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1 Die erste Bestimmung der Tugend (71d–73c) 1.1 Die Menon-Gorgias-These (71e–72a)

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Auf die Frage danach, was die Tugend ist – oder, wie wir eben auch sagen können, was der Ausdruck „Tugend“ (aretē) bedeutet –, antwortet Menon mit der für ihn typischen Überstürztheit selbstbewusst und forsch wie folgt:

Das ist doch, Sokrates, nicht schwer zu sagen. Zuerst, wenn du die Tugend des Mannes bestimmen willst, ist es leicht einzusehen, dass dies die Tugend des Mannes ist: fähig zu sein, die Angelegenheiten der Polis zu regeln und, indem man dies tut, die Freunde gut zu behandeln, die Feinde aber schlecht, und sich selbst in Acht zu nehmen, dass man selbst nichts Schlechtes erleidet. Wenn du aber die Tugend der Frau bestimmen willst, so ist es nicht schwer darzulegen, dass sie das Haus gut versorgen muss, sich um den Haushalt kümmern und eine Gefährtin des Mannes sein muss. Und wieder eine andere ist die Tugend des Kindes, des Jungen und des Mädchens, und des älteren Mannes, zum einen des freien Mannes und zum anderen des Sklaven. Und es gibt vielerlei andere Tugenden, so dass man nicht in Verlegenheit gerät zu sagen, was die Tugend ist: Die Tugend bezieht sich für einen jeden von uns in Bezug auf den jeweils angestrebten Zweck (ergon) auf die jeweilige Tätigkeit und das jeweilige Lebensalter, und ebenso, Sokrates, tut es, glaube ich, auch die Schlechtigkeit (kakia). (71e–72a)

Menon vertritt mit diesen Ausführungen – die, da Sokrates sie auch Gorgias zuschreibt (71d), häufig als „Menon-Gorgias-These“ bezeichnet werden – einen Relativismus. Er behauptet, dass die Tugend nur kontextrelativ zu bestimmen sei und es daher kein „übersituativ“ Gutes gebe. Nicht die Tugend gibt es demnach, sondern nur eine Vielzahl einzelner Tugenden: die des Mannes und der Frau, diejenige bestimmter Lebensalter und einzelner Tätigkeitsfelder. Mit dieser These, die auch in der jüngeren Moralphilosophie noch vertreten wird3, nimmt Menon eine Ansicht der Sophisten und des Gorgias auf, die einen wesentlichen Differenzpunkt zwischen Sokratik und Sophistik markiert.4 Sokrates und die Sophisten reagieren, wie erwähnt, auf den historisch durch die Wirren des Peloponnesischen Krieges zu erklärenden Verlust eines einheitlichen Verständnisses von Werten und einen Orientierungsverlust in normativen Fragen. Während aber die Sophisten dies tun, indem sie die Möglichkeit, Geltungsansprüche intersubjektiv verbindlich zu begründen, abstreiten und Recht, Sitte und Moralität zu bloßen Konventionen erklären, lehnt Sokrates einen solchen Relativismus ab und beharrt auf der Möglichkeit einer verbindlichen Begründung von Normen und Werten. Der sophistische Wertrelativismus wird von Sokrates im Theaitetos unter Bezugnahme auf die Lehre des Protagoras wiedergegeben; diese besage, dass

in den Angelegenheiten der Polis das Schöne und das Häßliche, das Gerechte und Ungerechte, Fromme und Unfromme tatsächlich genau so für jede Polis ist, wie sie es als Gesetz nach ihren Ansichten festlegt, und dass in diesen Angelegenheiten ein Bürger um nichts weiser ist als ein anderer und auch eine Polis um nichts weiser als eine andere. (172a)

Damit wird nicht nur ein deskriptiver Relativismus, sondern auch ein Begründungsrelativismus vertreten: Es wird nicht nur behauptet, dass normative Ansichten etwa über das Gerechte und Ungerechte de facto von Polis zu Polis variieren, sondern auch, dass sich angesichts dieser Differenz Geltungs- und Wahrheitsansprüche nicht begründen lassen. Sokrates – der im Theaitetos ausführlich auch den im homo-mensura-Satz des Protagoras5 ausgedrückten erkenntnistheoretischen Relativismus kritisiert6 – drängt gegen diesen Wertrelativismus darauf, dass Recht und Sitte nicht irreduzibel relativ auf situative und soziale Kontexte sind, sondern dass die kontextrelativen einzelnen normativen Orientierungen durch ein gemeinsames Konzept der Tugend miteinander verklammert sind. Eben dies soll sicherstellen, dass nach der Tugend gefragt werden kann und dass Aussagen über die Tugend begründet werden können.

Menon gibt sich mit seiner These jedoch nicht nur als Relativist zu erkennen, sondern auch als Vertreter einer konventionellen Moral. Inhaltlich bestimmt er die Standards der Tugend durch Sozialkonformität, also die Übereinstimmung mit dem, was gemäß sozial etablierten Standards als gut und richtig gilt und erwartet wird: dass z.B. der Mann politisch tätig sein und dabei auf seinen eigenen Vorteil und den Nachteil seiner Feinde bedacht sein, die Frau hingegen im Haushalt tätig sein und dabei dem Mann gehorchen müsse. Dieser Konventionalismus steht in offensichtlichem Gegensatz zu sokratischen und platonischen Positionen: Die Tugend der Frau in der Versorgung des Haushalts zu sehen, widerspricht z.B. der „emanzipatorischen“ Sicht Platons, die sich in der Politeia in der Aussage niederschlägt, dass Frauen grundsätzlich die gleichen Pflichten und Rechte zukämen wie Männern.7 Er kann aber auch nicht als Übernahme sophistischer Positionen verstanden werden, vertraten doch die Sophisten, wie bereits erwähnt, auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen physis und nomos gerade einen Anti-Konventionalismus, indem sie das durch Konvention Bestehende und das von Natur aus Bestehende einander gegenüberstellten und Letzteres dem Ersteren überordneten. Dementsprechend wird auch im Menon an späterer Stelle ein Vertreter einer konventionalistischen Moralauffassung, nämlich Anytos, gerade als Gegner der Sophisten eingeführt, der die Ansicht, die Sophisten seien Lehrer der Tugend, vehement zurückweist (91b–92d). Die Menon-Gorgias-These stellt also eine Verbindung zwischen einem genuin sophistischen Relativismus und einem nicht mehr sophistischen Konventionalismus dar: Ist der Relativismus ein von den Sophisten übernommenes Element, so dient der Konventionalismus zur Charakterisierung der Dialogfigur des Menon, dessen Tugendverständnis sich ganz an rollenspezifischen und sozial etablierten Erwartungen orientiert.

Als ein drittes Merkmal der Menon-Gorgias-These ist zu nennen, dass sich in ihr ein machttheoretisches Verständnis der Tugend andeutet: Menon bestimmt die Tugend des Mannes durch die Fähigkeit, Freunden zu nutzen, Feinden zu schaden und eigenen Schaden abzuwenden, also durch die Möglichkeit, sich aufgrund eigener Stärke und Geschicklichkeit gegenüber anderen durchzusetzen. Sehr viel ausführlicher wird dieses Element in der zweiten und dritten Bestimmung der Tugend zur Sprache gebracht; von ihm wird noch die Rede sein.

Die Menon-Gorgias-These stellt nicht nur aufgrund der genannten drei Merkmale eine Herausforderung dar, sondern auch deswegen, weil mit ihr implizit der aretē-Begriff selbst problematisiert wird. Mit der Menon-Gorgias-These werden die relativistischen Konsequenzen dieses aretē-Begriffes ausbuchstabiert: Versteht man nämlich entsprechend dem vormoralischen Begriff der aretē Tugend im Sinne attributiven Gutseins, also des Gutseins als etwas oder jemand8, so ist die Tugend stets relativ auf die Funktion, welche ein Ding zu erfüllen, oder die soziale Rolle, der jemand zu genügen hat. Menon spricht vom jeweiligen ergon – also dem Zweck, auf den eine Handlung abzielt –, das den Charakter einer Tugend bestimme und das von Variablen wie Lebensalter und sozialer Rolle abhängig sei (72a). Die aretē des Schusters ist demnach eine andere als diejenige des Arztes, weil beider Rollen durch je unterschiedliche erga bestimmt sind – der Schuster hat Schuhe herzustellen, der Arzt für Gesundheit zu sorgen –, die nichts miteinander gemeinsam haben. Der Relativismus ergibt sich also aus dem Verständnis der aretē als Realisierung der durch Rollen oder Funktionsbestimmungen vorgegebenen erga. Mit der Ablehnung der Menon-Gorgias-These durch Sokrates ist daher auch eine Infragestellung eben dieser Konzeption von aretē verbunden.

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