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1.2 Die Einheitsthese (72a–c)

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Die Menon-Gorgias-These wird von Sokrates zurückgewiesen, wobei zunächst ausschließlich der erstgenannte Aspekt dieser These, also ihre relativistische Stoßrichtung, zum Gegenstand der Kritik wird: Nach der Einheit der Tugend habe er doch gefragt, Menon hingegen offeriere ihm eine Vielzahl von Fertigkeiten und Fähigkeiten, bleibe es aber schuldig, das zu benennen, was allen Verwendungsweisen des Ausdrucks aretē gemeinsam sei. Genauso, wie auf die Frage nach dem Wesen der Biene nicht mit einer Aufzählung von Bienenarten zu reagieren sei, dürfe auch die Frage nach dem Wesen der Tugend nicht mit einer Aufzählung verschiedener Tugenden beantwortet werden9:

So: Ich scheine ja großes Glück zu haben, Menon, wenn ich, eine Tugend suchend, einen ganzen Schwarm von Tugenden gefunden habe, der sich bei dir niedergelassen hat. Denn, Menon, um beim Bild des Schwarms zu bleiben: Wenn ich fragte, was das Wesen der Biene ist, du mir aber sagtest, dass es viele und viele Arten von Bienen gäbe, was würdest du mir antworten, wenn ich dich fragte: „Aber meinst du, dass es dadurch viele und viele Arten sind, und dass sie sich dadurch voneinander unterscheiden, dass sie Bienen sind? Oder unterscheiden sie sich darin gar nicht, sondern durch etwas anderes, wie z.B. durch Schönheit oder Größe oder etwas anderes dieser Art?“. Sag, was würdest du antworten, wenn du so gefragt würdest? – Me: Darauf würde ich antworten, dass sich die eine von der anderen keinesfalls dadurch unterscheidet, dass sie eine Biene ist. – So: Wenn ich nun hiernach sagte: Wodurch sie sich nicht voneinander unterscheiden, sondern alle dasselbe sind, was, sagst du, ist dies? Du könntest mir doch wohl etwas nennen? – Me: Allerdings! – So: Dann mach es auch so mit den Tugenden […]. (72a–c)

Das Argument lautet also: Die vielen Bienen unterscheiden sich voneinander, aber nicht dadurch, dass sie Bienen sind, also muss es etwas geben, was ihnen als Bienen gemeinsam ist. Und analog: Die vielen verschiedenen Tugenden unterscheiden sich voneinander, aber nicht dadurch, dass sie Tugenden sind, also muss es etwas geben, was ihnen als Tugenden gemeinsam ist. Allgemein: Wenn zwei Dinge ein F sind und sich voneinander durch andere Eigenschaften als durch das F-Sein unterscheiden, dann gibt es etwas, was sie als F gemeinsam haben.

Einen prominenten Kritiker findet dieses sokratische Argument für die Einheitsthese im 20. Jh. in Wittgenstein, der bekanntlich in den Philosophischen Untersuchungen (§§ 66–71) am Beispiel des Ausdrucks „Spiel“ die sokratische ti-esti-Frage als Ausdruck eines verfehlten Verlangens nach Allgemeinheit kritisiert:

Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir „Spiele“ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: „Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘“ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe.10

Der sokratischen Einheitsthese setzt Wittgenstein das Konzept der Familienähnlichkeiten entgegen: So wie ein Familienmitglied z.B. physiognomisch einem anderen ähnlich sein kann, das mit wiederum einem anderen durch die Ähnlichkeit der Stimme verbunden ist, können auch verschiedene Verwendungsweisen eines Ausdrucks durch solche Überlappungen gekennzeichnet sein, ohne dass es aber eine Eigenschaft gäbe, auf die der Ausdruck in all diesen Verwendungsweisen verweisen würde. Nach Wittgenstein wäre das Vorgehen des Menon, die ti-esti-Frage des Sokrates durch die Aufzählung von Beispielen zu beantworten, völlig korrekt, da wir die Frage, was ein X ist, gerade durch den Hinweis auf Beispiele für X beantworten können:

Und gerade so [nämlich durch eine hinweisende Definition] erklärt man etwa, was ein Spiel ist. Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinn verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermanglung eines Bessern.11

Und so wie wir die Frage, was Spiele sind, durch den zeigenden Hinweis auf einzelne Spiele beantworten könnten, könnten wir demnach auch die Frage, was die Tugend ist, durch Hinweis auf einzelne Tugenden beantworten – so wie Menon es tut.

Fragt man, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die von Sokrates vertretene Einheitsthese gegen eine solche Kritik verteidigen lässt, sollte man die folgenden drei Thesen voneinander unterscheiden:

(1) Wenn A ein Fist und B ein Fist, unterscheiden sich A und B nicht durch ihr F-Sein.

(2) Wenn A ein F ist und B ein F ist, ist F-Sein eine Eigenschaft, die A und B gemeinsam ist.

(3) Wenn A ein F ist und B ein F ist, ist F-Sein diejenige Eigenschaft, durch die sich A und B nicht voneinander unterscheiden.

These (1) ist unproblematisch: Wenn Maja eine Biene ist und Willi eine Biene ist, unterscheiden sich Maja und Willi, worin auch immer sie sich unterscheiden, nicht durch ihr Biene-Sein voneinander, und wenn A eine Tugend ist und B eine Tugend ist, unterscheiden sich A und B, worin auch immer sie sich voneinander unterscheiden, nicht durch ihr Tugend-Sein voneinander. Auch (2) bereitet wenig Kopfzerbrechen: Wenn Maja eine Biene ist und Willi eine Biene ist, dann ist Biene-Sein eine Eigenschaft, die Maja und Willi gemeinsam ist, und wenn A eine Tugend ist und B eine Tugend ist, dann ist Tugend-Sein eine Eigenschaft, die A und B gemeinsam ist. (2) lässt sich sogar auf eine Tautologie reduzieren, denn mit dem Konsequens wird nichts anderes gesagt als mit dem Antezedens des Konditionals: „F-Sein ist eine Eigenschaft, die A und B gemeinsam ist“ heißt gar nichts anderes als „A ist ein F und B ist ein F“. Durchaus nicht in dieser Weise unproblematisch ist hingegen These (3), der zufolge, wenn A ein F ist und B ein F ist, F-Sein diejenige Eigenschaft ist, durch die sich A und B nicht voneinander unterscheiden. Die Schwierigkeit liegt hier in der Annahme, dass F-Sein eine eigene, von den Einzeldingen grundsätzlich abstrahierbare Eigenschaft wäre, die kausal dafür verantwortlich ist, dass sich A und B nicht voneinander unterscheiden. Wenn Sokrates Menon, nachdem er ihm das Eingeständnis entlockt hat, dass die verschiedenen Dinge, die F sind, sich nicht durch ihr F-Sein voneinander unterscheiden, auffordert anzugeben, „wodurch sie sich nicht voneinander unterscheiden, sondern alle dasselbe sind“ (hō ouden diapherousin, alla tauton eisin hapasai), dann liegt es nahe, diese Frage so zu interpretieren, dass Sokrates unterstellt, dass das Prädikat „F-Sein“ eine solche Eigenschaft bezeichne, aufgrund derer sich ein A, das ein F ist, und ein B, das ein F ist, nicht voneinander unterschieden. (Auch die Verwendung der kausalen Präposition dia in 72c legt diese Lesart nahe.) Sokrates unterscheidet dann nicht zwischen den oben genannten Thesen (1) und (3): Von der unstrittigen These, dass, wenn A ein F ist und B ein F ist, F-Sein nicht diejenige Eigenschaft ist, durch die sich A und B voneinander unterscheiden – so wie sich die verschiedenen Bienen nicht durch ihre Bienenhaftigkeit, sondern durch Eigenschaften wie Aussehen und Größe voneinander unterscheiden –, geht er umstandslos zu der These über, dass, wenn A ein F ist und B ein F ist, F-Sein diejenige Eigenschaft sei, durch die sich A und B nicht voneinander unterscheiden würden, die also kausal dafür verantwortlich sei, dass das Prädikat „F-Sein“ sich auf A und B anwenden lässt.

Dieser Übergang lässt sich auch so beschreiben: Es fällt uns nicht schwer, Eigenschaften zu spezifizieren, aufgrund derer sich die verschiedenen Dinge, die F sind, voneinander unterscheiden. Sokrates schließt hieraus, dass es auch möglich sein müsse, eine Eigenschaft zu spezifizieren, aufgrund derer sich die verschiedenen Dinge, die F sind, nicht voneinander unterscheiden. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass F-Sein eben diese Eigenschaft sei. Damit ist der Weg für eine These gebahnt, die auch der späteren platonischen Ideenlehre zugrunde liegt und häufig als deren neuralgischer Punkt angesehen wird, nämlich dass, wenn A ein Fist und B ein F ist, es das F-Sein als eine separate Eigenschaft geben müsse, die die formale Ursache dafür ist, dass A und B sich hinsichtlich ihres F-Seins nicht voneinander unterscheiden. Demnach wäre z.B. „das Fromme“ – die Idee des Frommen – die Ursache dafür, dass die verschiedenen frommen Handlungen fromm sind. Später spricht Platon von der „Teilhabe“ (methexis) der Dinge an den Ideen und legt damit nahe, dass die Ideen kausal erklären könnten, dass den Sinnendingen bestimmte Eigenschaften zukommen.12 Nimmt man also an, dass Sokrates die Einheitsthese im Sinne von These (3) versteht, so ist diese nur dann akzeptabel, wenn man schon Ideen als abstrakte Entitäten und Erklärungsgründe für Dingeigenschaften voraussetzt.

In einer anderen Lesart ist dies jedoch nicht der Fall. Zwar verwendet Platon im folgenden Passus (und in 72e) den Ausdruck eidos, also „Form“, „Gestalt“, der im späteren platonischen Werk neben idea als Zentralterminus zur Bezeichnung der platonischen Idee fungiert13:

Auch wenn es viele und vielerlei Tugenden gibt, haben sie doch alle die gleiche Form [eidos], durch die sie Tugenden sind, und darauf sollte man wohl blicken, wenn man als Antwortender einem Fragenden darlegen will, was die Tugend eigentlich ist. (72c)

Es wäre jedoch problematisch, eidos an dieser Stelle oder in Frühdialogen wie dem Euthyphron (6d) und dem Hippias Maior (289d) schon im Sinne der platonischen Idee, also so aufzufassen, dass damit eine eigene Entität bezeichnet ist, die das Referenzobjekt für generelle Terme darstellt.14 Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausdruck eidos schon in den früheren Dialogen wie später im Kontext der platonischen Ideenlehre einen metaphysischen Gegenstand bezeichnet, der als solcher ontologisch ausgezeichnet und vom Bereich der Sinnendinge, des Empirischen, abgegrenzt wird. Diese für die Ideenlehre charakteristische Verwendung steht in den späteren Dialogen zudem häufig in Zusammenhang mit Umschreibungen wie „das Schöne selbst (auto)“ oder „für sich selbst (kat’hauto)“ (Phaidon 78d) oder „das seiner Natur nach Schöne (tēn physin kalon)“ (Symposion 210e), die man im Menon und in den Frühdialogen nicht finden wird. Vielmehr können wir den Ausdruck eidos hier so verstehen, dass damit ein Begriff gemeint ist, dessen Einheitlichkeit sich auch angesichts variierender Verwendungsweisen von Prädikaten in verschiedenen Bezugsklassen durchhält. Wenn Sokrates Menon auffordert, das eidos anzugeben, das die verschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Tugend“ umklammert, fordert er ihn auf, den Begriff zu explizieren, unter den die einzelnen Tugendbegriffe – die Begriffe der Tugend des Mannes, der Frau und des Kindes usw. – subsumiert werden können und der es ermöglicht, die einzelnen Tugenden überhaupt als solche einzustufen.15

Fasst man eidos in diesem Sinne auf, setzt Sokrates mit der Einheitsthese nicht voraus, dass es von den Einzeldingen abstrahierbare Eigenschaften geben müsse, die kausal dafür verantwortlich seien, dass sich zwei Gegenstände, auf die ein Prädikat angewendet wird, nicht voneinander unterscheiden würden. Vorausgesetzt wird dann nur, dass den verschiedenen Verwendungsweisen eines Prädikats wie „ist eine Tugend“ ein einheitlicher Begriff zugrunde liegt, es sich also dabei nicht um eine Homonymie, d.h. einen zufälligen Gleichklang des Wortes bei unterschiedlichen Begriffen (wie bei der Verwendung von „Bank“ im Sinne von „Geldinstitut“ oder „längliche Sitzgelegenheit“), handelt. Die Einheitsthese ist in dieser Lesart nicht darauf angewiesen, Eigenschaften wie „Tugendhaftigkeit“ als abstrakte Entitäten zu postulieren, denn die Einheitlichkeit des Tugendbegriffs muss ja nicht durch ein einheitliches Referenzobjekt des Prädikats „ist eine Tugend“ in all seinen Verwendungsweisen konstituiert werden; sie kann z.B. auch – wie dies in der modernen analytischen Ethik von einigen Autoren vertreten wird – darin bestehen, dass wir, wenn wir etwas eine Tugend nennen, damit eine Empfehlung ausdrücken oder einen Wahlakt anleiten.16

Der Begriff, den Sokrates Menon zu explizieren auffordert, soll dabei als Maßstab, als paradeigma, dienen, mit dessen Hilfe sich die Aussagen des Menon über die Tugendhaftigkeit von Männern, Frauen usw. hinsichtlich ihrer Wahrheit überprüfen lassen, denn erst bei Kenntnis dieses eidos ist deutlich, was genau Menon behauptet, wenn er bestimmte Verhaltensweisen als Tugenden einstuft, und erst dann kann gefragt werden, ob diese Aussagen wahr oder falsch sind.17 Diese Maßstabsfunktion des eidos bzw. der idea wird im Euthyphron ausdrücklich benannt. Hier fordert Sokrates Euthyphron auf, das eidos anzugeben, wodurch alles Fromme fromm ist (6d), und fährt fort:

Lehre mich, was diese Form (idea) ist, damit ich, auf jene blickend und sie als Maßstab (paradeigma) verwendend, von deinen und jemandes anderen Handlungen eine solche Handlung, die so beschaffen ist, fromm nennen kann, und eine solche, die nicht so beschaffen ist, nicht so nenne. (6e)

Sokrates sagt also in dieser Lesart von eidos, dass den vielfältigen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Tugend“ ein Begriff der Tugend zugrunde liegt. Dieser bleibt, so das Argument gegen die Menon-Gorgias-These, konstant auch angesichts der kontextabhängig variierenden Anwendungskriterien für diesen Ausdruck. Zwar wechseln die Beschreibungsmerkmale des Ausdrucks „Tugend“ je nach Bezugsklasse: Wir beziehen uns z.B. auf je andere deskriptive Charakteristika, wenn wir – so Menons Beispiel – Männer oder Frauen oder Kinder tugendhaft nennen. Sehr deutlich wird dieser wechselnde deskriptive Gehalt des Tugendbegriffes, wenn wir die Anwendungen des Ausdrucks aretē auf nicht Belebtes berücksichtigen: Dass z.B. die aretē eines Messers, die darin besteht, gut zu schneiden, mit der aretē eines Mannes oder einer Frau in deskriptiver Hinsicht nichts gemeinsam hat, ist evident. Wir sprechen verschiedenen Gegenständen ein Prädikat wie „ist eine Tugend“ aufgrund je anderer Anwendungskriterien zu. Dies ändert aber, so Sokrates, nichts daran, dass es einen einheitlichen Begriff der Tugend gibt, dessen Bedeutung sich nicht relativ zu den kontextabhängig variierenden Anwendungskriterien ändert und mittels dessen wir über die Tugend sprechen können. Offensichtlich können wir uns, auf diese scheinbare Banalität macht Sokrates im oben zitierten Satz (72c) aufmerksam, sinnvoll fragen, was die Tugend ist, und uns über die Beantwortung dieser Frage streiten. Das aber setzt voraus, dass es etwas gibt, „auf das wir blicken“, an dem wir uns also begrifflich orientieren können, wenn wir diese Frage erörtern. Gäbe es diesen einheitlichen Begriff nicht, wäre es gar nicht möglich, „als Antwortender einem Fragenden darzulegen, was die Tugend eigentlich ist“ (72c), d.h., eine Diskussion über die Tugend käme dann gar nicht in Gang, weil die Diskutanten keinen gemeinsamen Begriff der Tugend besäßen, auf den sie sich beziehen könnten, um die Wahrheit ihrer divergierenden Aussagen darüber, was die Tugend ist, zu überprüfen.

Menon macht also in seiner relativistischen These darauf aufmerksam, dass die Anwendungskriterien für den Ausdruck „Tugend“ kontextvariabel sind; Sokrates widerspricht dem nicht, verweist aber darauf, dass, da diesen verschiedenen Anwendungskontexten ein einheitlicher Begriff der Tugend zugrunde liegt, die Bedeutung des Ausdrucks „Tugend“ sich nicht in seinen Anwendungskriterien erschöpft.18

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