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I Einleitung: Datierung, Form und Inhalt des Menon

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In Platons wohl um 386/385 v. Chr. verfasstem Dialog Menon1 werden zahlreiche Fragen erörtert: diejenigen nach dem Wesen der Tugend und ihrer Lehrbarkeit, nach der Natur und der Möglichkeit des Wissens und des Wissenserwerbs, nach dem Unterschied zwischen Wissen und wahrer Meinung und dem Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung sowie die methodologische Frage nach den Kriterien für die Richtigkeit einer Definition. Auch das pädagogische Problem der richtigen Erziehung der Jugend und die Frage nach der Beurteilung des politischen Zustands Athens zur Zeit des Dialoggeschehens kommen in diesem kurzen Text zur Sprache.

Der Menon, den man in der relativen Werkchronologie meist nach dem Gorgias und dem Protagoras und vor dem Phaidon und dem Symposion ansetzt, gilt als ein „Dialog des Übergangs“ zwischen der sokratischen und der genuin platonischen Phase im Werk Platons.2 Er weist, was die thematische Ausrichtung und die formale Gestaltung des Textes angeht, unverkennbar eine Nähe zum platonischen Frühdialog auf. Mit den Frühdialogen verbindet ihn vor allem das Bemühen um die Klärung von ethischen Begriffen wie Tapferkeit (Laches), Frömmigkeit (Euthyphron), Besonnenheit (Charmides) oder – wie im Protagoras und eben im Menon – des generischen Begriffes der Tugend selbst. Zudem weist der Menon insbesondere im Gespräch zwischen Sokrates und Menon wie die Frühdialoge über weite Strecken die Gestalt eines elenchos auf, also der Prüfung oder Widerlegung einer Aussage durch Konfrontation mit den logischen Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben. Ebenso wie in den Frühdialogen nimmt in ihm die Aporie, also der Zustand der Ratlosigkeit und des Nicht-mehr-weiter-Wissens beim Bemühen um eine Bestimmung ethischer Begriffe, eine zentrale Stellung ein; diese Aporie wird von Menon im Anschluss an die Erörterung der Frage nach dem Wesen der Tugend konstatiert (79d–80b). Schließlich stellen auch die quantitative Verteilung der Gesprächsanteile und die deutliche argumentative Dominanz des Sokrates eine Nähe zu den Frühdialogen her. Andererseits jedoch gibt es auch im Menon Elemente, die auf die spätere Phase des platonischen Philosophierens verweisen. Diese gehen über terminologische Anknüpfungen wie das Auftauchen des späteren Zentralterminus für „Idee“, eidos (72c–e), noch hinaus. Insbesondere entfernt sich der Menon dadurch vom Frühwerk, dass sich in ihm eine Überwindung der Aporie andeutet. Die Wiedererinnerungslehre, die im Zentrum des Menon steht und der dieser Text einen Großteil seiner Bekanntheit verdankt, markiert den Punkt des Übergangs von der Aporie zur konstruktiven Lösung des Problems, wie Wissenserwerb möglich ist. Auch auf die Frage nach der Möglichkeit, die Tugend zu vermitteln, lässt sich, wie zu zeigen sein wird, dem Menon eine positive Antwort entnehmen. Die Aporie wird also deutlich als überwindbar und zudem als notwendiger Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis gekennzeichnet.

Vier Personen lässt Platon im Menon auftreten: Sokrates, Menon, Anytos und einen Sklaven des Menon.3 Es ist anzunehmen, dass Platon beim Leser des Dialogs ein Hintergrundwissen über die drei zuerst genannten Personen annehmen konnte. Das gilt natürlich für Sokrates (469–399 v. Chr.), den 399 v. Chr. in einem Prozess wegen Leugnung der Götter und Verführung der Jugend angeklagten, zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilten und wenig später hingerichteten Lehrer des Platon. Es gilt aber auch für Anytos, der neben dem Hauptankläger Meletos und Lykon im Prozess gegen Sokrates als dessen Ankläger auftrat und aus dessen Zusammentreffen mit Sokrates der Menon für den mit den Zeitumständen vertrauten Leser einiges von seinem Reiz bezieht. Eine deutliche Anspielung auf diesen Prozess findet sich in Anytos’ an Sokrates gerichteter Warnung, nicht negativ über andere Menschen zu sprechen, da ihm dies schlecht bekommen könne (94e). Mit der Konfrontation zwischen Sokrates und Anytos, der als demokratischer Politiker wesentlich an der Wiedererrichtung der Demokratie in Athen im Jahr 403 v. Chr. nach der Herrschaft der Dreißig Tyrannen (404–403 v. Chr.) beteiligt war, macht Platon post eventum deutlich, für wie unberechtigt er diesen Prozess hielt und für wie verfehlt die demokratische Staatsform, die ihn ermöglichte. Auch die den Dialog abschließende Aufforderung des Sokrates an Menon, er möge dafür sorgen, dass sein Freund Anytos „umgänglicher“ werde, da er damit „den Athenern nützen“ würde (100b–c), kann als Hinweis Platons auf die Unrechtmäßigkeit dieses Prozesses gelesen werden. Geschrieben wurde sie zu einem Zeitpunkt, als sich die öffentliche Stimmung vermutlich längst zuungunsten der Ankläger des Sokrates gewendet hatte: Anytos wurde einige Zeit nach dem Prozess gegen Sokrates, möglicherweise noch vor der Abfassungszeit des Menon, seinerseits angeklagt und verbannt. Auch mit der Titelfigur des Dialogs, dem jungen thessalischen Adligen Menon, dürften zumindest einige Leser des Menon Realhistorisches verbunden haben. Der historische Menon (ca. 422–400 v. Chr.) nahm, wie Xenophon in der Anabasis schildert, an der Spitze eines griechischen Söldnerheeres am Feldzug des persischen Prinzen Kyros gegen seinen Bruder, den Perserkönig Artaxerxes II., teil; er wurde dabei von den Persern gefangengenommen und getötet.4 Wenngleich das Porträt, das Platon von Menon zeichnet, differenzierter ist als dasjenige Xenophons, bei dem Menon unverhohlen als skrupelloser Machtmensch dargestellt wird, steht außer Zweifel, dass der Adlige Menon und mit ihm die Wertmaßstäbe des Adels im Menon einer Kritik unterzogen werden. Dies geschieht nicht nur durch die im Rahmen des sokratischen Prüfgespräches vorgenommene Kritik der Argumente Menons und seiner Bestimmungen der Tugend, sondern auch durch den im Mittelteil des Dialogs implizit vorgenommenen Vergleich zwischen dem Adligen Menon und seinem Sklaven, der, was die Fähigkeit zu Einsicht und Erkenntnisgewinnung angeht, deutlich zugunsten des Letzteren ausfällt.

Realhistorischer Anhaltspunkt für das im Menon geschilderte Gespräch ist ein Besuch des Thessaliers Menon in Athen, während dessen er sich mitsamt seinem Gefolge als Gast im Hause des Anytos aufhält. Anlass dieses Besuches war vermutlich, dass Menon in Athen um militärischen Beistand gegen die expansionistischen Bestrebungen des Lykophron, Herrscher der nahe bei Pharsalos in Thessalien gelegenen Stadt Pherai, nachsuchte. Dieser Besuch und damit das Dialoggeschehen lassen sich auf das Jahr 402 v. Chr. datieren; das Gespräch wird, da es sich im Hause des Demokraten Anytos abspielt, nach der Restituierung der Demokratie in Athen im September 403 v. Chr. stattgefunden haben, aber bevor sich Menon dem Feldzug des Kyros anschloss, der zu Beginn des Jahres 401 v. Chr. begann. Das dramatische Geschehen findet also ca. drei Jahre vor dem Prozess gegen Sokrates und seiner Verurteilung statt. Platon liefert somit im Menon auch eine Charakterisierung des geistigen Klimas der Zeit, die diesem Prozess vorausging.

Das im Menon dargestellte Gespräch lässt sich gerafft wie folgt wiedergeben:

(1) Menon eröffnet das Gespräch sehr unvermittelt mit der Frage, ob die Tugend lehrbar oder wie sie sonst vermittelbar sei. Statt hierauf direkt zu antworten, fordert Sokrates seinen Gesprächspartner auf, zunächst einmal zu klären, was die Tugend ist (70a–71d).

(2) Daraufhin bestimmt Menon die Tugend durch die Nennung von Beispielen für tugendhaftes Verhalten. So bestehe die Tugend des Mannes in der politischen Tätigkeit und der Fähigkeit, Freunden Gutes zu tun und Feinden zu schaden, diejenige der Frau hingegen darin, gut für den Haushalt zu sorgen und dem Mann zu gehorchen. Es gebe, so Menon, viele verschiedene Tugenden je nach Alter, Geschlecht und Tätigkeitsbereich eines Menschen. Sokrates kritisiert, dass es Menon damit nicht gelinge, die Einheitlichkeit der Tugend zu erfassen; vielmehr falle diese nach Menons Definition in verschiedene Teile auseinander. Aber ebenso wie z.B. das Gesundsein bei Mann und Frau dasselbe sei, sei es auch die Tugend. Zudem erfordere Tugend in jedem Fall Besonnenheit und Gerechtigkeit; also seien alle Menschen auf dieselbe Weise tugendhaft. Daraufhin bestimmt Menon die Tugend als die Fähigkeit, über Menschen herrschen zu können. Gegen diese zweite Tugenddefinition wendet Sokrates ein, dass dieses Herrschen gerecht sein müsse, um als Tugend zu gelten, Gerechtigkeit aber selbst eine Tugend unter vielen sei, in Menons Bestimmung also das Ganze der Tugend durch eine Tugend definiert würde und es wiederum nicht gelungen sei, die Tugend als etwas Einheitliches zu bestimmen (71d–74b).

(3) Um zu der gesuchten Bestimmung der Tugend zu gelangen, führt Sokrates Menon anhand eines Parallelbeispiels, nämlich der Definition des Ausdrucks „Gestalt“, die Natur einer Begriffsbestimmung vor Augen. Zunächst bestimmt er „Gestalt“ als „etwas, was immer mit Farbe verbunden ist“. Menon wendet ein, dass diese Definition nicht informativ für jemanden sei, der nicht wisse, was Farbe ist, worauf Sokrates in einer zweiten Bestimmung „Gestalt“ als „Grenze eines Körpers“ definiert. Da Menon darauf besteht, die Bedeutung von „Farbe“ zu klären, formuliert Sokrates eine Definition von „Farbe“ nach Art der Begriffsbestimmungen des Sophisten Gorgias, der Menon zustimmt. Sokrates lenkt das Gespräch wieder zur Frage nach der Bestimmung der Tugend zurück (74b–77a).

(4) Menon formuliert daraufhin eine dritte Definition der Tugend. Diese bestehe darin, „die schönen Dinge zu begehren und fähig zu sein, sie sich zu verschaffen“. Sokrates untersucht, nachdem er den Begriff des Schönen durch den des Guten ersetzt hat, zunächst den ersten Bestandteil dieser Definition und versucht zu zeigen, dass alle Menschen das Gute wollen würden, also damit kein Spezifikum der Tugend benannt sei. In Bezug auf den zweiten Bestandteil der dritten Bestimmung zeigt Sokrates, dass dieser den gleichen Problemen ausgesetzt ist wie die zweite Tugenddefinition: Die „Fähigkeit, sich die guten Dinge zu verschaffen“, könne nur dann als tugendhaft qualifiziert werden, wenn dies auf gerechte Weise geschehe; Gerechtigkeit sei aber selbst eine Tugend, so dass hier erneut die Tugend durch einen Bestandteil der Tugend definiert würde. Es müsse also wiederum gefragt werden, was die Tugend selbst ist (77b–79e).

(5) Das Gespräch scheint nun in die Aporie geraten zu sein. Menon vergleicht Sokrates mit einem Zitterrochen, der sein Gegenüber in einen Lähmungszustand versetzt, und stellt das sokratische Prüfgespräch grundsätzlich in Frage. Er fragt, wie man denn die Suche auf etwas richten könne, von dem man nicht wisse, was es ist. Sokrates fasst diese Frage als Ausdruck des eristischen Arguments auf, dem zufolge man die Suche weder auf etwas richten könne, was man bereits kenne, denn was man kenne, brauche man nicht zu suchen, noch auf etwas, was man nicht kenne, da man in diesem Fall nicht wisse, wonach zu suchen sei (79e–81a).

(6) Zur Entkräftung dieses eristischen Arguments beruft sich Sokrates unter Anknüpfung an priesterliche Lehren auf die These, dass alles Lernen Wiedererinnerung sei. Um dies zu demonstrieren, ruft er einen Sklaven des Menon herbei. Mit ihm erörtert er ein mathematisches Problem, um zu zeigen, dass der gänzlich ungebildete Sklave in der Lage ist, von sich aus zu einer Lösung dieses Problems zu gelangen, indem er sich an schon Gewusstes erinnert. Das mathematische Problem besteht darin, ausgehend von einem gegebenen Quadrat zu bestimmen, wie lang die Seiten eines Quadrates sind, dessen Fläche doppelt so groß ist wie die des Ausgangsquadrates. Das Gespräch zwischen Sokrates und dem Sklaven nimmt folgenden Verlauf: Nachdem der Sklave zweimal eine falsche Lösung des Ausgangsproblems formuliert hat, gelangt er zu einer Einsicht in sein eigenes Nichtwissen, die Sokrates als „Fortschritt im Erinnern“ auffasst. Unter dem Einfluss der Fragen des Sokrates gelingt es ihm schließlich, die richtige Lösung zu ermitteln, die darin besteht, dass die Seitenlänge des gesuchten Quadrates der Länge der Diagonale des Ausgangsquadrates entspricht. Sokrates betont gegenüber dem zuhörenden Menon, dass der Sklave nur seine eigenen Meinungen äußern und von niemandem belehrt werden würde (81e–85d).

(7) Sokrates verknüpft dabei die Wiedererinnerungslehre mit dem Thema der Seelenunsterblichkeit. Zum einen wird die Möglichkeit der Wiedererinnerung mit dem Hinweis auf die Seelenunsterblichkeit begründet: Weil die Seele unsterblich und schon oft wiedererstanden sei, könne sie sich auch an schon vor ihrer Existenz Gelerntes erinnern. Zum anderen schließt Sokrates an das Gespräch mit dem Sklaven die Überlegung an, dass, da dieser sein Wissen offenbar nicht durch Lernen in diesem Leben erlangt habe, er dieses Wissen bereits vor seiner Geburt erworben haben müsse, die Seele also unsterblich sei (81a–e, 85d–86c).

(8) Weil Lernen als Wiedererinnerung möglich sei, müsse man, so Sokrates, mit der philosophischen Suche fortfahren und erneut fragen, was die Tugend ist. Da jedoch Menon darauf besteht, auf die Ausgangsfrage nach der Lehrbarkeit der Tugend zurückzukommen, schlägt Sokrates mit der Hypothesis-Methode ein Verfahren vor, das es ermöglichen soll, diese Ausgangsfrage auch ohne eine Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Tugend zu beantworten. Dieses Vorgehen besteht darin, zunächst zu fragen, unter welcher Voraussetzung die Tugend lehrbar ist, und dann diese Voraussetzung selbst zu prüfen. Sokrates und Menon kommen überein, dass die Tugend, wenn sie Wissen ist (und nur dann), lehrbar sei, so dass zu untersuchen sei, ob die Tugend tatsächlich Wissen ist. Dies sei der Fall, denn Tugend sei ein Gut (ein agathon) und als solches nützlich; der Nutzen von Gütern hänge aber mit Wissen in der Weise zusammen, dass Güter nur dann nützlich seien, wenn ihr Gebrauch von Wissen geleitet sei; daher würde auch die Tugend, wie alles Nützliche, Wissen, und zwar Wissen im Sinne von Überlegung (phronēsis), miteinschließen und sei lehrbar. Mit dem Nachweis der Lehrbarkeit der Tugend sei auch gezeigt, dass diese den Menschen nicht von Natur aus zukomme (86c–89c).

(9) Der folgende Gesprächsabschnitt allerdings konterkariert das Ergebnis des vorhergehenden: Sokrates meldet Zweifel daran an, ob die Tugend tatsächlich ein Wissen und daher lehrbar ist. Wenn sie nämlich lehrbar sei, müsse es doch auch Lehrer und Schüler dafür geben. Aber wer sind solche Lehrer der Tugend? Diese Frage erörtert Sokrates zunächst mit dem hinzutretenden Anytos. Sokrates schlägt vor, die Sophisten als Lehrer der Tugend anzusehen: Ebenso wie man in anderen Wissensbereichen Lernwillige zu denjenigen schicken würde, die als Experten in einem Gebiet anerkannt sind und sich als Lehrer darin anbieten, solle man auch diejenigen, die die Tugend lernen wollen, zu den Sophisten, die als Lehrer der Tugend bereitstünden, schicken. Das lehnt Anytos, obwohl er nie einem Sophisten begegnet zu sein zugibt, entrüstet ab – die Sophisten seien doch nur Verderber der Jugend! Lehrer der Tugend seien vielmehr die „rechtschaffenen Athener“. Allerdings muss Anytos im Gespräch mit Sokrates einräumen, dass auch berühmte Feldherren und Politiker Athens, obwohl sie selbst als tugendhaft anerkannt wurden, bei dem Versuch gescheitert seien, ihren Söhnen die Tugend zu vermitteln. Also, meint Sokrates, sei die Tugend wohl doch nicht lehrbar. Anytos verlässt verärgert den Ort des Geschehens, nicht ohne Sokrates dafür zu tadeln, dass er schlecht über angesehene Athener spreche. Sokrates führt das Gespräch mit Menon fort, der sich nunmehr unsicher ist, ob die Tugend lehrbar ist oder nicht. Da, so Sokrates, weder die Sophisten noch die rechtschaffenen Athener unstrittig als Lehrer der Tugend anerkannt seien und sich auch die Dichter und Politiker hinsichtlich der Frage der Lehrbarkeit der Tugend nicht einig seien, gebe es offenbar keine Lehrer der Tugend, und diese könne nicht gelehrt werden (89d–96d).

(10) Aber wie, so fragt Menon, können Menschen dann überhaupt tugendhaft werden? Sokrates beantwortet diese Frage mit dem Hinweis darauf, dass auch jemand, der kein Wissen, sondern nur eine wahre Meinung habe, seine Angelegenheiten gut und nützlich regeln könne. So wie jemand, der den Weg nach Larissa nicht kennt, aber eine wahre Meinung darüber hat, als Führer auf diesem Weg taugen könne, könne jemand auch unter Leitung der wahren Meinung tugendhaft werden und andere leiten. Dies provoziert die Fragen Menons, worin dann der Unterschied zwischen Wissen und wahrer Meinung bestehe und warum Wissen als wertvoller gelte als wahre Meinung. Sokrates beantwortet diese Fragen wie folgt: Wissen ist eine wahre Meinung, die „an eine begründende Argumentation angebunden“ ist und die aufgrund ihrer Stabilität – des „Angebundenseins“ an eine Begründung – als wertvoller einzustufen ist als eine bloße wahre Meinung; Letztere nämlich würde schneller als Wissen „aus der Seele des Menschen entfliehen“. Nimmt man also an, dass Tugend ausschließlich durch Wissen oder wahre Meinung entsteht, und geht man des Weiteren davon aus, dass die Tugend nicht gelehrt werden kann, da sie kein Wissen ist, müssen die angesehenen tugendhaften Männer Athens nur aufgrund von wahrer Meinung, also ohne Wissen, zur Tugend gelangt sein. Darin, dass sie das Richtige ohne Wissen treffen können – also ohne sagen zu können, warum sie es tun –, unterscheiden sie sich, so der irritierende Schluss des Dialogs, nicht von Orakelnden und Wahrsagern; sie müssen als „göttlich inspiriert“ gelten (96d–100c).

Der Menon ist, wie aus dieser Inhaltsangabe hervorgehen dürfte, durch einen häufig unvermittelt erscheinenden Wechsel der Themen und Argumentationsebenen gekennzeichnet, der immer wieder die Frage provoziert hat, ob dieser Dialog überhaupt eine thematische Einheit aufweist oder ob in ihm nicht vielmehr eine Reihe disparater Einzelthemen erörtert werden. Irritierend ist auch, dass Sokrates einander widersprechende Thesen – insbesondere die These, dass Tugend lehrbar ist, und diejenige, dass sie es nicht ist – beide zu verteidigen scheint. Der lebhafte Charakter dieses „dramatischen“, d.h. durch einen Wechsel von Rede und Gegenrede bestimmten Dialogs resultiert aber auch aus der plastischen Darstellung der am Gespräch Beteiligten selbst. Platon vermittelt dem Leser ein Bild der Gesprächspartner nicht nur durch die von ihnen vertretenen Thesen, sondern auch durch ihr Gesprächsverhalten. Bei der Interpretation des Menon, und das gilt wohl für alle platonischen Dialoge, darf daher die Ebene der literarischen Gestaltung des Gesprächsverlaufes selbst nicht als philosophisch irrelevant außer Acht gelassen werden.5 Jede Interpretation eines platonischen Textes geht fehl, die sich auf die Objektebene des innerhalb des Gesprächs Erörterten beschränken zu können glaubt, denn die Darstellung des Dialoggeschehens selbst ist bei Platon insofern von philosophischer Relevanz, als in ihr das auf der Inhaltsebene Erörterte szenisch umgesetzt oder kommentiert werden kann.

1 Zur ausführlichen Begründung dieser Datierung vgl. Bluck 1961, 108–120; Canto-Sperber 1991, 319–323. Zum Problem der Datierung der platonischen Dialoge allgemein vgl. z.B. Brandwood 1990.

2 Die Unterscheidung zwischen einer sokratischen und einer genuin platonischen Phase des platonischen Philosophierens ordnet man im Allgemeinen dem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz der Platon-Interpretation (developmentalism) zu, als dessen wichtigster Vertreter G. Vlastos gilt (vgl. z.B. Vlastos 1991, Kap. 2 und 3) und in dessen Zentrum die These steht, dass Platons in der Frühphase methodisch und inhaltlich noch stark von Sokrates geprägte Philosophie sich erst in den späteren Texten zur eigenständigen, genuin platonischen Philosophie mit dem Kernstück der Ideenlehre entwickelte. Diesem Ansatz stellt man – in teils überzogener Polarisierung – den „unitarischen Ansatz“ gegenüber, der z.B. durch Ch. Kahn vertreten wird und dem zufolge es keinen inhaltlichen Bruch zwischen früherer und späterer platonischer Philosophie gibt, sondern Platon seine Theorie in den früheren Schriften aus darstellungstechnischen Gründen noch nicht vollständig entfaltet hat (vgl. Kahn 1996, bes. 38–42, 59–70; zur Anwendung dieses Ansatzes auf den Menon vgl. Kahn 2007). Zur Gegenüberstellung dieser beiden Ansätze vgl. z.B. Söder 2009, 26–28.

3 Zu den im Menon auftretenden Personen und der realhistorischen Situierung des Gesprächsgeschehens vgl. ausführlich Bluck 1961, 120–129; Canto-Sperber 1991, 17–37.

4 Vgl. Xenophon, Anabasis I/2, II/6, 21–29. Vgl. zum historischen Menon auch Kap. II 2.

5 Dies betonen z.B. M. Frede 1992 und Penner 2007.

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