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3 Der Menon und die Auseinandersetzung mit der Sophistik
ОглавлениеDurch die Nennung des Gorgias von Leontinoi (ca. 485–376 v. Chr.) wird der Menon in den Kontext der Auseinandersetzung des Sokrates mit der Sophistik gerückt.16 Gorgias, mit dem sich Platon ausführlich in dem nach ihm benannten Dialog auseinandersetzt, war neben Protagoras der bedeutendste Vertreter der älteren Generation der Sophisten. Von ihm ist der Traktat Über das Nichtseiende oder Über die Natur in zwei Fassungen überliefert; vor allem aber gilt er als Begründer der Rhetorik und hat als solcher Platons Interesse geweckt und seinen vehementen Widerspruch provoziert.17 Dass Sokrates und, ihm folgend, Platon als die bedeutendsten Kritiker der Sophisten angesehen werden können, ist eine philosophiehistorische Binsenweisheit, und Platons kritische Haltung gegenüber Gorgias geht auch aus dem Eingangsteil des Menon zur Genüge hervor, nicht nur aus dem unschwer als ironisch zu entlarvenden Lob des Gorgias als desjenigen, der die Klugheit nach Thessalien gebracht und die Thessalier gelehrt habe, rasch und unbefangen auf Fragen zu antworten (70b), sondern auch aus der Bekundung des Sokrates, an den Vortrag des Gorgias in Athen erinnere er sich nicht mehr genau und könne deswegen nicht sagen, welchen Eindruck er davon gehabt habe (70c) – eine euphemistische Umschreibung für ein wenig schmeichelhaftes Urteil über Gehörtes. Angesichts der charakterlichen und intellektuellen Defizite Menons lässt auch die Tatsache, dass gerade Menon sich auf Gorgias als Autorität in Sachen Tugend und Tugendlehre beruft (71c), kein günstiges Licht auf Gorgias fallen.
Im Menon signalisiert also Platon dem aufmerksamen Leser seine negative Bewertung der Sophisten und insbesondere des Gorgias in hinreichender Deutlichkeit. Es ist jedoch keinesfalls immer so leicht, sokratisches und sophistisches Philosophieren voneinander zu unterscheiden. Sicherlich ist es kein Zufall, dass Sokrates zu seiner Zeit weitgehend für einen Sophisten gehalten wurde, und es ist auch kaum nur auf eine Böswilligkeit des Komödiendichters Aristophanes (ca. 445–385 v. Chr.) zurückzuführen, dass dieser Sokrates in den Wolken als einen Sophisten darstellte. Sokrates selbst hat diese Wahrnehmung durchaus provoziert und die Differenzen, die ihn von den Sophisten trennten, gelegentlich verschleiert. Dies zeigt sich auch im Menon: Gegenüber seinem späteren Ankläger Anytos gibt Sokrates zu dessen Verärgerung vor, die Sophisten als Lehrer der Tugend für die Jugend zu empfehlen (91b–c). Auch praktiziert Sokrates gelegentlich eine Art von Mimikry, indem er sophistische Argumentationstechniken, insbesondere die Praxis des eristischen Argumentierens, selbst zu übernehmen scheint, wohl mit dem Ziel, den Gesprächspartner und mittelbar auch den Leser dazu aufzufordern, die Mängel in dieser Argumentation zu identifizieren. So ist es im Menon Sokrates selbst, der seinem Gegenüber das eristische Argument gegen die Möglichkeit der Erkenntnisgewinnung in den Mund legt (80e) und der scheinbar ebenso wie die Sophisten die Tugend als ein „Gebrauchswissen“, eine technē, auffasst (90b–91b).18
Zudem gehen sokratische und sophistische Philosophie in wesentlichen Punkten von gemeinsamen Voraussetzungen aus.19 Erst die Beachtung der erheblichen Berührungspunkte zwischen Sokratik und Sophistik lässt die Differenzen zwischen beiden verständlich werden. Erstens teilt Sokrates – der bekanntlich nach Cicero die Philosophie „vom Himmel herabgerufen, sie in den Städten angesiedelt, in die Häuser eingeführt und die Menschen genötigt hat, über Leben und Sitten, Gut und Böse nachzudenken“20 – mit den Sophisten die Hinwendung zu praktischen Fragen wie eben der im Menon erörterten Frage nach der Tugend und ihrer Lehrbarkeit und die weitgehende Abwendung von der Naturphilosophie. Er folgt ihnen in der Ersetzung der von den vorsokratischen Philosophen gestellten Frage nach dem „Urgrund des Seins“ durch die Thematisierung des Menschen als eines handelnden Wesens und der moralischen Bedeutsamkeit seines Handelns. Zweitens kann Sokrates ebenso wie die Sophisten der griechischen Aufklärung zugerechnet werden. Unter „Aufklärung“ ist dabei, sehr grob gesprochen, eine geistige Bewegung zu verstehen, die den Menschen bei seinen existentiellen Fragen nicht mehr auf die Autorität der Götter, sondern auf sich selbst verweist. In genau diesem Sinne ist auch Sokrates ein Aufklärer, da er, sich der Rolle des Lehrers verweigernd, seine Gesprächspartner dazu auffordert, sich nicht auf Autoritäten, auch nicht auf Sokrates selbst, zu berufen, sondern von sich aus zu Einsichten zu gelangen – bereits im Eingangspassus wird ja, wie gezeigt, die Orientierung Menons an fremden Autoritäten sehr kritisch dargestellt. (Die Assoziation zum kantischen „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ als Signum der zweiten („modernen“) Aufklärung des 18. Jh.s ist hier durchaus naheliegend und angebracht.) Drittens teilt Sokrates mit den Sophisten auch einen anti-konventionalistischen Zug seines Philosophierens. Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen physis und nomos, zwischen dem von Natur aus Gegebenen und dem bloß Konventionellen, wie sie z.B. in Platons Gorgias vom Sophisten Kallikles21 und im Protagoras von der Titelfigur22 formuliert wird, kritisieren die Sophisten soziale Institutionen wie das Recht als bloß auf gesellschaftlichen Konventionen beruhend. Was nicht physei, von Natur aus, sondern lediglich nomō, durch Gesetz oder Konvention, entsteht, wird als nicht dem Sein der Dinge zugehörig und daher als nicht objektiv bestehend kritisiert.23 Ausgangspunkt der sophistischen Religionskritik ist dementsprechend die Reflexion auf die Frage, ob die Götter „von Natur aus“, also wirklich, oder nur „nach allgemeiner Meinung“ existieren.24 Auch Sokrates, der sich in seinem Handeln nur von seinem Gewissen, nicht aber von dem als sozial opportun Geltenden bestimmen lässt, ist, ohne jedoch der Religionskritik der Sophisten zu folgen, ein Kritiker des Konventionalismus: Er lehnt es ab, Gültigkeitsansprüche mit dem Verweis darauf zu rechtfertigen, dass eine Meinung allgemein akzeptiert und Teil des Ethos seiner Zeit ist. Das durch Brauch und Sitte Vorgegebene ist keinesfalls notwendig das Richtige; es muss kritisch hinterfragt und nötigenfalls korrigiert werden. Im Menon kritisiert Sokrates Menons Definition der Tugend durch konventionelle Wertmaßstäbe (71e), und auch Anytos wird als Vertreter der konventionellen Moral bloßgestellt und kritisiert (92e). Viertens schließlich reagiert Sokrates als Zeitgenosse der „Sophisten der ersten Generation“ historisch gesehen auf die gleiche Problemlage wie die Sophisten. Diese ist gekennzeichnet durch die Verwirrungen des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) und ein kulturelles Klima der Wertunsicherheit und des Orientierungsverlustes, wie es eindringlich von Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges in einem immer wieder zitierten Passus geschildert wird:
So wütete also Zwietracht in allen Städten, und die, die vielleicht erst später davon ergriffen wurden, überboten jene [anderen] auf die Kunde von dem bereits Geschehenen noch bei weitem durch ihren bisher ungeahnten Scharfsinn im Ausklügeln von Anschlägen und maßloser Rache. Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt als aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung angesehen. Wer schalt und zürnte, war immer zuverlässig, wer widersprach, eben dadurch verdächtig. Gelang jemandem ein Anschlag, so galt er als verständig, durchschaute er einen rechtzeitig, als noch tüchtiger; wer aber seine Maßnahmen schon im Voraus so bedachte, dass er weder das eine noch das andere brauchte, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Feinden. Kurzum, wer mit bösem Tun einem anderen, der erst plante, zuvorkam, erntete Lob, und erst recht, wer einen anderen, der gar nicht daran dachte, dazu anhielt. […] An jemandem Vergeltung zu üben galt mehr, als selber kein Unrecht zu erfahren. […] Denn lieber lassen sich die meisten Menschen gewitzte Bösewichter nennen als einfältige Ehrenmänner; des einen schämen sie sich, mit dem anderen brüsten sie sich. (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg III/82, 3–7, 253f., übers. von H. Vretska/W. Rinner)
Mit diesem Befund der Verwirrung der moralischen Sprache und des Verlustes eines einheitlichen Verständnisses von Werten setzen sich sowohl Sokrates als auch die Sophisten auseinander. Sie tun es allerdings auf kennzeichnend unterschiedliche Weise, und auch der Menon ist, wie sich zeigen wird, ein Dokument dieser verschiedenen Reaktionen auf das Problem der Wertunsicherheit.
1 Zur Entwicklung der Begriffe aretē und agathos, zu ihren verschiedenen Bedeutungsnuancen und inhaltlichen Füllungen im griechischen Denken vgl. ausführlich Adkinds’ Standardwerk Merit and Responsibility. A Study in Greek Values (1960); zum Begriff der aretē vgl. auch Kube 1969, 40–47.
2 Zur Erläuterung der (logischen) Unterscheidung zwischen prädikativem und attributivem Gutsein vgl. Geach 1956. Im Falle einer attributiven Verwendung „klebt“ der Ausdruck „gut“ an seinem Bezugswort, d.h., der Satz „X ist ein gutes F“ lässt sich dann nicht in die Konjunktion „X ist gut und X ist F“ zerlegen, so wie z.B. „Sie ist eine gute Schachspielerin“ sich nicht analysieren lässt als „Sie ist gut und eine Schachspielerin“, sondern bedeutet „Sie ist gut als Schachspielerin“.
3 Vgl. hierzu Kap. X 3.2.
4 In 93b ist aufgrund des Kontextes der Stelle die Übersetzung von didakton mit „lehrbar“ plausibel (ähnlich in 89d). Zur Bedeutung von didakton im Menon vgl. ausführlich Brunschwig 1991.
5 Vgl. Scott 2006, 22.
6 Zu beachten ist, dass die Erwähnung der Möglichkeit des Tugenderwerbs „durch Übung“ in der Eingangsfrage (70a) nicht zweifelsfrei dem platonischen Originaltext zugerechnet werden kann. In der Handschrift (F) des Menon taucht diese Hinzufügung nicht auf; es könnte sich also um eine von einem Herausgeber vorgenommene Textkonjektur handeln (vgl. hierzu auch Bluck 1961, 202f.). Die meisten Herausgeber entscheiden sich gegen die Handschrift (F) dafür, die Hinzufügung „durch Übung“ in den Text aufzunehmen; als Gegenposition hierzu vgl. Scott 2006, 17.
7 Vgl. Kap. X 2.2.
8 Vgl. hierzu auch Kap. VI 1.
9 Zur Diskussion dieses bereits von Robinson (21953, 51f.) identifizierten Prinzips vgl. z.B. Nehamas 1987, 277–293; Vlastos 1990, 78–83; Kahn 1996, 93f., 157–164; Benson 2000, 112–141; Szaif 2007.
10 Vgl. zu dieser These ausführlich Szaif 2007. Nach Kahn (1996, 159f.) zeigt das Parallelbeispiel, dass Sokrates als Voraussetzung für die Erörterung der Frage nach den Eigenschaften von X lediglich eine Kenntnis des Referenzobjektes von „X“ – Kahn spricht hier von der „priority of reference over description“ –, nicht aber eine Wesenskenntnis von X verlange, d.h., dass zwischen den Diskutanten Einigkeit darüber hergestellt sein muss, worüber gesprochen wird, bevor nach den Eigenschaften einer Sache gefragt werden kann.
11 Vgl. hierzu die Kap. IX und XI dieses Kommentars.
12 Vgl. hierzu auch Fine 1992, 200–204; Stemmer 1992, 42–50. Nicht behauptet wird von Sokrates hingegen, dass wir über ein Definitionswissen von „Tugend“ verfügen müssten, um bestimmte Handlungsweisen als Tugenden identifizieren zu können. Die These, dass man nicht wissen kann, ob etwas F ist, wenn man die Definition von „F“ nicht kennt, wird Sokrates – auf sehr schmaler Textbasis, nämlich mit ausschließlichem Bezug auf Euthyphron 6d–e – von Geach (1966, 370f.) zugeschrieben und als „sokratischer Fehlschluss“ bezeichnet. Geachs einflussreicher Aufsatz hat für viel Verwirrung gesorgt, zumal der von ihm konstatierte „sokratische Fehlschluss“ häufig nicht klar vom priority-of-definition-principle abgegrenzt wird. Zu unterscheiden sind: (a) das priority-of-definition-principle, das sich auf den Subjektausdruck einer prädikativen Aussage bezieht und in der von Sokrates vertretenen Form besagt, dass jemand, der nicht weiß, was X ist, mit einer Aussage der Form „X ist F“ keinen Wissensanspruch erheben kann; (b) die im Euthyphron 6d–e thematisierte These, dass wir einen Ausdruck wie „ist fromm“ nur dann zuverlässig auf eine Handlung anwenden können, wenn wir einen Begriff davon haben, was er bedeutet. Hier wird ein Wissen um die Bedeutung eines Prädikatausdrucks als Voraussetzung für ein Wissen um die Wahrheit einer prädikativen Aussage gefordert. (Analog hierzu wird im Menon implizit die These vertreten, dass wir wissen müssen, was „lehrbar sein“ bedeutet, um wissen zu können, ob „Tugend ist lehrbar“ wahr ist.); (c) die These, dass wir die Frage nach dem Wesen von X (z.B. der Tugend) nicht beantworten können, ohne schon ein Vorverständnis von X zu haben. Diese These wird im Menon im Rahmen der Wiedererinnerungslehre erörtert; vgl. hierzu ausführlich die Kap. VI und VII dieses Kommentars; (d) die von Geach Sokrates zugeschriebene These, dass wir ein extensionales Wissen, welche Dinge F sind, nur haben könnten, wenn wir ein Definitionswissen von „F“ hätten. Diese These wird von Sokrates an keiner Stelle vertreten; zur Klarstellung und Korrektur Geachs vgl. insbes. Beversluis 1987; vgl. auch Santas 1972 und – im Vorwort zu seiner Menon-Ausgabe – Waterfield 2005, xxxiv.
13 Zur inhaltlichen Differenz zwischen beiden Fragen vgl. aber Kap. VI 3.1.
14 Xenophon, Anabasis, Buch I und II; vgl. auch Bluck 1961, 120–126; Canto-Sperber 1991, 17–26.
15 Vgl. hierzu insbes. die Selbstcharakterisierung des Sokrates in der Apologie (28a–31c) und seine Aufforderung, nicht auf die Meinungen der anderen zu hören, im Kriton (46c–47d). Dass die Orientierung an den Meinungen der anderen ein Zeichen fehlender philosophischer Reife ist, wird im Parmenides von der Titelfigur dem noch jungen Sokrates vorgehalten (130e).
16 Als Textsammlung zur Sophistik vgl. Schirren/Zinsmaier (2003); zur allgemeinen Orientierung vgl. die Einleitung der Herausgeber ebd., 7–31, und insbes. die umfassende Darstellung Guthries (1971).
17 Zu Person und Werk des Gorgias vgl. die von Th. Buchheim herausgegebene Textsammlung Gorgias von Leontinoi (1989).
18 Zur kontroversen Diskussion dieser sokratischen Methode der scheinbaren Übernahme sophistischer Positionen und Argumentationstechniken vgl. Vlastos 1991, 132–156.
19 Vgl. hierzu z.B. Kutschera 2002, Bd. 1, 18–26, und Schirren/Zinsmaier 2003, 8f. Gemeinsamkeiten zwischen Sokrates und der Sophistik betont auch Taylor (2006).
20 Cicero, Tusculanae disputationes V 10.
21 Vgl. Gorgias 482e–484c.
22 Vgl. Protagoras 337d.
23 Als Hauptquelle für die Theorie des Gegensatzes von physis und nomos gilt der Sophist Antiphon; vgl. Diels/Kranz 1969/70, Fr. 87 B44. Zur physis/nomos-Unterscheidung vgl. auch Guthrie 1971, 55–133 (Kap. 4).
24 Zur Religionskritik der Sophisten vgl. Guthrie 1971, 226–249 (Kap. 9). Als wichtigstes Dokument der sophistischen Religionskritik wird meist ein Fragment aus dem Protagoras zugeschriebenen Traktat Über die Götter angeführt, in dem dieser eine agnostische Position zur Frage der Erkennbarkeit der Götter einnimmt; vgl. Diels/Kranz 1969/70, Fr. 80 B4.