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2 Zur Charakterisierung der Gesprächspartner

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Mit einigen wenigen Andeutungen zeichnet Platon im Eingangsteil des Menon auch eine bemerkenswert lebhafte Charakterisierung der beiden Gesprächspartner, insbesondere Menons. Von Menon als historischer Person wissen wir, dass er, dem thessalischen Adelsgeschlecht der Aleuaden entstammend, wohl 402 v. Chr. Athen besuchte – dies ermöglicht eine Datierung des Dialoggeschehens des Menon auf eben dieses Jahr – und kurz danach als Offizier an dem von Xenophon in der Anabasis geschilderten Feldzug des jüngeren Kyros gegen seinen Bruder, den Perserkönig Artaxerxes II., teilnahm, in dem er von den Persern gefangengenommen und getötet wurde.14 Xenophon schildert Menon in der Anabasis als einen skrupellosen Machtpolitiker, ohne Loyalität, maßlos und gänzlich von Eigeninteresse und Besitzstreben getrieben:

Der Thessalier Menon strebte ganz offenkundig gewaltig nach Reichtum, nach Befehlsgewalt, um noch mehr zu erraffen, nach Ehre und Ansehen, um noch größeren Gewinn zu machen. Freundschaft wünschte er mit den Mächtigsten, damit er nicht für ungerechtes Tun Rechenschaft geben müsse. Zur Befriedigung seiner Wünsche hielt er für den kürzesten Weg den Meineid, Lüge und Betrug; Geradlinigkeit und Wahrheit hielt er für Einfalt. Nie zeigte er sich als jemandes Freund; wessen Freund zu sein er vorgab, den hinterging er, wie es sich immer wieder erwies. […] Alle, die er als meineidig und ungerecht erkannte, fürchtete er wie Wohlbewaffnete; die Ehrlichen und Aufrichtigen suchte er wie Schwächlinge für sich auszunutzen. Wie ein anderer stolz ist auf seine Gottesfurcht, Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit, brüstete sich Menon mit seiner Fähigkeit zu betrügen, Lügen zu erfinden, die Freunde zu verspotten. Wer nicht zu allem bereit war, den zählte er immer zu den Ungebildeten. […] Des Gehorsams der Soldaten versuchte er sich dadurch zu versichern, dass er an ihren Schandtaten teilnahm. Ehrfurcht und Ergebenheit forderte er mit dem Hinweis, er könne ihnen, wenn er wolle, sehr viel schaden. (Xenophon, Anabasis II/6, 21–27, 76f., übers. von H. Vretska)

Auch das Porträt, das Platon von Menon zeichnet, ist insgesamt wenig schmeichelhaft, aber zum einen insofern differenzierter als dasjenige Xenophons, als Platon Menon im Verlauf des Dialogs eine charakterliche Entwicklung zugesteht, zum anderen im Vergleich zu der Darstellung bei Xenophon zurückhaltender in der Schilderung der charakterlichen Mängel Menons. Die von Xenophon betonte Machtbesessenheit und Besitzgier des jungen Adligen, der zum Zeitpunkt seines Aufenthaltes in Athen 18 bis 20 Jahre alt gewesen sein wird, finden bei Platon Ausdruck in Menons Definitionsvorschlägen von „Tugend“ als „Fähigkeit, über Menschen zu herrschen“ (73c), und als „Fähigkeit, sich die schönen Dinge, die man begehrt, verschaffen zu können“ (77b), wie auch in seiner Gleichsetzung von Gütern (agatha) mit „Gold und Silber sowie Ehre und Macht im Staat“ (78c) und nicht zuletzt in seinem über weite Strecken aggressiven Gesprächsverhalten. Wir erfahren in Platons Text auch, dass der offenbar eitle Menon, der Sokrates wegen seines unvorteilhaften Äußeren angreift, selbst stolz auf seine Schönheit ist (80c), dass er von zahlreichen Liebhabern (erastai) umgeben ist (70b, 76b) und dass es ihm, auch dies eine Andeutung seiner Zügellosigkeit, an argumentativer Disziplin in der Gesprächsführung mangelt (86d).

Schon der Eingangsteil des Dialogs verweist auf manche dieser Charakterzüge. Während in den meisten platonischen Dialogen die Erörterung der zentralen philosophischen Fragen in eine literarische Ausgestaltung der Gesprächsszenerie eingebettet ist und durch diese eingeleitet wird, beginnt der Menon ohne jede Einleitung direkt mit Menons Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend. Diese Abruptheit und Unmittelbarkeit des Gesprächsbeginns dürften ein dramaturgisches Mittel sein, um die Überstürztheit und Ungeduld Menons zu betonen, den Platon direkt „mit der Tür ins Haus fallen“ lässt. Auch im späteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich Menons Voreiligkeit – die er mit vielen anderen der stets auskunftsfreudigen, sich bei näherem Hinsehen aber als unwissend erweisenden Dialogpartner des Sokrates wie Euthyphron, Laches oder Hippias in den nach ihnen benannten Dialogen gemeinsam hat – in seiner Neigung, Fragen entweder vorschnell für beantwortet zu halten oder die Untersuchung abbrechen zu wollen, bevor sie an ihr Ende gelangt ist. Die betuliche und ausweichende Entgegnung des Sokrates auf die Eingangsfrage des Menon – der umständliche Hinweis auf die Thessalier und ihren (vermeintlich) guten Ruf, auf Menons Freund Aristipp und den Einfluss des Gorgias auf die Thessalier sowie die kontrastierende Darstellung der „Klugheitsdürre“ in Athen – erweist sich vor diesem Hintergrund als Mahnung zur argumentativen Sorgfalt und Geduld, als Aufforderung dazu, sich Zeit zu nehmen bei der Suche nach der Antwort auf philosophische Fragen, statt überhastet „ohne Scheu und zuversichtlich zu antworten, wenn jemand etwas fragt, wie es denjenigen zukommt, die Bescheid wissen“ (70b). Menon erweist sich nicht nur in seinem Gesprächsverhalten als überstürzt, sondern auch als unfähig zu einer realistischen Selbsteinschätzung, insbesondere einer Einschätzung seines eigenen Unwissens. Erstaunt reagiert er auf die Bekundung des Sokrates, nicht zu wissen, was die Tugend ist – „weißt du wirklich nicht, was die Tugend ist?“ (71b) –, und er unterstellt als selbstverständlich, dass Gorgias über ein solches Wissen verfüge und daher auch er, Menon, dies täte, wenn er die Ansicht des Gorgias nur korrekt wiedergebe (71c–d). Später bezeichnet Sokrates ihn als einen hybristēs (76a), also jemanden, der eigene Grenzen und Beschränkungen nicht zu erkennen vermag.

Des Weiteren wird Menon als fremdorientiert dargestellt: Er orientiert sich in seinem Tun und in seinen Ansichten vor allem an seiner Reputation und den Erwartungen anderer. Sokrates „droht“ er damit, von dessen bekundetem Nichtwissen in Bezug auf die Tugend „bei sich zu Hause berichten“ zu wollen (71c) – nicht um die Sache geht es ihm also, nicht darum, wissend zu sein, sondern darum, ob jemand von anderen als wissend oder unwissend wahrgenommen wird. Ganz im Kontrast dazu steht die Gleichgültigkeit des Sokrates gegenüber dem, was „die anderen sagen“ – möge ihn Menon doch nur in einen schlechten Ruf bringen, wenn es der Entlarvung des Unwissens über die Tugend dient (71c)! Durch seine Fixierung auf soziale Anerkennung ist Menon das genaue Gegenbild zum „autarken“, nur dem logos verpflichteten und auf soziale Validierung nicht angewiesenen Sokrates.15 Dass Menon sich an fremden Maßstäben orientiert, zeigt sich auch in der unkritischen Übernahme der Ansichten des Gorgias zur Tugend, die er vorbehaltlos zu seinen eigenen erklärt (71d). Dieser Reproduktion dessen, was durch (vorgebliche) Autoritäten wie Gorgias verbürgt ist, setzt Sokrates die Aufforderung an Menon entgegen, „selbst zu sprechen“, also ohne eine solche Autoritätsberufung seine Ansicht zur Tugend zu begründen:

So: Vielleicht weiß [Gorgias] es [sc. was die Tugend ist], und du [weißt], was jener sagte – dann rufe mir in Erinnerung, was er sagte. Wenn du aber willst, sprich selbst: denn du hast doch wohl die gleiche Meinung wie er. – Me: Allerdings. – So: Dann lassen wir doch ihn beiseite, zumal er ja auch gar nicht anwesend ist. Du aber selbst, Menon, bei den Göttern, was sagst du, was die Tugend ist? (71c–d)

Die ausweichende Reaktion des Sokrates auf die Eingangsfrage, mit der Menon Sokrates in die gleiche Rolle des Auskunftsgebers zu bringen versucht, wie sie Gorgias ihm gegenüber einnimmt, hat also auch eine pädagogische Funktion: Schon zu Beginn des Gespräches verweigert sich Sokrates der Rolle des Lehrers und der Autorität in moralischen Fragen und nötigt Menon damit dazu, sich eigenständig um die Lösung eines philosophischen Problems zu bemühen.

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