserwählt, dieses hier zu beobachten. Lauschet den Worten des Herrn!«

Zu dick aufgetragen? Eine Spur zu viel Pathos? In jedem Fall schien das akustische Feuerwerk seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Die beiden starrten ihn mit offenen Mündern an und hatten ihr Geplapper eingestellt. Zumindest fürs Erste. Er setzte das freundliche Engellächeln wieder auf.

»Über alles Andere könnt ihr später noch diskutieren und nachdenken«, sagte er nun wieder in normaler, ruhiger Stimme. »Doch jetzt schauet, was Gott euch - und nur euch beiden - hier und heute hat zeigen wollen. «

Er wies auf Adam und Eva, die sich inzwischen im Schatten des alten Baumes niedergelassen und begonnen hatten, miteinander zu kuscheln.

Michael wurde sofort wieder rot. Niedlich, diese Menschen. Besonders, wenn alles noch so neu für sie ist.

»Keine Angst, Michael«, sagte Gott augenzwinkernd. »Die Geheimnisse, in die ich euch heute einweihen werde, sind nicht die Geheimnisse, an die du jetzt denkst…«

Sofort nahm Michaels Gesicht eine noch dunklere Schattierung von Rot an. Adam und Eva gaben das perfekte Bild eines frisch verliebten Paares ab. Sie saß mit dem Rücken an den Baum gelehnt und Adam hatte seinen Kopf so in ihren Schoß gelegt, dass sie gleichzeitig seine Haare kraulen und ihn von oben mit Weintrauben und Himbeeren füttern konnte.

»Pffff… Weintrauben und Himbeeren zur gleichen Zeit reif… nee… schon klar…«, grummelte Tim leise vor sich hin. Dieser kleine Besserwisser konnte einfach nicht lockerlassen. Auf dem Gesicht des Engels wurde das Lächeln breiter. Genau deshalb war er ja hier. Aber jetzt mussten sie erstmal aufpassen. Er legte einen Finger an die Lippen, um Tim zum Schweigen zu bringen.

»Seht sie euch an« flüsterte er. »Schaut in ihre Augen, was seht ihr?«

Die beiden Jungs schafften es tatsächlich - wenn auch vermutlich nur für sehr kurze Zeit - die Ungereimtheiten der Szene außer Acht zu lassen und sich ganz auf Adam und Eva zu konzentrieren.

»Hmm. Sie sehen verliebt aus«, meinte Michael.

»Ja. Und entspannt. Glücklich«, ergänzte Tim und dachte kurz nach. »Das hier ist die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden. Sie haben alles was sie sich wünschen könnten. In ihrem Blick …«, er zögerte und schaute den beiden fast eine halbe Minute intensiv zu, bevor er weitersprach. »In ihrem Blick«, sagte er schließlich, »sehe ich nichts außer völliger Zufriedenheit. Pures Glück.«

Der Engel lächelte wieder. Genau das hatte er von Tim erwartet. Der hatte schon immer diesen Blick fürs Detail gehabt. Er mochte diesen kleinen Kerl.


Tim fand es wirklich schwer, aber es gelang ihm tatsächlich, all die Ungereimtheiten und Widersprüche zumindest für die nächsten zehn Minuten zu ignorieren und sich voll auf das zu konzentrieren, was Gott ihnen beiden zeigen wollte.

Sie beobachteten aus nächster Nähe, wie die uralte Geschichte sich vor ihren Augen abspielte und wie alles tatsächlich so geschah, wie es in der Bibel geschrieben stand. Tim und Michael sahen gebannt zu, wie die Schlange Eva überzeugte, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Sie tat dies wortlos, schlängelte sich einfach von Eva zu einem dicht über ihr wachsenden Apfel, und das war auch gut so. Spätestens bei einer sprechenden Schlange hätte Tim nicht mehr an sich halten können, all seine guten Vorsätze über Bord geworfen. Er hätte mit Gabriel eine ausufernde Diskussion darüber begonnen, wie eine Schlange ohne Stimmbänder, ohne vernünftige Lippen oder Zähne, ja sogar ohne die dafür notwendigen Muskeln im Sprachzentrum ein Gespräch mit der Mutter aller Menschen führen sollte.

Den Apfel hielt Eva Adam hin, wie zuvor die Weintrauben, aber der schüttelte lächelnd den Kopf. »Hey, das weißt du doch.«, sagte er in leicht tadelndem Tonfall. »Die Äpfel dürfen wir nicht. Den Baum der Erkenntnis hat Gott uns doch verboten.«

Irgendwo in einem verborgenen Hinterzimmer in Tims Kopf schnipste ein kleiner Besserwisser mit dem Finger und bohrte nach, warum er die beiden denn so perfekt verstehen könnte, wenn seine eigene Muttersprache doch zum Zeitpunkt dieses Gesprächs noch lange nicht entstanden war. Tim schloss die Tür zu dem Hinterzimmerchen und konzentrierte sich wieder voll auf das Gespräch zwischen Adam und Eva.

»Klar weiß ich das«, erwiderte Eva und ließ den Apfel verführerisch über Adams Mund hin und her baumeln. »Aber sonst weiß ich halt nicht viel. Und du auch nicht.«

Sie zupfte an Adams lockigen Haaren. »Wir haben hier so viel, aber ausgerechnet 'Erkenntnis' gehört nicht dazu«, sagte sie mit einem leicht wehmütigen Unterton in der Stimme.

»Versteh ich nicht«, sagte Adam und setzte sich auf.

»Genau das ist das Problem«, gab Eva zurück. Auch sie richtete sich jetzt auf. »Dieses 'Versteh ich nicht' ist hier doch so etwas wie unser Lebensmotto: Wir leben in dieser großartigen Welt, genießen all die wunderbaren Gaben Gottes, aber verstehen tun wir sie einfach nicht.«

Sie zeigte auf die Sonne »Warum kommt tagsüber das helle Licht, das uns wärmt, und nachts nur das kalte, kleine Licht? Und wohin gehen die beiden, wenn wir sie nicht sehen?«

»Ja, also…«

»Warum wachsen all die leckeren Früchte um uns? Und wozu gibt es die schönen Blumen?«

Adam kratzte sich am Kopf. »Na, vielleicht einfach nur so? Um uns eine Freude zu machen?«

»Und Einiges passt einfach so gar nicht zusammen«, meinte sie. »Warum hat Miezie hier zum Beispiel so riesige Zähne?« Sie griff beherzt in das Maul des Löwen und zog seine Lippen auseinander. »Wer braucht denn solche Riesenbeißer, wo doch alle Früchte weich und das Gras saftig ist?«

»Hey«, protestierte Adam, »Den hab ich 'Löwe' genannt! So soll der heißen. Miezie klingt total blöd.«

Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und streichelte liebevoll seine Wange. »Gott hat uns all das hier geschenkt. Doch er schenkte uns auch das hier.« Ihr Finger tippte zärtlich an Adams Stirn.

Klar, schoss es durch Tims Kopf, ohne dass er den Gedanken in sein geistiges Hinterzimmer verbannen konnte, die allerersten Menschen wissen schon, dass sie mit dem Gehirn denken, und dass das in ihrem Kopf sitzt. Nee, is klar…

»Warum sollte uns der Herr Verstand geben«, fragte Eva, »wenn wir ihn nicht gebrauchen sollen? Sollen wir nicht denken? Sollen nicht fragen? Nicht seine wunderbare Welt entdecken und versuchen alles zu verstehen?«

Adam dachte eine Weile über ihre Worte nach. Dann ergriff er ihre Hände, die noch immer den Apfel umschlossen hielten.

»Gott der Herr ist gütig und weise«, überlegte er. »Er würde uns nicht mit der Gabe des Denkens segnen, wenn er nicht wollte, dass wir diese auch benutzen.«

Er stand auf, zog sie mit sich. »Ich glaube, du hast Recht. Der Baum der Erkenntnis ist keine Versuchung. Es ist eine Prüfung für uns.«

Er ging nun auf und ab, sichtlich bewegt von der Erkenntnis, die er gerade hatte. »Wir könnten unser ganzes Leben hier in ewigem Glück leben und uns an all den wunderbaren Gaben Gottes hier erfreuen, aber dabei würden wir doch sein größtes Geschenk verschmähen. Die Gabe, selbständig zu denken, seine Welt zu erforschen und zu verstehen, das ist das wahre Wunder, das er uns geschenkt hat. Es wäre eine Sünde unseren Verstand nicht zu benutzen.«

Eva schaute ihn ernst an. Dann hob sie den Apfel, ihre Augen noch immer in denen von Adam.

»Gehst du mit mir auf dem Weg der Erkenntnis?«, fragte sie ihn leise und biss in den Apfel.

»Auf den Weg der Erkenntnis«, sagte nun auch Adam und biss ebenfalls ein Stück aus dem Apfel.


Michael sah sich um. Wenn die Geschichte in der Bibel richtig wiedergegeben wurde, dann müsste jetzt gleich Gott auftauchen, die beiden zur Schnecke machen und sie dann aus dem Paradies verbannen. Das würde ihn schon sehr interessieren. Der angehende Historiker in ihm, versuchte zwar noch immer (vergeblich) das Gesehene irgendeiner Epoche der Menschheitsgeschichte zuzuordnen. Doch trotz aller Skepsis brannte er natürlich darauf, den ersten dokumentierten Dialog zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung mitzuerleben. Ob Gott sich als flammender Busch zeigen würde? Oder in der Gestalt des alten weisen Mannes, die er für seine Rückkehr gewählt hatte?

Aber irgendwie passierte einfach gar nichts. Die beiden standen nur so da. Kein himmlisches Donnerwetter, kein spektakulärer Rausschmiss. Die beiden schauten sich einfach nur kauend in die Augen und nix passierte.

»Na Klasse«, flüsterte er Tim zu. »Das war wohl nix, was?«

Doch Tim antwortete nicht. Wie elektrisiert starrte er zu beiden hinüber. »Äh… Alles klar, Kleiner?«, fragte Michael und stupste Tim mit dem Zeigefinger sanft gegen den Kopf.

»Ihre Augen, Mann. Guck dir ihre Augen an!«

Tim flüsterte die Worte nur, sein Blick weiter konzentriert und gebannt auf Adam und Eva gerichtet. Michael versuchte zu erkennen, was sein Freund dort sah, aber gerade jetzt wandten sich die beiden von ihnen ab. Sie schienen auf den kleinen Pfad zuzusteuern, der hinter dem großen Baum begann und sich in Richtung der finster wirkenden Berge weit am Horizont schlängelte. Er sah ihnen nach, wie sie sich immer weiter entfernten. Sie gingen langsam, ließen die Schultern hängen und all die Sorglosigkeit und Verspieltheit, mit der sie noch vor wenigen Minuten durch den Garten Eden gehüpft waren, schien von ihnen abgefallen zu sein.

»Hey! Wo gehen die denn jetzt hin?«, fragte Michael.

Tim schüttelte traurig den Kopf. »Fort«, sagte er nur.

Nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Sie verlassen das Paradies. Und kommen nie wieder.«

Um die darauffolgende Pause nicht noch bedeutungsvoller anwachsen zu lassen, räusperte sich Michael lautstark und unternahm den Versuch seinen Freund wieder ein bisschen zurück auf den Boden der Tatsachen zu bringen.

»Dam dam daaaaa…«, machte er mit übertrieben dramatischer Geste. »Und sie kehren niemals zurück«, sagte er mit künstlich tiefer Stimme. »Weil sie einen Apfel gegessen haben. Und jetzt ihr Leben lang Durchfall haben. Und deswegen müssen sie das Paradies verlassen, weil sie eben müssen. Und deswegen ziehen sie in das düstere Gebirge, um dort zu sch…«

»Michael!«, fuhr ihn Tim an. »Hast du das denn nicht gesehen? Ist dir die Veränderung denn nicht auch aufgefallen?«

Michael, noch ganz verwundert von der plötzlichen Ernsthaftigkeit seines Freundes zuckte nur hilflos die Schultern.

»Die gehen weg und kommen nicht wieder«, sagte Tim traurig. »Es stimmt doch, oder Gabriel? Ist das nicht die Lektion, die wir hier lernen sollen?«

Er drehte sich zu Gabriel um. Doch statt in das gütige Dauerlächeln des Engels blickte er dort in das von unzähligen Falten zerfurchte, ernste und müde Gesicht eines uralten Mannes.

»Mann, Mann Jungs…« sagte der mit krächzender, brechender Stimme. »Was habt ihr denn bitte schön angestellt, um hier zu landen…?«

Das neue Paradies auf Erden

Подняться наверх