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1 Zentrale Themen des Menon

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In der Eingangspassage werden – teils explizit, teils andeutend – vier zentrale Themen des Textes kenntlich gemacht, nämlich die folgenden:

(1) die Frage danach, ob die Tugend lehrbar ist;

(2) die Frage danach, was die Tugend ist;

(3) die Frage danach, was Wissen ist;

(4) das Thema der Wiedererinnerung.

Das erste Thema wird sehr direkt in der das Gespräch eröffnenden Frage Menons benannt:

Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Tugend (aretē) lehrbar (didakton) ist? Oder ist sie nicht lehrbar, sondern kann durch Übung erworben (askēton) werden? Oder kann sie weder durch Übung erworben noch gelernt (mathēton) werden, sondern kommt von Natur aus (physei) oder auf irgendeine andere Weise den Menschen zu? (70a)

Zum Verständnis dieser Frage sind zwei sprachliche Erläuterungen nötig. Zum einen ist im Blick zu behalten, dass der für die gesamte antike Philosophie zentrale, aber kaum adäquat zu übersetzende Ausdruck aretē – Substantivierung des Superlativs von agathos, also „gut“ – im Griechischen, anders als die vorherrschende deutsche Übersetzung durch „Tugend“ nahelegt, noch keine spezifisch moralische Konnotation mit sich führt. Das Wort bezeichnet vielmehr die besondere Tauglichkeit eines Dinges zur Erfüllung einer Funktion oder diejenige eines Menschen in einer sozialen Rolle.1 Handelsübliche Übersetzungen von aretē sind daher neben „Tugend“ auch „Tüchtigkeit“, „Bestform“, „Tauglichkeit“ und „Gutsein“. So etwa könnte man von der aretē eines Messers sprechen, die darin besteht, dass das Messer gut schneidet, oder von derjenigen des menschlichen Auges, welche darin besteht, dass das Auge gut sieht. Die aretē eines Schusters bestünde darin, gute Schuhe herzustellen, diejenige eines Arztes darin zu heilen und diejenige eines Redners darin, die Redekunst zu beherrschen, usw. Modern gesprochen: Mit aretē ist im Griechischen ein attributives Gutsein gemeint, ein Gutsein als etwas oder jemand.2 Es ist an die Erfüllung von Funktionen oder Rollen gebunden. Aretē besitzt ein Ding, das seine Funktion, oder eine Person, die ihre Rolle in vorzüglicher Weise erfüllt.

Da dieser funktionale Aspekt von aretē in der Übersetzung als „Tugend“ nicht erfasst wird, kann diese leicht in die Irre führen. Dass im weiteren Verlauf dieses Kommentars dennoch an der Übersetzung von aretē als „Tugend“ festgehalten wird, hat folgenden Grund: Im spezifischen Kontext der platonischen Dialoge ist der Ausdruck „Tugend“ gerade aufgrund seiner moralischen Konnotationen als Übersetzung von aretē durchaus geeignet. Sokrates nämlich löst – wie sich noch zeigen wird3 – den Begriff der aretē von seiner Bindung an Rollen und Funktionen und führt damit, wenngleich eher implizit und andeutend, genau die Dimension von „Gutsein“ in den Begriff der aretē ein, die wir als moralisches, d.h. nicht an Rollen und Funktionen gebundenes Gutsein bezeichnen würden. Er erweitert die Bedeutung dieses Ausdrucks vom Funktionalen auf das Moralische, und um dies kenntlich zu machen, ist der moralische Anklang des Ausdrucks „Tugend“ durchaus willkommen. Ist man sich nur klar darüber, dass diese moralische Bedeutungsdimension von Sokrates gerade gegen den vorherrschenden Sprachgebrauch seiner Zeit als zentrale Bedeutungsdimension von aretē betont wird, spricht somit einiges dafür, die Übersetzung von aretē als „Tugend“ beizubehalten.

Eine zweite sprachliche Anmerkung: Die Verbaladjektive askēton und didakton in der Frage Menons können sich sowohl auf das faktische Lehren bzw. Einüben der Tugend als auch auf die grundsätzliche Möglichkeit, diese zu lehren bzw. einzuüben, beziehen. Menons Frage kann also zum einen als empirische Frage danach, ob die Tugend de facto gelehrt bzw. eingeübt wird, verstanden werden, zum anderen aber auch als Frage danach, ob die Tugend grundsätzlich gelehrt oder eingeübt werden kann. (Beides sind unterschiedliche Fragen, da es natürlich möglich ist, dass etwas lehrbar ist, aber de facto nicht gelehrt wird.) Im weiteren Verlauf des Menon werden beide Dimensionen dieser Frage thematisiert. Eindeutig ist, dass im zweiten Teil des Dialogs (89d–96d) ausführlich die empirische Frage danach, ob es Lehrer der Tugend gibt, erörtert wird; ebenso deutlich ist aber auch, dass es Platon nicht nur um diese empirische Frage geht. Dafür spricht zum einen der Textbefund, denn an mehreren Stellen (insbes. 93a–b) ruft Sokrates in Erinnerung, dass die leitende Frage des Gesprächs diejenige sei, ob die Tugend lehrbar ist, und die empirische Frage nach den Lehrern der Tugend nur im Dienste der Beantwortung dieser Frage stehe.4 Zum anderen wäre es, unterstellte man Platon ein ausschließliches Interesse an der empirischen Frage nach den Lehrern der Tugend, schwer zu erklären, warum das Gespräch sich dann nicht gleich diesem Thema zuwendete. Die vorhergehende ausführliche Thematisierung der Frage nach dem Wesen der Tugend ist offensichtlich (auch) dadurch motiviert, dass deren Klärung eine Voraussetzung dafür ist, die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zuverlässig beantworten zu können.5

Menon fragt jedoch mit seiner Eingangsfrage keineswegs nur nach der Lehrbarkeit der Tugend. Vielmehr fragt er, ob die Tugend auf eine von vier Möglichkeiten erworben werden könne, nämlich (a) indem sie gelernt bzw. gelehrt wird, (b) indem sie eingeübt wird, (c) indem sie jemandem von Natur aus zukommt oder (d) auf andere Weise. Schematisch lässt sich dies wie folgt darstellen:


In diesem Schema wird der Ausdruck „Erwerb der Tugend“ als Oberbegriff verwendet und davon ausgegangen, dass eine Weise des Tugenderwerbs darin besteht, dass sie jemandem durch jemand anderen vermittelt wird, was sowohl dadurch geschehen kann, dass der die Tugend Vermittelnde diese lehrt, als auch dadurch, dass er sie jemandem durch Übung vermittelt. Aus der Eingangsfrage des Menon geht also hervor, dass die Lehrbarkeit der Tugend nur eine von mehreren Möglichkeiten ihrer Erlangung ist. Aus der These, dass die Tugend nicht lehrbar ist, würde daher, wenn sie zuträfe, keinesfalls folgen, dass sie nicht auf andere Weise vermittelt werden oder der Mensch sie nicht auf andere Weise (z.B. „von Natur aus“) erlangen kann.

Menon fasst in seiner Eingangsfrage die vier Möglichkeiten der Erlangung der Tugend als einander ausschließend auf, da er die Nennung jeder dieser Möglichkeiten mit dem Ausschluss der vorher genannten einleitet. („Oder ist sie nicht lehrbar, sondern kann durch Übung erworben werden? Oder kann sie weder durch Übung erworben noch gelernt werden, sondern kommt von Natur aus den Menschen zu?“) Das ist erstaunlich, denn warum sollte es nicht möglich sein, dass jemand die Tugend auf mehrere dieser Weisen zugleich erlangt? Insbesondere erstaunt die strenge Disjunktion zwischen „Lernen“ und „Einüben“ der Tugend. Kann nicht z.B. jemand das Klavierspielen lernen, indem er es übt; ist also nicht Üben eine Methode des Lernens? Will man Menons strenge Disjunktion zwischen Lernen und Einüben der Tugend aufrechterhalten, so muss man annehmen, dass „Lernen“ und „Lehren der Tugend“ hier in einem engeren Sinne zu verstehen sind: Gemeint ist damit eine Vermittlung der Tugend durch Informationsübermittlung. Das Lehren und Lernen der Tugend wären, legt man diesen engeren Begriff zugrunde, zu verstehen wie das Lehren und Lernen der Namen der europäischen Hauptstädte: Sie bestünden darin, dass eine Person, die über Faktenwissen verfügt, dieses einer anderen Person mitteilt, die sich dieses Wissen zu eigen macht. In diesem Sinne wären Lehren und Lernen eindeutig von Einübung zu unterscheiden: Die Fähigkeit zum Klavierspielen könnte man in diesem Sinne nicht durch Lernen, sondern nur durch Übung erwerben.

Von den vier in der Eingangsfrage genannten Möglichkeiten, die Tugend zu erlangen, werden drei im weiteren Gesprächsverlauf explizit thematisiert, nämlich (a), (c) und (d). Durchgängig wird gefragt, ob die Tugend gelehrt bzw. gelernt werden kann; auch die Möglichkeit des Erwerbs der Tugend „von Natur aus“ wird erörtert und verneint (89a–b). Von der Möglichkeit, „auf andere Weise“ die Tugend zu erlangen, ist im Schlussabschnitt des Textes die Rede, in dem Sokrates, wohl ironisch, mutmaßt, dass die Tugend denjenigen, denen sie zukomme, „durch göttliche Schickung“ zuteil werde (99b–100b). Die Möglichkeit des Erwerbs der Tugend durch Übung (askēsis) wird hingegen an keiner Stelle des weiteren Gesprächsverlaufes explizit zur Sprache gebracht. Auch in der späteren Rekapitulation der Eingangsfrage (86c–d) durch Menon ist von ihr nicht mehr die Rede. Menon bezieht sich hier auf die Eingangsfrage als Frage danach, „ob man die Tugend als etwas auffassen müsse, was lehrbar ist, oder als etwas, was von Natur aus oder auf eine andere Weise den Menschen zukommt“.6 Allerdings wird später die Möglichkeit des Tugenderwerbs durch askēsis indirekt thematisiert, nämlich dort, wo die Frage aufgeworfen wird, ob die Vermittlung der Tugend analog zur Vermittlung einer technē gedacht werden kann. Der Erwerb einer technē ist auch auf Übung angewiesen; insofern also Platon die Analogie zwischen der Tugend und einer technē diskutiert und die These zurückweist, dass beide auf die gleiche Weise vermittelt werden könnten, wird damit implizit auch die These zurückgewiesen, dass die Tugend durch askēsis vermittelt werden könne.7 Auch die vierte der von Menon genannten Möglichkeiten wird also, wenngleich verdeckt, im weiteren Gesprächsverlauf erörtert. Dass von ihr in Menons erneuter Formulierung der Ausgangsfrage in 86c–d nicht mehr die Rede ist, kann man schlicht dadurch erklären, dass Menon sie zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs vergessen hat. (Dass Menon sich an Vorhergehendes nicht mehr erinnert, ist ein konstantes und durch seine Bezugnahme auf das Thema der Wiedererinnerung auch inhaltlich bedeutsames Motiv der Gesprächsdramaturgie im Menon.8)

Als zweites Thema wird im Eingangsteil die Frage nach dem Wesen der Tugend kenntlich gemacht. Sokrates leitet von der Frage nach dem Erwerb der Tugend zu derjenigen, was die Tugend ist, wie folgt über:

[Auf die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend würde ein Einheimischer antworten:] Ach Fremder, ich scheine dir so glücklich zu sein zu wissen, ob die Tugend lehrbar ist oder auf welche Weise sie den Menschen zukommt – ich bin aber so weit entfernt davon zu wissen, ob sie lehrbar oder nicht lehrbar ist, dass ich nicht einmal weiß, was die Tugend eigentlich ist. (71a)

Offenbar hängt die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend mit derjenigen nach dem Wesen der Tugend zusammen. Nicht eindeutig ist aber, welcher Art diese Verbindung ist. Häufig wird sie so verstanden, dass die Beantwortung einer Frage der Art „Ist ein X F?“ eine Definition des Subjektausdruckes („X“) voraussetzen würde. Demnach könnte z.B. die Frage, ob die Tugend eine Eigenschaft hat wie diejenige, lehrbar zu sein, nicht beantwortet werden, sofern nicht der Tugendbegriff selbst definiert ist. Dies ist das Platon häufig zugeschriebene priority-of-definition-principle.9 Dieses Prinzip kann jedoch auf zwei Weisen verstanden werden. Die folgenden beiden Lesarten müssen voneinander unterschieden werden:

(i) Es ist nicht möglich zu wissen, ob ein X F ist, wenn man nicht weiß, was ein X ist.

(ii) Es ist nicht möglich, eine wahre Aussage darüber zu machen, ob ein X F ist, wenn man nicht weiß, was X ist.

Dass Sokrates das Prinzip im Sinne von These (i) tatsächlich vertritt, geht aus der folgenden Aussage hervor:

Wovon ich nicht weiß, was es ist, wie könnte ich davon wissen, wie beschaffen es ist? Oder scheint es dir möglich zu sein, dass derjenige, der gar nicht weiß, wer Menon ist, doch wisse, ob dieser schön oder reich oder adlig oder das Gegenteil von allem sei? Scheint dir das möglich? (71b)

Die Rede ist hier von Wissensbedingungen: Ohne eine Klärung dessen, was die Tugend ist, kann die Frage nach ihrer Lehrbarkeit zwar durchaus gestellt und auch beantwortet werden, aber ihre Beantwortung kann nicht den Anspruch erheben, ein Wissen auszudrücken, wird also weniger zuverlässig sein als auf der Grundlage einer vorgängigen Klärung dessen, was die Tugend ist. In diesem Sinne verweist auch Sokrates am Schluss des Gespräches noch einmal auf die Notwendigkeit, das Wesen der Tugend zu bestimmen, um eine zuverlässige Aussage darüber machen zu können, ob sie lehrbar ist:

Genaues (to saphes) darüber werden wir aber erst dann wissen, wenn wir vor der Erörterung der Frage, auf welche Weise die Tugend den Menschen zukommt, es erst einmal unternehmen zu untersuchen, was die Tugend selbst ist. (100b)

Das von Sokrates in 71b zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs gewählte Parallelbeispiel – man kann nicht wissen, ob Menon schön ist, wenn man nicht weiß, wer Menon ist – hat den Interpreten Rätsel aufgegeben, denn zu wissen, wer Menon ist, heißt gerade nicht, über eine Wesensbestimmung von Menon zu verfügen, sondern, ihn identifizieren – von anderen Personen unterscheiden – zu können. Dies hat Anlass zu der These gegeben, dass es sich beim Wissen über die Tugend, das Sokrates als Voraussetzung für ein Wissen über die Eigenschaften der Tugend verlangt, nicht um ein Definitionswissen, sondern um ein Identifikationswissen handele.10 Allerdings kommt es Sokrates im weiteren Gesprächsverlauf offensichtlich auf ein Wissen über das Wesen der Tugend als Voraussetzung für eine mit Wissensanspruch zu äußernde Antwort auf die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend an. Dass das Parallelbeispiel hierzu nicht passt, kann man, die Gefahr der Überinterpretation vermeidend, dadurch erklären, dass Sokrates nach einem für Menon möglichst eingängigen, weil auf Menon selbst bezogenen Beispiel für das priority-of-definition-principle im Sinne von These (i) sucht.

Mit der These, dass wir nicht wissen können, ob die Tugend lehrbar ist, ohne vorher das Wesen der Tugend bestimmt zu haben, ist aber nicht gesagt, dass ohne eine solche Bestimmung überhaupt keine wahre Aussage über die Lehrbarkeit der Tugend möglich sei, etwa im Sinne einer Vermutung oder einer Plausibilitätsannahme. Dass der epistemische Status einer Aussage über die Lehrbarkeit der Tugend nicht derjenige des Wissens ist, schließt nicht aus, dass damit etwas Wahres gesagt wird. Das priority-of-definition-principle im Sinne von These (i) zu akzeptieren, legt also nicht darauf fest, es im Sinne von These (ii) zu akzeptieren. Auch Sokrates vertritt im Menon das Prinzip nicht im Sinne von These (ii). Dies geht am deutlichsten aus dem später geschilderten Hypothesis-Verfahren (86c–89d) hervor: Die Hypothesis-Methode, mit deren Einführung und Anwendung Sokrates auf die (zumindest: scheinbar) scheiternden Versuche einer Wesensbestimmung der Tugend reagiert, zeigt, dass eine nicht auf ein Wissen über die Tugend gestützte Untersuchung über die Eigenschaften der Tugend durchaus möglich ist, da man auf der Grundlage von hypothetischen Annahmen über die Tugend zu einer Beantwortung der Frage nach ihrer Lehrbarkeit gelangen kann. Auch die den Dialog abschließende Differenzierung zwischen Wissen und wahrer Meinung zielt gerade darauf ab, dass man auch ohne Wissen zu wahren Aussagen über einen Gegenstand gelangen kann.11 Die Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Tugend wird also nicht als notwendige Bedingung dafür aufgefasst, die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend beantworten zu können. Wohl aber gilt, dass die Antwort auf die zweitgenannte Frage ein größeres Maß an Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit für sich wird beanspruchen können, wenn die erstgenannte Frage beantwortet ist. Wer nicht weiß, was X ist, wird eine Aussage über die Eigenschaften von X nicht mit Wissensanspruch machen können.12

Während die ersten beiden Zentralthemen explizit zum Gegenstand gemacht werden, wird das dritte Thema – die Frage nach der Natur des Wissens – auf indirekte Weise eingeführt. Platon lässt die Gesprächspartner im Eingangspassus in auffallender Häufigkeit das Verb eidenai, also „wissen“ (bzw. eine Partizipial- oder Flexionsform davon) verwenden:

So: Wenn du einen von den hier Wohnenden so fragen willst, [ob die Tugend lehrbar ist,] wird jeder lachen und sagen: Ach Fremder, ich scheine dir so glücklich zu sein zu wissen, ob die Tugend lehrbar ist oder auf welche Weise sie den Menschen zukommt – ich bin aber so weit entfernt davon zu wissen, ob sie lehrbar oder nicht lehrbar ist, dass ich nicht einmal weiß, was die Tugend eigentlich ist. Auch mir selbst geht es so: ich […] tadle mich dafür, gar nichts über die Tugend zu wissen. Wovon ich aber nicht weiß, was es ist, wie könnte ich davon wissen, wie beschaffen es ist? Oder scheint es dir möglich zu sein, dass derjenige, der gar nicht weiß, wer Menon ist, doch wisse, ob dieser schön oder reich oder adlig oder das Gegenteil von allem sei? […] – Me: Nein, aber du, Sokrates, weißt du wirklich nicht, was die Tugend ist? […] – So: [Nein, und] ich bin, wie mir scheint, auch keinem anderen begegnet, der es wüsste. – […] Me: [Hattest du denn nicht von Gorgias den Eindruck], dass er es wusste? – So: […] Vielleicht weiß er, was die Tugend ist, und du [weißt], was jener sagte. (71a–c)

Mit dieser kaum zufälligen Ballung des Wissensbegriffes auf engem Raum wird – längst bevor das Wissensthema ausdrücklich thematisiert wird – signalisiert, dass es im Folgenden nicht nur darum geht zu fragen, ob die Tugend lehrbar ist und was die Tugend ist, sondern auch darum zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen man wissen kann, dass die Tugend lehrbar ist bzw. was die Tugend ist. Das Thema des Wissens begleitet somit auf einer Metaebene die Erörterung der ersten beiden Themen und ist auf diese bezogen als Frage nach dem epistemischen Status der im Laufe des Gesprächs gemachten Aussagen über das Wesen der Tugend und ihre Lehrbarkeit.

Auch auf das Thema der Wiedererinnerung wird durch Bezüge und Anspielungen verwiesen. Der wichtigste Querverweis besteht darin, dass Sokrates eine Frage stellt, die fast wörtlich jene Frage antizipiert, die später, durch Menon gestellt, den Anlass zur Entfaltung der Wiedererinnerungslehre gibt:

Wovon ich aber nicht weiß, was es ist, wie könnte ich davon wissen, wie beschaffen es ist? (71b)

Und später fragt Menon:

Und auf welche Weise, Sokrates, wirst du das suchen, wovon du nicht einmal weißt, was es ist? Von welcher Beschaffenheit dessen, was du nicht kennst, wirst du denn bei der Suche ausgehen? Und wenn du zufällig darauf triffst, wie wirst du wissen, dass es das ist, was du nicht wusstest? (80d)

Auf diese Frage gibt die Wiedererinnerungslehre eine Antwort, in der die Suche nach dem noch nicht Bekannten als Erinnerung an latent schon Gewusstes konzipiert wird.13 Zudem finden sich im Eingangspassus auch wörtliche Anspielungen auf die Wiedererinnerungslehre: Sokrates bekundet, sich an die Reden des Gorgias in Athen nicht erinnern zu können (71c), fordert aber Menon – da Gorgias ja wohl wisse, was die Tugend ist – auf, ihn daran zu erinnern (71c). Obwohl dies vordergründig als Aufforderung an Menon zu verstehen ist, das von Gorgias Gesagte zu rekapitulieren, wird man im Lichte des gesamten Textes in der Erwähnung des Erinnerungsmotivs auch einen Vorverweis auf die Anamnesis-Lehre sehen können.

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